Gemischte Frühlese: Her mit dem guten Leben!

Meteorologisch steht der April für ein Durcheinander von Sonne und Regen, für Frühling und hochgeklappte Mantelkrägen zugleich. Manchmal mehr, manchmal weniger. Kaum, dass der wechselvolle April-Monat zu Ende ist, kommt außerdem immer und schon längst nicht mehr überraschend: der 1. Mai – internationaler Kampftag der Arbeiterklasse, Tag der Selbstvergewisserung linker Politik, Tag der gemeinsamen Pläne für Widerstand und soziale Kämpfe – hier und dort. Beides passt ganz gut in unsere Zeit, die nicht minder verrückt spielt und zugleich mit Vorhersehbarkeiten aufwartet. Zwei aktuelle Bücher widmen sich diesem Hin- und Her, den Potentialen von Veränderung und den nächsten Schritten für ein gutes Leben für alle.

Einfach mal nicht sorgen?

Warum Streiks im Care-Bereich auch etwas mit vergeschlechtlichter Sozialisation zu tun haben

Im Hamburger VSA-Verlag ist 2018 ein Sammelband zu Arbeitskämpfen in der Sorge-Arbeit erschienen. Die Autor*innen beleuchten Theorie und Praxis, schildern Hindernisse und Möglichkeiten, mit Arbeitsniederlegungen Solidaritäten zu schmieden und Ziele zu erreichen. (Lese-)Futter für den 1. Mai – und darüber hinaus.

Erwerbsförmige Sorgearbeit wird vor allem von Frauen ausgeübt und ist bekannt für schlechte Arbeitsbedingungen. Der Anteil von Teilzeitstellen ist weit überdurchschnittlich, was auch geringe, und nichtexistenzsichernde Löhne zur Folge hat. Erhöhter Stress, die oft unregelmäßigen Arbeitszeiten und andere Faktoren sind Ursachen für gesundheitliche Belastungen. Nicht zuletzt leidet der Bereich der Erziehungs- und Sozialdienste, in dem grob geschätzt eine Million Menschen arbeiten, unter geringer gesellschaftlicher Wertschätzung, die wiederum zu den genannten Problemen führt und mit diesen unabdingbar verknüpft ist.

Seit einigen Jahren regt sich dagegen aber Widerstand. So gab und gibt es immer wieder Streiks in Krankenhäusern, und 2009 und 2015 größere Streiks in Kindertagesstätten. Diese Arbeitsniederlegungen waren den Herausgeber*innen und Autor*innen Anlass für ihr Buch „Sorge-Kämpfe“ und für die hier präsentierten Forschungen und Berichte. Die Schreibenden wollen Wissen weitervermitteln und zur Reflektion anregen.

Dabei geht es vielmals um vermeintliche Dilemmata und handfeste strukturelle Herausforderungen: Bei Streiks in den Erziehungs- und Sozialdiensten etwa entsteht kein oder nur geringer Schaden für die Arbeitgeber*innen, viel eher aber für die zu Pflegenden, für die Kranken, oder für die Eltern der Kinder, deren Tagesstätte bestreikt wird. Also müssen die Eltern bei Arbeitskämpfen informiert und mit einbezogen werden. Solidaritäten zu schmieden und dabei den Alltag trotz geschlossener Kita oder Sparflammen-Betrieb in Krankenhäusern hinzubekommen ist dabei nicht selten ein wahrer Spagat. Hinzu kommt: Das bei sehr vielen in diesen Feldern Arbeitenden vorherrschende Arbeitsethos behindert oft ihrer Struktur nach Widerstand und Arbeitskämpfe. Dieses Arbeitsethos einer „fürsorglichen Praxis“ besteht aus einem starken Pflicht- und Verantwortungsgefühl für die Hilfebedürftigen oder gegenüber den von der bezahlten Pflegearbeit abhängigen Personen. Denn es waren nicht zuletzt gerade solche „sorgenden“ Tätigkeiten, die lange im privaten Rahmen und unbezahlt ausgeführt wurden –, was nun dazu führt, dass viele der dort Arbeitenden sich scheuen, etwas für sich selbst zu fordern, da sie nicht als „egoistisch“ dastehen möchten. Hinzu kommt die Vereinzelung, etwa in der Pflege oder der persönlichen Assistenz; oder die Tatsache, dass 60 Prozent der Arbeiter*innen in Kindertagesstätten in solchen mit kirchlicher Trägerschaft arbeiten, und dort ganz andere Regularien gelten, was Mitbestimmung oder Tarifverträge angeht.

„Sorge-Kämpfe“ blättert dieses vielfältige Spannungsfeld aus unterschiedlichen Perspektiven auf: Nach einer ausführlichen Einleitung folgen vier Artikel zu Kindertagesstätten, und je drei zu Arbeits- und Streiksituationen in Krankenhäusern bzw. in der Pflege und der persönlichen Assistenz. Vier generalisierende Artikel, die etwa dafür plädieren, die Verletzung des Arbeitsethos als Motivation anzusehen, statt den Arbeitsethos in erster Linie als Hinderungsgrund wahrzunehmen, runden diesen Band ab. In ihrer überwiegend in einer soziologischen Sprache geschriebenen Art sind manche der Beiträge dabei nicht immer leicht zugänglich. Viele der Texte basieren dagegen aber auf Interviews mit ‚betroffenen‘ Arbeiter*innen oder Streikenden, deren Zitate so ein gewisses Gegengewicht bieten. Es ist wertvoll, von ihren Erfahrungen lesen zu können – für eine Analyse vergangener und gegenwärtiger Arbeitskämpfe und für Ideen für die von morgen.

Bernd Hüttner

Ingrid Artus / Peter Birke / Stefan Kerber-Clasen / Wolfgang Menz (Hrsg.): Sorge-Kämpfe. Auseinandersetzungen um Arbeit in sozialen Dienstleistungen; VSA Verlag, Hamburg 2018, 336 Seiten, 26,80 EUR.


Tiefrot und radikal bunt

Ganz am Puls der Zeit stellt eine neue „Flugschrift“ aus dem Hause Nautilus zusammen, was sich im vergangenen Jahr getan hat in Sachen „linker Erzählungen“ – denn es gab viel Neues in der Mobilisierung linker Politik auf der Straße, in antirassistischen Dynamiken, am Schaufelradbagger der Klimakämpfe oder auf dem Acker der Umverteilung. Ein Überblick lohnt sich also.

2018 war gekennzeichnet von vergleichsweise großen Protestbewegungen. Im Hambacher Forst demonstrierten 50.000 Menschen, bei #unteilbar in Berlin weit über 20.0000. Zu antirassistischen und antifaschistischen Demonstrationen kommen – wie in Hamburg oder München – durchaus auch 30.000 oder, wie bei dem Konzert in Chemnitz, doppelt so viele Menschen zusammen. In der Öffentlichkeit und in den Medien scheint die Hegemonie rechtspopulistischer und rassistisch-völkischer Themen aber weiterhin ungebrochen. Wo stehen also „linke Erzählungen“ in diesem widersprüchlichen Gesamtbild? Was ist „neu“? Was hat sich verändert? „Tiefrot und radikal bunt“ geht diesen Fragen nach.

Das Buch der 1983 geborenen Journalistin Julia Fritzsche hat zwei Ebenen. Fritzsche sucht zum einen Orte und Zusammenschlüsse auf, an denen sich diese neuen Bewegungen materialisieren und an denen jetzt an einer anderen, einer besseren Zukunft gearbeitet wird: antirassistische Aktivist*innen in München, Streikende im Krankenhaus und queerpolitisch Engagierte. Zum anderen stellt sie vier aktuelle, dazugehörige politische, „theoretische“ Ansätze in begreiflichen Worten vor: Care Revolution, Buen Vivir, Antirassismus und queere Politiken. Denn hier werden, so beschreibt es die Autorin, schon heute neue Begehren formuliert und auch neue Formen der Beteiligung ausprobiert.

Care verweist darauf dass, entgegen den Bildern des Marxismus, zwei Drittel der gesellschaftlichen Arbeit unbezahlt, dezentral und unter anderem deswegen „unsichtbar“ geleistet wird. Buen Vivir beschreibt, dass Wachstum für eine moderne Linke kein positiv besetzter Begriff mehr sein kann und Natur, Konsum und Ernährung heute zu einem umfassenden Verständnis von Befreiung dazu gehören. Hier findet dann die Kritik am Extraktivismus (und seinen Konzepten der naturnahen Bewirtschaftung von Land und natürlichen Ressourcen) und die positive Vision solidarischer Ökonomien ihren Ort.

Queerness bedeutet eine Vielfalt und Gleichwertigkeit geschlechtlicher Lebensweisen, die sich allesamt gegen die toxische Gewalt von Männern richten. Das schwierigste und umstrittenste Feld dürfte derzeit allerdings das des Antirassismus sein. Wie geht eine Linke damit um, dass es einige wenige Gewinner*innen und viele Verlierer*innen in der Passlotterie gibt, in der Lebenschancen vor allem nach dem Geburtsort zugeteilt werden? Wie kann die vielzitierte Willkommenskultur zu einer aktiven Kultur des Ankommens und Miteinanders weiterentwickelt und gestaltet werden? Können „solidarische Städte“ dabei ein Instrument sein?

Fritzsche plädiert für „radikal bunte“ (sprich: identitätspolitische) und ebenso für „tiefrote“ (sprich: Umverteilungs-)Ansätze. Sie vermeidet so die Entgegenstellung von Anerkennungs- und Umverteilungspolitiken, von kultureller und sozialer Linker. Hier spricht sie sich schlichtweg vehement gegen Dichotomien und Spaltungen aus. Dabei gelingt es ihr am Ende vorzüglich, die politische Kritik mit der praktischen Ebene zu verbinden. Sie kann zeigen, dass z.B. das Streben nach mehr Gleichheit keinen Verlust von Individualität bedeuten muss. Positives Framing, wie z.B. bei #ausgehetzt in München oder #unteilbar in Berlin ist dabei von großem Vorteil.

Fritzsche hat ein tiefrotes und radikales und doch buntes Buch geschrieben. Eines das gut für die organisierte Linke, und ebenso für die anpolitisierte Nachbarin oder den resignierten WG-Mitbewohner, ja selbst für die eigenen Eltern, oder Kinder geeignet ist.

Bernd Hüttner

Julia Fritzsche: Tiefrot und radikal bunt. Für eine neue linke Erzählung, Edition Nautilus , Hamburg 2019, 192 Seiten, 16 EUR