Organizing

Mehr als eine Strategie zur Mitgliedergewinnung?

Um eines gleich vorweg zu sagen: Das Organizing, so wie es von der SEIU (Service Employees International Union) entwickelt und mittlerweile von mehreren sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften weltweit angewandt wird, hat einen bestimmten Fokus: Mitgliedergewinnung. Das ist der Dreh- und Angelpunkt aller Bemühungen und ist darüber hinaus am Ende einer Organizing-Kampagne auch immer der Erfolgsmaßstab.

„Deshalb geben wir die Hälfte unseres Geldes dafür aus, neue Mitglieder zu werben. Wachstum ist oberste Priorität. Unsere Methode dazu ist das ‚Organizing‘.“
Gewerkschaftschef der Service Employees International Union (SEIU) Andrew L. Stern im Interview mit der Welt

Wenn man bedenkt wie (nicht nur) die sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften aufgebaut sind, ist das auch sehr einleuchtend. Sie haben einen großen Apparat bezahlter Funktionär*innen und jede Menge Angestellte, die alle über die Mitgliedsbeiträge finanziert werden müssen. Mitgliederschwund bedeutet sinkende Einnahmen und gefährdet die Jobs im Apparat und den Apparat selbst. So hatten die im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften 1991 im Zuge der „Wiedervereinigung“ ihr absolutes Mitgliederhoch von 11.800.412 erreicht. Seitdem sind ihre Mitgliederzahlen auf 6.095.513 im Jahre 2015 gefallen. Sie liegen damit aktuell noch unterhalb der Mitgliederzahlen von 1990 (7.937.923). Dieser Absturz betrifft alle im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften. Auf dem Hintergrund des schon 1992 deutlich messbaren Mitgliederschwunds (knapp 800.000 Arbeiter*innen hatten den Gewerkschaften den Rücken gekehrt), sahen sich die Funktionär*innen gezwungen, über neue Wege der Mitgliedergewinnung nachzudenken. Dabei stießen sie auf die „Erfolgsgeschichte der SEIU“ in den USA.

Düsseldorf

Die FAU Düsseldorf hat in den letzten Monaten insgesamt zwei Organizing-Seminare im V6 durchgeführt. Dabei haben wir als Referent*innen Aktive von ver.di und IG BAU gewinnen können. Diese haben einerseits das Organizing-Konzept vorgestellt, so wie es die sozialpartnerschaftlichen Verbände konkret anwenden, und andererseits aus ihrer eigenen Praxis berichtet. Beides war für uns und sie Seminarteilnehmer*innen sehr spannend und führte immer wieder zu Diskussionen. In diesem Sinne waren die Seminare jedesmal sehr lebhaft.

Das Organizing

Jedes Organizing beginnt mit einer Entscheidung an der Spitze der jeweiligen Gewerkschaften. Hier wird entschieden, in welcher Branche, in welcher Region eine Organizing-Kampagne durchgeführt werden soll. An der Spitze wird auch entschieden, wie lange die Kampagne dauern soll wie viele Mittel sie erhalten soll, und welche Ziele sie erreichen soll um als erfolgreich angesehen werden zu können. Um diese grundlegenden Entscheidungen treffen zu können, werden zum Teil Firmen beauftragt, unter bestimmten Gesichtspunkten eine Region/Branche oder einen Konzern zu durchleuchten. Am Ende steht ein Kampagnenplan und der Startschuss. Jetzt werden die mehr oder weniger professionellen Organizer*innen zu den Betrieben der ins Auge genommenen Branche geschickt. Ihre erste Aufgabe ist es, mit den Arbeiter*innen direkt und in Einzelgesprächen zu reden. Dabei haben sie sich strikt an die Regel „70 % zuhören und 30 % reden“ zu halten. Das eigene Reden besteht in erster Linie aus Suggestivfragen und soll zum Ende des Gesprächs dazu führen, eine klare Verabredung zu haben. Falls es einen Betriebsrat gibt, wird zusammen mit ihm und den Vertrauensleuten ein Aktivenkreis aufgebaut. Dieser hat nun die Aufgabe, die Einzelgespräche fortzuführen, die zentralen Probleme der Belegschaft herauszufinden und Handlungsstrategien zu entwickeln. Das Aktiventreffen ist bewusst offen für Nichtmitglieder, denn diese sollen über das Aktiventreffen „in eine gewerkschaftlich aktive Struktur und perspektivisch in die verbindlichere gewerkschaftliche Vertrauensleute-Struktur eingebunden“ werden. Von Anfang an wird auch das sogenannte „Mapping“ betrieben. „Mapping“ bedeutet nichts anderes, als dass verschiedene „Land- und Betriebskarten“ angelegt und während des Organizing-Prozesses permanent aktualisiert werden. Erfasst werden die Gebäude, und die Karte wird dann mit allen möglichen Informationen gefüllt. Zum Beispiel werden die verschiedenen Betriebsabteilungen eingetragen, die Anzahl und der Status der Arbeiter*innen, die Gewerkschaftsmitglieder, die aktiven Gewerkschafter*innen, usw.

Organizing bleibt jedoch nicht beim Analysieren und dem Aufbau eines Aktivenkreises stehen. Ab einem gewissen Punkt wird es Zeit, auch nach außen hin aktiv zu werden. Der Aktivenkreis nimmt sich anhand seiner Analyse der konkreten Probleme, welche die Belegschaft hat, einen Punkt heraus, der vermeintlich schnell zu gewinnen ist. Ver.di schlägt nun ein ganzes Bündel möglicher „Direkter Aktionen“ vor:

und noch einiges mehr in dieser Qualität. Ein ideologisch zentraler Punkt des Organizings ist es, konfliktorientiert zu sein. Dazu gehört es auch, dass im Rahmen einer Organizing-Kampagne eine Eskalationstrategie zu grunde liegt. Zu dieser gehört es dann auch, andere soziale und politische Bewegungen in den konkreten Konflikt einzubeziehen und so den öffentlichen Druck im Sinne einer Imagekampagne zu erhöhen. Streiks sind in diesem Konzept erst einmal nicht vorgesehen. Allerdings werden Organizing-Kampagnen auch flankierend und vorbereitend zu Tarif-Auseinandersetzungen eingesetzt. Wo das passiert, sind Streiks dann natürlich auch ein Aspekt in der Organizing-Strategie.

Organizing und Anarcho-Syndikalismus

Organizing, so wie es die sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften betreiben, ist sicher keine Option für anarchosyndikalistische Organisationen. Die Zielsetzung (Mitgliedergewinnung) die zentralistische Bestimmung des wann, wie lange, wo und mit welchen finanziellen Mitteln die Anstellung von „professionellen“ Organizer*innen – das alles hat nicht gerade Vorbild-Charakter. Nicht zu vergessen, dass die Strategie der Einzelgespräche auf einer ganzen Reihe manipulativer Suggestivfragen aufbaut, die sich für uns auch verbieten sollten.

Trotzdem gibt es einiges, das wir, da wo wir es noch nicht tun, durchaus übernehmen können. Allerdings handelt es sich hierbei um (anarcho)syndikalistische Standards, die jedes Syndikat, jede Ortsgruppe der IWW (Industial Workers of the World), jede Basisgewerkschaft im Alltag eh anwenden sollte und die sich aus jeder klassenkämpferischen Praxis mit zwingender Notwendigkeit ergeben:

Fazit

Es gibt für uns keinen Grund, „neidisch“ auf erfolgreiche Organizing-Kampagnen der sozial­partnerschaftlichen Verbände zu schielen. Vielmehr sollten wir uns weiterhin selbstbewusst auf unsere syndikalistische und klassenkämpferische Tradition besinnen und unser Handwerkszeug, da wo es notwendig ist, an die sich verändernden Ausgangssituationen anpassen. Und den vielen linken und (alt)autonomen Freund*innen, die sich von den sozialpartnerschaftlichen Verbänden für Organizing-Kampagnen einfangen lassen, raten wir, diese Erfahrungen auf sich selbst anzuwenden und für die Verbesserungen ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen einzutreten. Sollten sie dabei gewerkschaftliche Unterstützung oder gar eine neue gewerkschaftliche Heimat suchen ...

Rudolf Mühland (FAUD)