TERZ 12.11 – KEIN VERGESSEN
Entgegen den offiziellen Angaben hatten weit mehr Landtagsabgeordnete in Nordrhein-Westfalen eine NS-Vergangenheit, darunter sind auch Angehörige der SS und Waffen-SS. Ehemalige NSDAP-Mitglieder bekleideten hohe Ämter und wurden sogar Landesminister. Grundlegende Kritik an einer vom Landtag eingesetzten Kommission.
Über kaum eine Zeitepoche wurde und wird so viel geforscht und publiziert, wie über die Zeit des Faschismus in Deutschland. Auch über 60 Jahre nach Beendigung der NS-Herrschaft erscheinen Werke, die oft auch öffentlich debattiert werden, so etwa die Forschungen "Das Amt" zur NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes [1].
Allerdings gibt es immer noch teilweise große Lücken in der geschichtlichen Aufarbeitung. So etwa der Umstand, dass sich im Landtag von Nordrhein-Westfalen insbesondere in den Fraktion von CDU und FDP reihenweise alte Nazis tummelten. Schlägt man in den offiziellen Handbüchern des Landtags nach, so findet sich in der Regel kein Hinweis auf eine frühere Mitgliedschaft in NSDAP, "Schutzstaffel" (SS) oder sonstigen NS-Organisationen.
Ein Studie im Auftrag der Linkspartei aus dem Jahr 2009 deutet jedoch auf folgendes hin: Die CDU-Fraktion und noch vielmehr die der FDP war insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren von alten Nazis durchsetzt. Ehemalige NSDAP-Mitglieder, NS-Richter oder sogar Angehörige der als "verbrecherische Organisation" verurteilen SS und Waffen-SS bekleideten hohe Ämter bei CDU und FDP.
Die bürgerlichen Eliten agieren seit der Befreiung vom Faschismus immer gleich, wenn es um ihre Verstrickung mit dem NS-Staat geht: Vertuschen, Verschweigen, Verdrehen, Aussitzen oder dreist Täter zu Opfern machen. Am 9. Mai 2008 erklärte Dr. Bernd Althusmann, stellvertretender Fraktionsvorsitzende und parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Fraktion im Landtag NRW: "Meine Damen und Herren, die CDU hat ihre geistigen und politischen Wurzeln im christlich motivierten Widerstand gegen den Terror des Nationalsozialismus. Das ist die Wahrheit" [2]. Bleibt die Frage: Wer hat denn dann die Nazis unterstützt, wenn sich selbst das bürgerlich-christliche Spektrum pauschal zum Hitler-Gegner stilisiert.
Der Titel besagter Studie lautet "Das vergessene braune Erbe" [3] und wurde vom Historiker Dr. Michael Klepsch erstellt. Er wälzte Archivbestände in Düsseldorf und Berlin, durchforstete Unterlagen, Korrespondenz und Mitgliedskarteien von NSDAP, SS und SA sowie Akten aus dem Bestand der Entnazifizierung. Dr. Klepsch untersuchte die Biografien von insgesamt 451 Abgeordneten, die bei Kriegsende mindestens 18 Jahre alt waren. Er stieß auf 41 Männern mit NSDAP-Parteibuch, darunter auch hauptberufliche NS-Funktionäre und Mitglieder von SS bzw. Waffen-SS. Besonders brisant: Unter den ehemaligen Nazis waren später nicht weniger als acht Fraktionsvorsitzende und zwei spätere Landesminister, zum Beispiel Willy Weyer (FDP) und Paul Mikat (CDU). "Insbesondere in der FDP war der Anteil ehemaliger Nazis hoch: In den Nachkriegsjahren hatte mehr als jeder fünfte FDP-Landtagsabgeordnete eine braune Vergangenheit. Die Partei war in NRW regelrecht unterwandert. Zwischen 1955 und 1975 wurde die FDP-Fraktion von sechs ehemaligen Nazis, darunter drei SS-Männern geführt", heißt es bei der Linkspartei [4].
Der recht hohe Anteil "belasteter Abgeordnete" bei der FDP -immerhin 16 von 75 Abgeordneten- muss vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass es in den 1950er Jahren Bestrebungen von Altnazis gab, die FDP zu unterwandern und dort führende Funktionen zu besetzen. Die damaligen Pläne sind als "Naumann-Affäre" bekannt [5]. Dazu der Historiker Dr. Hans-Peter Klaus: "[Werner] Naumann und [Ernst] Achenbach verfolgten das Ziel, mit weiteren hochrangigen Vertretern des untergegangenen NS-Regimes vornehmlich die FDP, aber auch die DP [Deutsche Partei] und den BHE [Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten] zu infiltrieren, um aus den Reihen dieser im Bundestag bereits verankerten Parteien heraus eine neue ‚Nationale Sammlungsbewegung' rechts von der CDU zu etablieren, der sich die kleineren neonazistischen Parteien und maßgeblich Teile der Soldatenverbände, Vertriebenenorganisationen usw. anschließen sollten" [6].
In Auftrag gegeben wurde die Studie "Braunes Erbe" vom Linksparteipolitiker Rüdiger Sagel, der zuvor bereits für die Grünen im Landtag NRW gesessen hatte. Er verließ die Partei unter anderem wegen der Hartz-IV-Gesetze, behielt jedoch sein Landtagsmandat und wechselte zur LINKEN. Zum Entstehen der Broschüre äußerte er: "Im 2008 erschienenen Jahrbuch ‚60 Jahre Landtag in Nordrhein-Westfalen' hatte nur ein einziger Abgeordneter auf seine Nazi-Vergangenheit hingewiesen. Alle anderen haben sie verschwiegen" [7].
Die Abwehrreaktionen der bürgerlichen Parteien waren massiv. "Während die ansonsten um Polemik gegenüber der LINKEN nicht verlegene nordrhein-westfälische FDP zu keinerlei Stellungnahme bereit war, und auch heute noch lebende Betroffene sich zu den dokumentierten Beweisen ihrer Verstrickung mit dem Nationalsozialismus eisern in Schweigen hüllten, zogen es CDU und SPD in der parlamentarischer Auseinandersetzung vor zu behaupten, dass sich der Landtag seit jeher mit der NS-Vergangenheit zur Genüge auseinandergesetzt habe und ungeachtet unvollständiger und fehlerhafter Angaben im biografischen Handbuch kein weiterer Aufklärungsbedarf bestehe" [8].
Im Landtag stellte Rüdiger Sagel den Antrag zur Einrichtung einer historischen Kommission zur Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit der Landtagsabgeordneten [9]. In diesem Zusammenhang sollte auch das biografische Lexikon des Landtages überarbeitet werden. Bei der anschließenden Debatte im Landtag NRW bezeichnete zwar die SPD die bisherigen Angaben über die Biografien aller Abgeordneten nach dem Zweiten Weltkrieg als "rudimentär", für eine Kommission bestünde jedoch "keine Notwendigkeit" [10]. Der Antrag wurde mit Stimmen von CDU, SPD und FDP abgelehnt, bei Enthaltung der Grünen.
Im Frühjahr 2011 griff die Linkspartei das Thema erneut auf und forderte zum zweiten Mal die Einrichtung einer unabhängigen historischen Kommission [11]. Durch einen Trick des Landtagspräsidiums, die das Thema inzwischen aufgenommen hatte, wurde jedoch über den Antrag nicht abgestimmt. Es hieß, eine Arbeitsgruppe würde sich mit der Aufarbeitung beschäftigen. Unklar ist jedoch, wer die Angehörigen dieser Arbeitsgruppe sind und welchen Auftrag sie eigentlich hat? Die Kommission befasse sich zwei bis drei Jahre mit jeder Legislaturperiode beginnend im Jahr 1946. Da jedoch direkt nach Ende des Faschismus die Abgeordneten im Landtag NRW nicht frei gewählt, sondern von der britischen Besatzungsadministration ernannt wurden, ist für diesen Untersuchungszeitraum wenig bis gar nichts zu erwarten. Tatsächlich war die Anzahl der belasteten Abgeordneten in der 4. bis 6. Wahlperiode zwischen 1958 bis 1970 am höchsten. "Wenn sich die Beteiligten ab dem Jahr 1946 in diesem Schneckentempo bewegen, kann mit umfangreichen Ergebnissen erst im Jahr 2012 gerechnet werden", heißt es aus der Linksfraktion NRW.
Weiter wird kritisiert, dass es völlig unklar ist, was genau untersucht werden soll. Der Fokus wird wohl nicht mehr auf der NS-Vergangenheit der Abgeordneten - bzw. auf deren Rolle im antifaschistischen Widerstand wie etwa bei den KPD-Abgeordneten - liegen. Es wird befürchtet, dass aufgeblähte Biografien entstehen, wo dann die Mitgliedschaft in der Waffen-SS neben der Zugehörigkeit zu einem Wanderverein, dem Lieblingsfußballverein oder der sonstigen persönlichen Vorlieben stehen werden.
[1] Conze/Frei/Hayes/Zimmermann: Das Amt, München, 2010. Mehr dazu auch in terz 10/2011.
[2] Zitiert nach Klaus: Braune Wurzeln, Seite 3.
[3] Dr. Michael Klepsch: Das vergessene braune Erbe - 60 Jahre Landtag NRW. Nahtloser Übergang in neue Führungspositionen. Alte Nazis in den nordrhein-westfälischen Landtagsfraktionen von CDU und FDP, Düsseldorf 2009.
[4] Interview mit Rüdiger Sagel in: junge Welt, 11.01.2011.
[5] Vgl. dazu AIB 59 (2/2003): Nazis und "Nationale Sammlung": Pflicht nach rechts. Die FDP in den fünfziger Jahren.
[6] Klausch: Braunes Erbe, a.a.O., Seite 17.
[7] Interview mit Rüdiger Sagel in: junge Welt, 11.01.2011.
[8] Dr. Michal Klepsch: Das vergessene braune Erbe, 2. Auflage, Düsseldorf 2011.
[9] Vgl. Landtag NRW, Drucksache 14/10012 vom 27.20.2009.
[10] Edgar Moron, Abgeordnete der SPD, Landtag NRW, Plenarprotokoll 14/134 vom 04.11.2009.
[11] Vgl. Landtag NRW Drucksache 15/661
FLORIAN OSUCH
(MITARBEITER DER NRW-LANDTAGSFRAKTION DER LINKSPARTEI)
Download der Broschüre "Braunes Erbe" als PDF unter:
www.linksfraktion-nrw.de/brauneserbe