Punk

Eine gefährliche Utopie

Eine aktualisierende Rückschau auf die Beziehung zwischen Punk und Anarchismus

Wie ist Punk aus den Gegenkulturen der 1960er Jahre hervorgegangen, die er angeblich ablehnte? Warum spielt Punk Ende des 20. Jahrhunderts eine so zentrale Rolle beim Wiederaufleben des Anarchismus auf der ganzen Welt? Wie hat Punk die partizipativen Medien des digitalen Zeitalters vorweggenommen? Und was kann uns Punk und sein Erbe heute noch lehren?

Stellen wir uns das ideale kulturelle Medium für den Anarchismus vor.
Es muss trotzig und widerständig sein, logisch. Es sollte sowohl fröhliche Ironie als auch großen Mut enthalten. Aber es sollte im Kern positiv sein, selbst wenn wir den langen Weg durch Leid und Katharsis gehen müssen, um dorthin zu kommen. Wir wollen keinen Nihilismus von der Art, die es schwer macht, morgens aus dem Bett zu kommen – wir wollen die Art Nihilismus, die die Leute die ganze Nacht auf den Beinen hält, einen Nihilismus, der Unruhe stiftet.

Den Anfang machen wir bei der Kunst: Musik, Mode, Design, Graffiti, Schreiben, Fotografie, Kleinkriminalität. Diese Kunstfelder sind alle grundsätzlich positiv, auch wenn sie Wut und Verzweiflung ausdrücken, und außerdem sind die Einstiegskosten ziemlich gering. Stellen wir die Musik in den Vordergrund, damit die Belesenheit nicht zum Hindernis wird.

Ästhetisch sollte es roh sein, und irritierend. Werft alle Ansprüche auf Fachwissen über Bord; fegt die Klassiker vom Tisch. Ein paar Kniffe können wir allerdings behalten, jene die den Arbeiter*innen der Musikindustrie gestohlen wurden. Plagt die Bequemen, pflegt die Geplagten.

In wirtschaftlicher Hinsicht sollten wir, wenn wir schon keinen einseitigen Bruch mit der kapitalistischen Produktionsweise vollziehen können, doch einige Maßstäbe implementieren, die ihren Auswirkungen etwas entgegensetzen: Preiskontrollen („zahl nicht mehr als zwei Tacken”), Ablehnung von Profitgier und allem Kommerziellen, eine Ethik des Do-it-Yourself. Lasst uns den Schwerpunkt auf die Dinge legen, die nicht käuflich sind. Und wenn das einen erbitterten Diskurs über „Authentizität” bedeutet, dann nehmen wir das in Kauf.

Dieses kulturelle Medium, diese unsere Subkultur muss integrativ sein – und zwar nicht nur im oberflächlichen Sinne von liberaler Repräsentationspolitik. Sie sollte nicht nur zu den Bekehrten predigen, sondern Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und aus verschiedenen politischen Richtungen ansprechen und miteinbeziehen. Wir wollen dieselben jungen Leute erreichen, die das Militär versucht anzuwerben, und wir wollen sie zuerst erreichen. Sicherlich wird das bedeuten, dass wir mit vielen Menschen zusammenkommen, die keine Anarchist*innen sind – es wird einen großen, unordentlichen Brei voll verschiedener Politiken und Konflikte und Widersprüche geben – aber das Ziel ist es, den Anarchismus zu verbreiten, nicht sich dahinter zu verstecken. Bringt alle in einem Raum zusammen, der auf Horizontalität, Dezentralisierung, Selbstbestimmung, reproduzierbaren Modellen, Unregierbarkeit und so weiter basiert, und lasst sie die Vorteile dessen von selbst entdecken.

Das Wichtigste ist die Beteiligung derjenigen, die arm, unstet und wütend sind. Nicht etwa aus falsch verstandener Nächstenliebe, sondern weil die sogenannten gefährlichen Klassen in der Regel die treibende Kraft des Wandels von unten sind. Den Selbstzufriedenen und Wohlhabenden fehlt es an Risikobereitschaft, die aber notwendig ist, um Geschichte zu schreiben und Kultur neu zu erfinden.

Stellt euch eine Gesellschaft vor, die sich selbst unterrichtet, ohne Lehrer*innen, Ränge oder Unterrichtspläne. Teenager bringen sich selbst das Schlagzeugspielen bei, indem sie anderen Teenagern beim Spielen zusehen. Sie werden nicht aus verstaubten Büchern Politik lernen, sondern indem sie Zines über ihre eigenen Erfahrungen veröffentlichen und mit Menschen auf der anderen Seite des Planeten korrespondieren. Bei jedem Auftritt bekannter Musiker*innen werden auch welche auftreten, die gerade erst anfangen zu spielen. Lernen wäre kein gesonderter Tätigkeitsbereich, sondern ein organischer Bestandteil jedes Aspekts der Gemeinschaft.

Dadaismus und Surrealismus waren in Ordnung, aber „Poesie muss von allen geschrieben werden, nicht von einem”, wie Comte de Lautréamont es ausdrückte. Unsere ideale Subkultur ist kein Künstler*innenklüngel, sondern eher ein Netzwerk von Banden und Gangs aus der unteren Klasse, in dem jede*r eine Band, ein Zine oder zumindest ein Vorstrafenregister hat. Kunst ist nicht nur, was auf den Bühnen passiert – es sind die Designs, die Leute auf ihre Jacken, ihre Hemden und ihre Körper schreiben, das Tanzen und das Küssen, das Kämpfen und der Vandalismus, die Atmosphäre, die gemeinsam geschaffen wird. Der kollektive Mythos einer weltweiten Graswurzelbewegung. Lasst diesen Mythos ruhig umkämpftes Territorium sein – der Konflikt wird die Menschen bei der Stange halten.

Unsere Subkultur wird dionysisch sein – sinnlich, spontan, wild – ein unkontrollierbarer Springquell der rohen Gefühle. Das Apollinische (das Rationale, das Absichtliche, das Geordnete) wird der chaotischen Energie folgen, die diese Bewegung antreibt, aber ihr nicht zuvorkommen. Intellektuelle Vorschläge können vielleicht auf Adrenalin, Lust, Gewalt und Vergnügen aufbauen, aber sie können kein Ersatz dafür sein.

Also nichts Scheinheiliges, nichts Siegessicheres oder Moralisierendes. Lieber eine düstere Romantik, die sowohl in der Niederlage als auch im Sieg Würde sieht, eine bescheidene Haltung, die sagt: „Nichts Menschliches ist mir fremd.”

Diese Subkultur sollte ein Raum sein, in dem Menschen etwas über Konsens lernen und ihre Grenzen gegenüber übergriffigen Autoritätspersonen, besitzergreifenden Männern und anderen Plagen behaupten können. Gleichzeitig soll sich in ihr ein rebellisches Gefühl von Zusammenhalt verbreiten, dass die physischen und emotionalen Grenzen untergräbt, die das kapitalistische Subjekt individualisieren. Unsere Utopie ist nicht eine Welt, in der dich niemand anrempelt – es ist eine Welt, in der alle zusammenstoßen, kollidieren, und in der das etwas Lustiges und Gutes ist, eine Welt, in der es etwas anderes bedeutet, wenn Menschen einander anrempeln.

Keine anonyme Utopie, in der nicht gekämpft wird, sondern eine gefährliche Utopie, in der es Dinge gibt, für die sich zu kämpfen lohnt. Kein Potemkinsches Dorf, das die Verwerfungen und Unterschiede in der Gesellschaft kaschiert, sondern Austragungsort dieser Konflikte, wo mensch Stellung beziehen kann, und die Ermessensgrundlage ist das eigene Leben. Nicht das anarchistische Äquivalent der Roten Pioniere – mit einer tattrigen Führung und langweiligen Traditionen –, sondern ein offener Raum voll Freiheit, in dem jede Generation ihre eigenen Fehler macht und ihren eigenen Weg geht.

Von diesem Ausgangspunkt können wir uns auf umfassende alternative Lebensweisen besinnen: selbstorganisierte Treffpunkte und Infoläden, kollektives Wohnen, Hausbesetzungen, Food not Bombs / KücheFürAlle, Lesegruppen, Bezugsgruppen, Feminismus, Veganismus, Non-Monogamie, Umwelt-Verteidigung, Arbeitsverweigerung – sky is the limit. Ein weltweites Netzwerk von gegen-kulturellen Räumen, Bewegungen und Lebensstilen. Eine Kettenreaktion von Rebellionen, die wie eine Kette aus Feuerwerkskörpern rund um die Erde aufflammt und sich fortsetzt.

Erst jetzt im Nachhinein können wir begreifen, wie viel Glück wir hatten, an einer der größten gegen-kulturellen populären Kunst- und Massenbewegungen der letzten hundert Jahre teilzuhaben.

[…] weiterlesen: https://cwc.im/PunkUtopie

Der Text ist eine gekürzte Übersetzung des Vorworts zu Smash The System! Punk Anarchism as a Culture of Resistance, einem neuen Buch, das von Active Distribution auf Englisch veröffentlicht wurde und in Deutschland via black-mosquito.org bestellbar ist. Ihr könnt fast alle Punk- und Hardcore-Platten, die CrimethInc. im Laufe der Jahre veröffentlicht hat, auf crimethinc.bandcamp.com runter laden.

Auf Grundlage von diesem Artikel und dem Text »Musik ist eine Waffe. Die kontroverse Symbiose von Punkrock und Anarchismus« (erschienen in ›Writings on the Wall‹, eine Kurzform in der TERZ 03.2021) wird es am 11. Juli einen Vortrag im Hinterhof - Linkes Zentrum geben!

Das Buch ›Writings on the Wall‹ gibt es vor Ort im Bibabuze oder online bei black-mosquito.org oder direkt beim Unrast Verlag.