Heine-Preis an Juri Andruchowytsch

Der Kulturkrieger

Die Stadt Düsseldorf vergibt ihren Heinrich-Heine-Preis an Persönlichkeiten, „die durch ihr geistiges Schaffen (...) den sozialen und politischen Fortschritt fördern, der Völkerverständigung dienen oder die Erkenntnis von der Zusammengehörigkeit aller Menschen verbreiten“. Ob der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch, der die Auszeichnung am 10. Dezember erhält, dem gerecht wird, steht allerdings dahin.

„Mit Juri Andruchowytsch ehrt die Landeshauptstadt einen entschiedenen Verfechter europäischer Werte, der sich für eine freie und unabhängige Ukraine in enger Anbindung an Europa einsetzt“, erklärte Düsseldorfs Oberbürgermeister Stephan Keller zur Verleihung des Heinrich-Heine-Preises an den ukrainischen Schriftsteller. „Ich freue mich sehr über die Auszeichnung Andruchowytschs, die uns daran erinnert, weiterhin solidarisch mit der Ukraine und der ukrainischen Bevölkerung zu sein“, so Keller weiter. Das Auswahl-Gremium hebt ebenfalls das Engagement des Autors „für den europäischen Gedanken“ und „die Identität der Ukraine als Kulturnation“ hervor, vergisst darüber hinaus aber auch nicht, die obligatorische Parallele zum Namenspatron des Preises zu ziehen: „Der Sinn für Ironie und das Groteske kennzeichnen sein Werk in bester Heinischer Tradition.“

Ob Juri Andruchowytsch allerdings wirklich eine Persönlichkeit ist, „die durch ihr geistiges Schaffen im Sinne der Grundrechte des Menschen, für die sich Heinrich Heine eingesetzt hat, den sozialen und politischen Fortschritt fördern, der Völkerverständigung dienen oder die Erkenntnis von der Zusammengehörigkeit aller Menschen verbreiten“, wie es die Statuten des Preises erfordern, bleibt zweifelhaft. Als Westukrainer mit klarer West-Orientierung und kaum verhohlenen Ressentiments gegen die angeblich rückständigen Ostukrainer*innen hat er nämlich eher die Gräben vertieft und zur Zerrissenheit des Landes beigetragen.

Die K.u.k.-Herrlichkeit

Andruchowytsch kam 1960 in Stanyslawiw – dem ehemaligen Stanislau und heutigen Iwano-Frankiwsk – zur Welt. Einst gehörte die Stadt zum Kronland Galizien und damit zu Österreich-Ungarn. Und dieses versunkene Imperium prägt die Region nach Ansicht des Schriftstellers noch heute. „Es hat uns gelehrt, nach Westen zu blicken und uns an der zarten Dämmerung des Okzidents zu delektieren. Kaum zu glauben, dass es Zeiten gab, da meine Stadt Teil eines staatlichen Organismus war, zu dem nicht Tambow und Taschkent, sondern Venedig und Wien gehörten“, schreibt er 1994 wehmütig in dem Essay „Erz-Herz-Perz“, 2003 auf Deutsch erschienen in der Aufsatz-Sammlung „Das letzte Territorium“. Und überall hinterlässt die alte Herrlichkeit seiner Einschätzung nach Spuren, in Iwano-Frankiwsk mit seinem Jesuitenkolleg, der Kathedrale, der Synagoge sowie dem „eklatant mitteleuropäischen Marktplatz“ und in Lwiw, dem einstigen Lemberg. „Lwiw ist erfüllt vom Flair der mediterranen Kultur“ schwärmt Juri Andruchowytsch. Als „seine persönliche Illusion“ die „wenngleich durchgerüttelt und durchgeschüttelt, bis heute gültig“ bleibt, bezeichnete er Europa 2002 in „Treffpunkt Germaschka“. Zehn Jahre vorher schien es ihm jedoch noch in hellerem Glanz, nunmehr hätten es jedoch die „Woolworth-Menschen“ aus dem Osten mit ihren niederen Konsum-Instinkten verschattet. Eine „Sowjetisierung des Raumes“ konstatiert Andruchowytsch angesichts von Müllbergen und öden Vorstädten.

Das heimische Stanyslawiw kann dem noch so gut es geht trotzen, weil das Erbe des Habsburger-Reiches fortwirkt. „Dank ihm unterscheidet sich mein Stanyslawiw doch noch (Gott sei gelobt!) von Dnipropetrowsk, Kriywyj Rih und Saporischschja, die sich ihrerseits durch rein gar nichts voneinander unterscheiden“, heißt es in einer Passage von „Erz-Herz-Perz“, die in der deutschen Ausgabe fehlt.

Einen regelrechten „Kult um den Österreich-Donau-Mythos“ registriert er in dem Gebiet, etwas retro, aber dennoch wichtig, ermöglicht er doch, „von einem hier vergewaltigten Europa zu sprechen“ (Hervorhebung im Original).

Täter war Stalin, Tatzeit der 17. September 1939 und Tat-Werkzeug der Molotov-Ribbentrop-Pakt, welcher der Sowjetunion in einem geheimen Zusatzprotokoll den Zugriff auf dieses inzwischen zu Polen gehörende Territorium und noch so einiges mehr erlaubte. Als „unsere lokale Apokalypse“ bezeichnet Andruchowytsch das. „Zuwanderer aus fernen Steppen, wo achtfingrige Riesen leben, wo man Wodka trinkt wie Wasser (und sogar statt Wasser)“ kamen ihm zufolge über das Land und leiteten seinen Niedergang ein.

Aber selbst in der Sowjet-Zeit blitzte die alte Herrlichkeit noch manchmal auf. Ein „paralleles, geheimes Lwiw“ vernahm Echos „aus dem entrückten, kaiserlich-königlichen Vogelreich“. Das konnte eine linke, nicht offizielle Ausstellung, eine Hippie-Versammlung im Heiligen Garten, ein Tarkowskij-Film, eine Nachricht von einem politischen Prozess sein, aber auch eine Rock-Oper über Stepan Bandera, den faschistischen ukrainischen Wehrmachtskollaborateur und Aktivisten der antisemitischen „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN). In den Anmerkungen schreibt Juri Andruchowytsch über ihn: „Während der Sowjetzeit war er tabuisiert (...) Deshalb schien diese Rock-Oper in den siebziger Jahren, als Rockmusik ebenfalls tabu war, eine doppelte Sensation zu sein (...) Ich bin fast sicher, dass diese ‚konspirative Oper’ nur als ‚Legende’ existierte, denn der allgegenwärtige KGB hatte alles unter Kontrolle“.

Katastrophales Auseinanderdriften

Der Ost-Ukraine hingegen gilt der Westen nach seinen Beobachtungen hingegen bis weit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch als „Bandera-Land“. Von „einem fast katastrophalen Auseinanderdriften“ der beiden Landesteile spricht Andruchowytsch. Die Traditionslinie zum alten Europa fehlt im Osten völlig, im Grunde genommen sogar jede Traditionslinie: „Eine vorsowjetische Geschichte des Donbass in Erzählungen und Legenden gibt es so gut wie gar nicht“, konstatiert er. Darum fehle der Region das Nationalgefühl und vulgo auch die Nationalsprache, während der Kommunismus in den Köpfen – anders als im Westen – immer noch fortlebe, so der Autor.

Angesichts dieser Konstellation fragt er sich 1999 in „Desinformationsversuch“, warum das Land dennoch zusammenhält und findet auch einige Bindekräfte wie die doch schon recht lange Beziehungsgeschichte, die gemeinsamen Erfahrungen im Kommunismus, den großen Trägheitsmoment, Dynamo Kiew und nicht zuletzt „[d]as Leben selbst“. „Es gibt weitaus mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede“ hält Andruchowytsch fest. Und die bestehenden Differenzen dimmt er zu folkloristischen Animositäten herunter mit Galizien als dem Bayern der Ukraine. Aber auf diese versöhnlichen Töne folgt dann doch noch das dicke Ende. Juri Andruchowytsch schlägt den Separatist*innen im Westen vor, einmal nicht darüber nachzudenken, „wie man sich vom Rest der Ukraine trennt, sondern wie die Ukraine zum Beispiel den Donbass loswerden könnte“. Als extremsten Teil der eurasischen Welt bezeichnet er ihn mit seinem „lumpenproletarischen Konservatismus“ und macht die Gleichung auf: „Donbass – Kohle – Sowjetmacht“. „Bis heute ist es zu keiner Abspaltung gekommen, und vorläufig wurden noch keine Arbeiter- und Bauernrepubliken von Donbass oder Noworossija[1] gegründet. Statt dessen geschah etwas meiner Meinung nach viel Schlimmeres: sie sind im Staatsverband der Ukraine verblieben und bestimmen dort de facto die gesellschaftspolitische Situation“, hält er – nicht von ungefähr im Umfeld der Wahlen von 1999 – fest. 2005 attestierte Andruchowytsch dem Donbass einen kolossalen zivilisatorischen Rückstand und 2010 plädierte er dafür, „der Krim und dem Donbass die Unabhängigkeit und die Möglichkeit der Abspaltung zu geben“. Die Regionen wären „politisch Teil der russischen Nation“ lautete sein Verdikt.

Distanzierungen

Am 11. März dieses Jahres sprach ihn Roman Bucheli von der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) auf diese Haltung zum Osten des Staates an. „Seit Anfang der Woche wird von beiden Seiten eine Abspaltung des Donbass und die Anerkennung der annektierten Krim als mögliche Lösung ins Spiel gebracht. Ihnen müsste das doch entgegenkommen, da Sie sich schon 2010 für eine Abspaltung dieser Gebiete ausgesprochen haben“, fragt er. „Meine Ansichten von 2010 sind heute absolut nicht mehr aktuell“, antwortet Andruchowytsch, der Krieg habe zu einer neuen Einigkeit geführt. Von seiner Bemerkung über die Entwicklungsdefizite des Donbass rückte der Autor ebenfalls ab: „Ja, das habe ich damals falsch formuliert. Und das entspricht auch nicht mehr meiner Haltung.“ Und für seine Einlassungen über die angeblich gesichtslosen Ost-Städte entschuldigte er sich sogar. Auch wenn das den Schriftsteller ehrt – eine Reflexion darüber, wie er zu solchen Einstellungen gelangen konnte, blieb in allen drei Fällen aus.

Der ukrainische Historiker Andrij Portnov charakterisiert die unter anderem in „Das letzte Territorium“ formulierten Anschauungen als „galizischen Reduktionismus“. In seinem Aufsatz „Ausschluss aus dem eigenen Land – Der ‚Donbass’ im Blick ukrainischer Intellektueller“, 2016 in der Zeitschrift „Osteuropa“ erschienen, bezeichnet der Geschichtswissenschaftler diese Sicht der Dinge als den seltenen Fall eines Nationalismus, für den weniger mehr ist. „Die Logik, auf ‚überflüssige’ Territorien zu verzichten, statt neue hinzuzugewinnen, ist als Mittel der Konflikt-Lösung in der Geschichte des Nationalismus ungewöhnlich“, bemerkt der an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Portnov. Besonderen Anstoß nimmt er dabei an der Widersprüchlichkeit, die Multikulturalität des alten K.u.k.-Reiches hervorzubeschwören, der Ukraine aber keine Vielfalt zubilligen zu wollen, in der Platz für den Donbass wäre. Zudem wirft der Forscher Andruchowytsch vor, mit Identitätskategorien zu operieren, den Donbass zu einem homogenen Ganzen zu machen und den Ost-West-Konflikt damit zu ethnisieren. Aber damit steht dieser nicht allein. Portnov zufolge vertritt eine Reihe weiterer Autor*innen aus dem Westen des Landes vergleichbare Positionen, denen dann ähnlich verhärtete, aber diametral entgegengesetzte aus dem Osten entgegenstehen. Stellvertretend zitiert er Petr Toločko, der von der Notwendigkeit spricht, „sich ein für allemal von dem unrealistischen Traum, die Ukraine in Großgalizien umzuwandeln“ zu lösen und der ganzen Region „nationalsozialistische Lebenswerte“ unterstellt.

Aber es gibt auch Schriftsteller, die sich um einen Ausgleich bemüht haben. Andrij Portnov hebt da als eine bemerkenswerte Ausnahme Serhij Žadan aus Charkiv hervor, der in diesem Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt. Der Autor nahm die Bewohner*innen der Region vor Anwürfen in Schutz, sie hätten 2014 „die Okkupanten nicht verjagt“ und seien deshalb mitverantwortlich für die Situation. „Wie sich gezeigt hat, gelten unsere Werte nur für die, die in der Mehrheit sind. Aber für die, die in der Minderheit sind, gelten sie nicht. Ihnen werden allenfalls unser Hochmut und unsere Achtlosigkeit zuteil, unsere Bosheit und unsere Ängste“, monierte er. Žadan verwahrte sich dagegen, dass „historische Vergleiche gezogen und geopolitische Vorschläge entwickelt werden, während man den anderen das Recht verweigert, neben dir in dieser schönen gerechten Welt zu leben“. Und die Zentralregierung in Kiew kritisierte er dafür, die Aktivitäten im Osten, die sich zum Maidan und zur Einheit des Staates bekannten, nicht unterstützt zu haben. Der Dichter Viktor Neborak trug ihm deshalb höhnisch das Amt des Kulturministers der „Volksrepublik Donezk“ an.

Auch der Schriftsteller Andrei Kurkow versuchte, die Kluft zwischen dem Westen und dem Osten zu überbrücken. So plädierte er für mehr Zurückhaltung in der Sprachenpolitik. Das Russische zurückzudrängen, um die ukrainische Identität zu stärken, lehnte er ab, weil solche Kulturkämpfe wie ein Spaltpilz wirken. Im Umkehrschluss trat Kurkow sogar für eine Förderung der russischen Sprache als integrative Maßnahme ein. Im NZZ-Interview auf Kurkows Vorschlag angesprochen, reagierte Andruchowytsch, der die Einführung des Ukrainischen als Staatssprache begrüßt hatte und akribisch über die Fort- und Rückschritte bei der Verbreitung wacht, kurz angebunden. „Wenn Andrei Kurkow das gesagt hat, dann ist das seine Aufgabe. Ich habe eine andere Aufgabe“, erklärte er.

Nach verbindenden Elementen hat Juri Andruchowytsch nie wirklich gesucht. Wenn der jüngst verstorbene Schriftsteller Ivan Dzjuba, ehemaliger Kulturminister der Ukraine und zu Sowjet-Zeiten lange im Gefängnis, eine „Teilschuld der sogenannten nationaldemokratischen Kräfte“ an der Spaltung im Lande ausmachte, dann fällt Andruchowytsch sicher mit unter das Verdikt. Die „Erkenntnis von der Zusammengehörigkeit aller Menschen verbreiten“, wie es die Regularien des Heine-Preises von den zu Ehrenden erwarten, zählt sicher nicht zu den vordringlichen Antrieben des Ukrainers. Solche Talente hauptsächlich von Intellektuellen zu erwarten, gehört allerdings auch zu den Irrtümern unserer gottlosen Zeit. Allzu oft heizen gerade sie Konflikte noch an, und zwar gerade durch ihre Bildung, die Bindung an Sprache und alte Traditionen. Sie liefern ihnen nämlich ein hervorragenden Waffen-Arsenal für Kulturkämpfe, die nicht selten in Schlimmeres münden.

[1]  Die aus dem Zarenreich stammende Bezeichnung für das Gebiet, das Odessa, Mykolaiw, Cherson, Saporischschja und die Krim umfasst.