Frühjahrsmüdigkeit, ein weiblicher Macho und Theater nach dem Bürgerkrieg

Die Birkenpollen fliegen, die Drohnen surren durch den Park, die Rauchschwaden der Einweggrills verleihen dem neugesprießten Grün einen mystischen Touch – es ist Frühling! Die TERZ verschreibt Bücher für drinnen und draußen.

Der Titel klingt nach Tulpenfest in einer Kleinstadt am Niederrhein oder einer Leser*innenzuschrift mit Haus-Maus-Reimen für die Hörzu – „Frühlingserwachen“ ist aber kein gefühliges Loblied auf diese eine sehr beliebte Jahreszeit. Die Ich-Erzählerin Isabelle Lehn ist „eigentlich“ Literatin (filmt aber für Geld auch Affen im Zoo, um über die Runden zu kommen), psychisch angeschlagen, nimmt die meiste Zeit was Tablettenförmiges dagegen und macht Therapie, hat diverse körperliche Leiden, teilweise hervorgerufen durch die Medikamente, teilweise durch Funktionen des weiblichen Körpers. Die Leser*innen begleiten sie drei Jahre lang durch die Jahreszeiten, durch Assoziationen und Rückblicke in ihre nähere Vergangenheit, in der es mal diese und jene Krisen, ungesunde Beziehungen, nüchtern betrachtet nicht mehr ganz so erfüllende sexuelle Begegnungen gab, in Einblicke in die Leben ihrer Freund*innen, die alle an irgendeinem Punkt ihrer zwischenmenschlichen Konstrukte oder ihres literarischen Schaffens scheitern und hadern. Hört sich nach Luxusproblemen des postmodernen Lebens an, mit Depression und Existenzkrisen, der schonungslosen Beschreibung erniedrigender seelischer und körperlicher Zustände kann ja heutzutage kein*e Leser*in mehr hinterm Ofen hervorgelockt werden. Isabelle Lehn strickt das Dasein ihrer Protagonistin Isabelle Lehn aber äußerst klug und humorvoll, versetzt es mit einer grundsätzlichen, sehr angenehmen Verwirrung: was hat die Frau denn nun – bipolare Störung, Borderline, bisschen Schizophrenie? Was geht ab mit ihrer Gebärmutter und den Schweißdrüsen? Lebt sie in einer offenen Beziehung oder was passiert da in den alkoholschwangeren Nächten? Und: sollte das Ganze etwa autobiografisch sein? Isabelle Lehn – die „echte“ Autorin – geht zwischendurch auf Distanz und lässt die Leser*innen zum Beispiel teilhaben an Gesprächen mit ihrer Lektorin über das Buch, da orakeln die beiden sogar über uns, die Leser*innen! Wieder und wieder wird das Bittere und Dramatische durchbrochen von feiner Ironie und zahlreichen „Fun Facts“, etwa, dass statistisch gesehen die meisten Menschen im Frühjahr Selbstmord begehen, weil der depressive Körper durch den durch Sonne und Tageslicht bedingten Serotonin-Boom und den Hormonumschwung so verunsichert ist, dass er die schlussendliche Reißleine zieht.

Der lesbische Casanova

Ihren weiblichen Körper ganz gut im Griff hatte Anne Lister. Anne Lister war eine landadelige Frauenheldin im England der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie verhielt sich zeitlebens weder rollenkonform, noch konventionell – was insbesondere im Hinblick auf ihre relativ offen ausgelebte lesbische Sexualität und die Tatsache, dass wir vom 19. Jahrhundert sprechen, ziemlich sensationell ist. Sensationell ist außerdem, dass dutzende Tagebücher und zahlreiche Briefe Listers erhalten sind, die wunderbarerweise von Angela Streidele in Buchform zusammengefügt und aufgearbeitet wurden: so ist ein faszinierendes und äußerst intimes Portrait (Untertitel: „Eine erotische Biografie“) eines Frauenlebens entstanden, das radikal mit zeitgenössischen Erwartungen brach. Zugegeben, der ganze gesellschaftlich-historische Kontext und die Entdeckungsgeschichte der Anne Lister sind ein wenig spannender als das verdienstvolle Buch selbst. Die Autorin rekonstruiert auf über 300 eng bedruckten Seiten Listers Leben, indem sie Originalpassagen aus Tagebüchern und Briefen in den Fließtext einarbeitet, Lister und Co. also selbst sprechen lässt. Aufgelockert wird das dichte Machwerk mit Abbildungen oder Abdrucken der Briefe und Tagebucheinträge. Staunen die Leser*innen dabei zunächst über die Chuzpe Listers, ihre eigenen Bedürfnisse überall und immer einzufordern, so schleicht sich nach und nach der Eindruck ein, dass Lister im Grunde genommen ein egozentrischer Macho gewesen ist. Schon als Jugendliche führte sie mindestens eine lesbische Beziehung, die ihr irgendwann zu lästig wurde. Über die nächsten Jahrzehnte hatte sie zumeist gleich mehrere Eisen im Feuer – selbstverständlich ohne dass die betroffenen Damen von ihren Nebenbuhlerinnen wussten. Lister verstand es, Frauen zu verführen und sie sich in einer gewissen emotionalen Abhängigkeit warm zu halten. Nicht selten dürfte auch die sexuelle Befriedigung, die die Frauen hier erfuhren, eine große Rolle gespielt haben, schließlich war die Ehe (viele der Gespielinnen Listers waren verheiratet) nicht gerade ausgelegt auf weibliche Selbstverwirklichung, insbesondere nicht der sexuellen. Lister jedenfalls hat diese Begegnungen minutiös und ausführlich festgehalten. Zwar stellt sich beim Lesen irgendwann eine gewisse Abstumpfung ein, aber gleichzeitig erhalten wir ein sonst kaum existentes (oder ein nur von Männern herbeifantasiertes) Bild weiblicher Sexualität und lesbischen Lebens im 19. Jahrhundert. Wir staunen, wie uneingeschränkt Lister dieses Leben führen konnte und können es natürlich zum Teil auf die ebenfalls im Buch beschriebenen Privilegien einer gut situierten und gebildeten Landadeligen zurückführen. Außerdem, so erläutert Streidele im Deutschlandfunk, wurde Sexualität nur als solche begriffen, „wenn mindestens ein Penis involviert war. Zwei Frauen miteinander konnten gar nichts anstellen, was irgendwie beunruhigend gewesen wäre.“ Diese Ansicht bot insofern einen gewissen Schutz vor gesellschaftlicher Diskriminierung oder Einmischung. Die Tagebücher Listers wurden übrigens 2011 in das „Memory of the World Programme“ der Unesco aufgenommen. Nach Listers Tod entdeckte John Lister, ein Nachfahre, ihre Hinterlassenschaften. Allerdings musste er feststellen, dass etwa ein sechstel der Dokumente in einer Geheimschrift verfasst war, die er nur mit Mühe entzifferte. Trotz ihres „brisanten“ Inhalts reagierte John Lister weitsichtig: er wollte die Unterlagen unbedingt für die Nachwelt erhalten und mauerte sie in einen Raum auf Listers Landsitz ein. Und zwar so, dass dieser von der/dem nächsten potenziellen Besitzer*in bald entdeckt werden konnte – Jackpot!

Theater und Realität

Genug von Frauen und Gedöns (frei nach Gerhard Schröder), schließen wir mit einer Geschichte, die nur ein bisschen wahr ist – sie beruht „auf wahren Begebenheiten“, wie es so schön heißt. Auf die Story von „Des Nachts gehn wir im Kreis“ von Daniel Alarcón hätte man auch erstmal kommen müssen: Es geht um eine Theatergruppe mit Namen „Diciembre“, die einmal, während des Bürgerkrieges in einem lateinamerikanischen Land, vermutlich ist Peru gemeint, bis in die kleinsten Dörfer reiste und für gehörige Furore sorgte. In Zeiten, in denen fast alles verhaftet oder verschwunden wurde, was nur im Ansatz nach Opposition roch, blieb auch Diciembre nicht unbehelligt. Ihr Kopf, Henry Nuñez wurde eingeknastet und findet auch Jahre nach Ende des Bürgerkrieges nicht mehr in seine alte Form zurück, sondern wabert in einem trüben, theaterlosen Zustand dahin. Das ändert sich ein wenig, als Henry und sein Mitstreiter Patalarga an alte Zeiten anknüpfen und Diciembre auferstehen lassen wollen. Sie engagieren Nelson, einen jungen Schauspieler, und ziehen mit ihm los durch die Landen, um ihr einst skandalträchtiges Stück „Der dumme Präsident“ wieder aufzuführen. Ruhm und Glanz sind ihnen dabei nicht vergönnt, die Theatertour dümpelt so vor sich hin, bis sie in das Dorf geraten, in dem Henrys Knastliebe Rogelio aufgewachsen ist. Nun beginnt sich Geschichte zu wiederholen, die Theaterfreunde werden von den langen Schatten der Vergangenheit, den traumatisierten Gemütern, den unausgetragenen Konflikten ihrer jetzigen und damaligen Leben eingeholt, das Theaterstück beginnt, sich in ihre Realität einzuschleichen. „Des Nachts gehn wir im Kreis“ ist ein ungewöhnliches Buch mit einer richtig gut erzählten Geschichte, die eher beiläufig beschreibt, wie es nach Militärdiktatur und Verfolgung Generationen braucht, um Traumata, Verletzungen und Enttäuschungen verwachsen zu lassen.

Angela Streidele:
Anne Lister.
329 S., ca. 12 Euro

Isabelle Lehn:
Frühlings­erwachen.
253 S., ca. 21 Euro

Daniel Alarcón:
Des Nachts gehn wir im Kreis
346 S., ca. 12 Euro