Die Türkei, Istanbul, die Wahl und wir

Auf dem G20-Gipfel Ende Juni im japanischen Osaka schüttelten Staatsoberhäupter einander wieder die Hände – die nächsten Deals á la „Internationale Zusammenarbeit“, „Sicherheitspartnerschaft“ und „Migrationspakt“ werden also weiterhin fleißig eingestielt.

Mit von der Partie war natürlich auch die türkische Staatsspitze. Gesprächspartner Erdoğan ist weiterhin auch für die Bundesrepublik interessant. Ob sich daran etwas ändert, wenn der Sultan vom Bosporus Glanz, Herrschaft und Einfluss verliert im eigenen Land? In Düsseldorf will AKKUSTAN dieser Frage nachgehen und lädt, zusammen mit dem zakk zu Vortrag und Diskussion mit Alp Kayserilioğlu ein.

Istanbul hat neu gewählt. Den neuen Oberbürgermeister stellt nun die Opposition. Die meisten Kommentator*innen sehen schon das Ende von Erdoğan nahen. Alp Kayserilioğlu, Politikwissenschaftler und Kenner „türkischer Zustände“ – unter anderem nachzulesen in seinen Texten für das Magazin Re:volt – wird einen ersten Ausblick und eine Analyse wagen.

Mit über 800.000 Stimmen Vorsprung hat der Kandidat der Opposition, Ekrem İmamoğlu von der nationalistischen-sozialdemokratischen CHP, die Nachwahl zum Oberbürgermeister in Istanbul am 23. Juni gewonnen. Die ganze Nacht tanzten die Menschen auf den Straßen von Istanbul. Das erste Mal seit langem, ohne von der Polizei angegriffen zu werden. Die Freude war groß und die Hoffnungen sind es auch. Zuvor war die erste Wahl – von Ende März – annulliert wurden. Damals hatte sich eine knappe Mehrheit der Wähler*innen in der Stadt Istanbul bei den Kommunalwahlen in der Türkei entschieden, nicht länger auf die Karte der AKP, der Staatspartei Recep Tayyip Erdoğans, zu setzen. Ekrem İmamoğlu, schon bei dieser ersten Wahl Oppositionskandidat gegen die AKP, hatte damals bereits mit knapp 13.000 Stimmen Vorsprung gegen den Kandidaten der Erdoğan-Partei gewonnen. In Istanbul, wo am 31. März rund 8,5 Millionen Wahlberechtigte ihre Stimme abgaben, sollte nun nach Willen der Wählenden die 25 Jahre währende „Ära AKP“ vorbei sein. Dass Erdoğan diese Wahlentscheidung nicht akzeptierte, überraschte niemanden. Istanbul, die eigentliche Hauptstadt der Türkei, ist wirtschaftlich, politisch und als Symbolkraft zu wichtig, als dass Erdoğan sie der Opposition überlassen könnte. Hier wird fast ein Drittel der türkischen Wirtschaftsleistung erbracht. Hier liegen die internationalen Flughäfen des Landes. Istanbul verbindet die Türkei mit der Welt. Jede*r fünfte Türk*in lebt in der Stadt. Wenn İmamoğlu sein Amt antritt, wird er auf einen Schlag der mächtigste Türke nach Erdoğan sein.

Kompromisstauglich

Dass Erdoğan Istanbul verlieren könnte, stand nicht auf seiner Agenda. Es ist ein typisches Zeichen von Autokrat*innen bzw. Diktator*innen, sich selbst zu überschätzen und unter Realitätsverlust zu leiden. Hätte er die Niederlage in Istanbul als realistische Möglichkeit gesehen, wäre es zu noch größeren Wahlfälschungen gekommen. So reichten aber am Ende die erfolgten Fälschungen im März nicht aus. Erdoğan unterschätzte auch die Auswirkungen der Neuwahl. Nicht nur, dass das Ausland und die Presse die Wahl sehr genau beobachteten – und darum vermutlich größere Unregelmäßigkeiten in der Wahlteilnahme und -auszählung ausgeblieben sein könnten. Mehr noch: Unter diesen Voraussetzungen wurde die erneute Oberbürgermeisterwahl in Istanbul für die gesamte Türkei zur Schicksalswahl. Nicht der OB-Kandidat der AKP, Binali Yıldırım, stand im Fokus, sondern Erdoğan selbst. Fast die gesamte Opposition schloss sich gegen die AKP zusammen und verzichtete auf eigene Kandidat*innen. Die linke, kurdische Partei HDP rief ihre Anhänger*innen wie bei der Wahl im März auf, İmamoğlu zu wählen. Die 1,1 Millionen Wähler*innen der HDP in Istanbul bei der letzten Parlamentswahl waren der ausschlaggebende Faktor, dass İmamoğlu gewann. Bis zuletzt versuchten die AKP und Erdoğan, die kurdischen Wähler*innen umzustimmen. So durften nach acht Jahren der Isolation nun plötzlich die Familie und die Anwälte den PKK-Chef Öcalan besuchen. Der OB-Kandidat der AKP Yıldırım fuhr sogar in die faktische Hauptstadt der Kurden, nach Diyarbakır (kurdisch Amed), und sprach von Kurdistan. Andere sitzen für solche Wortbeiträge lange im Gefängnis. Doch es half nichts. Die Kurd*innen wählten İmamoğlu – schweren Herzens, denn die CHP macht es der HDP und den Kurd*innen nicht leicht. Ist sie doch dafür mitverantwortlich, dass der HDP-Vorsitzende Demirtaş im Knast sitzt. CHP-Mitglieder waren es schließlich, die im türkischen Parlament die entscheidenden Stimmen zur Aufhebung seiner Immunität gaben. Auch im Krieg gegen die Kurd*innen steht die CHP an der Seite von Erdoğan. So wird also seitens der Kurd*innen viel Hoffnung auf İmamoğlu gesetzt.

Vor dem Gegenschlag?

Die Hoffnungen, dass sich in Istanbul – aber auch in der ganzen Türkei – etwas verändert, sind groß. Die bisher regierende AKP vergab in Istanbul großzügig Geld an religiöse Stiftungen. Lukrative Bauaufträge gingen an Erdoğans Günstlinge, das ganze Oberbürgermeisteramt war geprägt von Korruption. Die AKP-Stadtregierung hinterlässt nicht zuletzt einen riesigen Schuldenberg von fast drei Milliarden Euro. In Ankara, das nun auch von der CHP geführt wird, verfolgten fast 300.000 Menschen die erste Live-Übertagung des Stadtrates. Oder werden mit Erlassen durch Erdoğan jetzt in Istanbul als nächstes die Kompetenzen des Stadtrates beschnitten, wie es in den Kommunen üblich ist, in denen die HDP gewonnen hat?

Anfang vom Ende?

Die Verhaftungen von linken und vor allem kurdischen Aktivist*innen gehen unvermindert weiter. Der Krieg wird gerade sogar ausgeweitet. Die türkische Armee versucht augenblicklich, große Gebiete im Nord-Irak zu besetzen. In Rojava werden vom türkischen Militär die Weizenfelder angezündet. Der Druck auf die Zivilgesellschaft bleibt groß. Ein Tag nach der Wahl fing der Prozess gegen zivilgesellschaftliche Akteure*innen statt. Die Wirtschaft schwächelt immer deutlicher.

Was bedeutet der Ausgang der Wahl für die türkische Zivilgesellschaft? Für Linke, für Kurd*innen und Alevit*innen in der Türkei? Welche weiteren Szenarien, vielleicht Zuspitzungen, vielleicht auch Eskalationen sind denkbar? Das gilt es zu diskutieren. Hier und andernorts.

Akkustan

Die Türkei, Istanbul, die Wahl.
Der Anfang vom Ende der Ära Erdoğan?
Hoffnungen und Befürchtungen
Wann: Montag 08. Juli – 19.30 Uhr
ZAKK–Studio, Fichtenstr. 40, Düsseldorf

Veranstalter*innen: AKKUSTAN und zakk