Völkische Kultur:
Das Schützenlied zum Schützenfest in Neuss

Alljährlich findet in Neuss am letzten August-Wochenende das traditionelle Bürger-Schützenfest statt. Eröffnet wird es mit Kanonendonner und beendet mit der Inthronisation des neuen Schützenkönigs. Dazwischen marschieren täglich tausende Schützen (Sappeure, Grenadiere, Jäger, die Schützenlust, Scheiben- und Hubertusschützen), Reiter sowie die Artillerie, begleitet von Tambourcorps und Kapellen, in paramilitärischer Aufmachung - bisweilen auch mit echten Soldat*innen - durch die Neusser Straßen. Und mit der sonntäglichen Parade als Höhepunkt ehren die zackigen Schützenbrüder im Stechschritt ihren König.

Seit fast 200 Jahren[1] gibt es dieses Spektakel in Neuss. Oft totgesagt wegen unseliger Verstrickungen mit nachträglich inkriminierten Machthabern oder hoffnungsloser Rückständigkeit, feierte das Fest immer wieder fröhliche Urständ. Vor allem junge Männer finden sich in den Schützentrupps: Sie beschwören den Gemeinschaftsgeist, die Verlässlichkeit und die Heimatverbundenheit. Zuweilen engagieren sich die Schützen gar sozial, indem sie Patenschaften für Kinderkrebskliniken oder die Armenbetreuung übernehmen.

Den Gemeinsinn pflegen die Schützenbrüder gern durch das Absingen von heimatverbundenen Liedern. Zu diesem Zweck sollte in diesem Jahr zusätzlich zur Neusser Lokalhymne „Wo die Erft den Rhein begrüßt“ ein modernes Schützenlied kreiert werden. Zahlreiche Bewerbungen trudelten ein, und eine Jury hatte die Aufgabe, das beste Lied zu prämieren. Daneben hatte auch das gemeine Volk per Abstimmung die Möglichkeit, seinen Favoriten zu bestimmen.

Schließlich wurden zwei Sieger gekürt: Die Fachjury sah den Beitrag „Mit Herz und Lust“ des Schützenzuges „Pack mers“ in Front, während das Volk den Titel des Neusser Rappers MaximNoise „Immer wieder Neuss“ favorisierte. [2]

Der Neusser Max Jäger, genannt „MaximNoise“, veröffentlichte sein Musikvideo auf YouTube. [3] Darin schlendert der Rapper und bekennende Neusser – gestylt mit bravem Seitenscheitel sowie Chorknabenimage – mit seinem Lied auf den Lippen durch den Neusser Hauptstraßenzug, gefolgt von einer Horde Fähnchen schwingender Kinder, Jugendlicher, Erwachsener und Greis*innen. Seine Botschaft ist klar, einfach und zugleich zirkulär: „Mein Leben, es macht heute Sinn, wenn ich bei meinen Leuten (den Schützenbrüdern, d. V.) bin, dann sing ich dir (Neuss, d. V.) ein Gloria, weil ich ein Neusser bin.“ [4] Da macht es nichts, wenn Max sich einen groben Schnitzer in Sachen Kenntnis seiner geliebten Heimatstadt erlaubt, indem er aus dem Tümpel in der Neusser Nordstadt, dem „Jrönen Meerken“, flugs ein „grünes Märchen“ macht. Aber die Liebe zur Heimat ist ohnehin irrational und darum irritiert derlei Unkenntnis die Liebhaber der Heimat nicht.

Nun zum Lied, das die Fachjury auserwählt hat. [5] Hier finden wir die zentrale Aussage direkt in der ersten Strophe: „360 Tage lang waren ma normale Lütt, Hänn uns allin de Zick vertrieve, mit Arbiet und son Driet, doch jetzt isset wieder August, und jeder wiss wat jeschieht, denn solang de Knopp anne Buchs no hiet, wüd Schützefess jefiet.“ [6] Das Rechtschreibprogramm rebelliert und die Welt ist auf den Kopf gestellt. Die Lohnarbeit und sonstige Plackerei während des ganzen Jahres sind lediglich Zeitvertreib, der wahre Sinn des Lebens findet sich im Schützenfest: „Und ma stonn all zusamme, und ma jehn Hand in Hand, denn ma kenn uns all schon so lange, Schützen ziehn mit Hetz und Lust vorran, Nüsser Schützenfest du bist der beste Mann.“

Es mag viele Gründe geben, sich im Schützenwesen zu engagieren. In Neuss wie anderswo werden nicht nur Geschäftsaufträge, sondern auch Karrieren verteilt. Ebenso mag der Ausbruch aus der Enge der Familie für den einen oder anderen ein Motiv sein. Aber gemeinsam ist allen die Sehnsucht nach einer heilen Welt, in der noch die Persönlichkeit und nicht das Geldvermögen zählte, die Obrigkeit sich um die Sorgen des Einzelnen kümmerte, das Miteinander und nicht die Konkurrenz die Beziehungen der Menschen prägte und die Zukunft noch kalkulierbar war.

Im Ideal der Heimatverteidigung finden sich diese Werte wieder. Wenn es um das Schicksal des Gemeinwesens geht, werden alle Querelen zwischen den bekennenden Heimatfreunden ausgeblendet. Auf einmal sind alle füreinander da. Es zählt nicht mehr, dass der Bäcker dem Hungrigen für ein paar Brötchen das Geld aus der Tasche zieht, der Schutzmann einen Strafzettel wegen Überschreitens der Straße bei Rot ausstellt, der Vermieter den Mieter abzockt, der Chef seinen Untergebenen für einen lächerlichen Lohn arbeiten lässt – wenn die Gemeinschaft bedroht ist, bekommen die hässlichen Beziehungen untereinander sogar einen Heiligenschein.

Die Artillerie bringt die Kanonen in Stellung, die Sappeure schreiten vorweg, um das Schlachtfeld fachgerecht herzurichten, die Schützen schultern das Gewehr und marschieren unter dem Kommando des Hauptmanns zur Ehre des Königs ins Gefecht. Und wenn sie aus der Schlacht zurückkehren, empfängt sie die begeisterte Menge. Die Kinder jubeln und die Ehefrauen reichen ihren tapferen Männern einen Blumenstrauß.

Zwar ist das Schützenwesen aus der Heimatverteidigung entstanden, hat aber heutzutage keinerlei militärische Relevanz: Mit einem Augenzwinkern bedient man sich der Waffenattrappen. Das Ideal des soldatischen Zusammenhalts ist jedoch immer präsent. Und es ist eine besondere Leistung der Schützenbrüder, den mörderischen Zweck des Soldatenhandwerks auszublenden und die idealisierten zwischenmenschlichen Beziehungen der Krieger zu feiern.

Der Schützenumzug feiert symbolhaft die Rückkehr der siegreichen Kämpfer. Die Musik ist an den Marschrhythmus der Truppe angepasst und bestärkt die Euphorie von Marschierenden und Zuschauer*innen. Zur Belohnung dürfen die Schützen sich nach dem Umzug hemmungslos dem Biergenuss hingeben. Die tapferen Männer und ihre Ehefrauen, die sich als fürsorgliche und schmückende Elemente prostituieren, singen zusammen ihre Lieder, die die Heimat verklären und vergessen lassen sollen, dass der schnöde Alltag mit allen seinen Zumutungen doch unmittelbar wieder bevorsteht.

Für manche aufgeklärte Mitbürger*in ist das Schützenfest ein absurdes Theater, aber die Obrigkeit weiß die Leistungen der Feierlichkeiten für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft von Konkurrenten zu schätzen. Darum fließt auch der eine oder andere Euro aus der Stadtkasse in die Finanzierung des Festes, und der Bürgermeister lässt es sogar zu, dass der Schützenkönig oft noch vor ihm, der eine Personifizierung der Staatsgewalt ist, begrüßt wird.

HENRICI

[1]  http://www.schuetzenfest-neuss.com/das-schuetzenfest/historie.html
[2]  http://www.rp-online.de/nrw/staedte/neuss/buerger-schuetzenfest/kirmeshit-von-pack-mers-ueberzeugt-jury-aid-1.6152375
[3]  https://www.youtube.com/watch?v=wlP2A3L7S9g
[4]  ebd.
[5]  https://www.youtube.com/watch?v=3azUg-5NOU0
[6]  http://gerdphilipp.de/wp-content/uploads/2016/07/Text-Pack-Mers.pdf