SPARE PARTS

So, & darauf habt ihr jetzt die ganze Zeit gewartet, auf Sommer, Sonne, Schweissinferno? Ach hört doch auf. Fangt doch an. Erst ist es zu kalt, dann zu mau, dann zu hitzig. Habt ihr Probleme? Wetterfühlig? Saharaoverkill? Woandersimmerbesser? Ooooch. Guckt mal in die Welt hinaus, da gibt's wirklich welche - Probleme eben.Kein Essen ausser first world Müll. Kein Geld. Keine Zeit. Kein Leben. & je weiter ihr seht, desto näher solltet ihr eure nächste Umgebung betrachten. Was da los ist. Was. Los. Schalter an. Zuerst haben wir MATRIX auf dem Schirm. Various films (Chain Reaction) ist die sehr schöne Art von minimaler Dub-House-Tech-Exegese, die auch Dir etwas sagen wird. Wette ich. Offen, kristallin, yet geheimnisvoll. Ein Japaner schickt die files via Berlin in die Ohren, & na los, hebt das auf, nehmt es den Doofen weg. Es kann nur besser werden. Next: GLENN UNDERGROUND verzichtet auf Lounge excursions (Guidance) auf unsachgemässe Houseidiome der Letztzeit, statt dessen gibt es starken Deephouse mit Gefühl, Seele & Köpfchen, der sogar Dir zuhören kann, wenn Du es zulässt. Es speisen sich Rhythmus-Fragmente der 70er ohne jeglichen Retrolook ein, daraus schöpft Glenn dann voll & erntet viel. Manchmal gniedelt's gar zu sehr, doch sonst sehr gut. Eine der besten soulful electronic vibes kommt jedoch von NUBIAN MINDZ. Colin Lindo's New world chaos (Archive) ist Aspirant für die Sommerplatte schlechthin, & eine absolut fantastische seelenvolle Reise in eine wundervolle melodiöse House-Elektro-Fusion, die stets kickt, never schmiert. Das Label ist zu beachten, wenn es um spirituelle Bewegung & gute Laune-Beats geht. Der alte Bekannte TURNER ist dann auf LADO ein Disappearing Brother, aber nur, um woanders bei uns wieder anzukommen. Der Bruder mit dem Vogelnest auf dem Kopf & dem ver-rücktem House-Verständnis, ich mag ihn! Dann ein doppelter Paukenschlag: DJ HELL compilte den mittlerweile vierten Sampler seines GIGOLO-Labels, & hier bin ich tatsächlich geneigt, vom grossen Wurf zu reden. Auf 2 CDs findet sich eigentlich nur überzeugendes elektroides Material, stimmig zusammengeführt, entschlossen & rund in insgesamt 24 Tracks, & soviel zu entdecken, denn 2/3 sind noch unveröffentlicht, wie sich das für eine gute Compi gehört. Hier wird klar, warum GIGOLO nach wie vor eine der besseren bis besten Nachlassadressen für Elektronik ist. Ein Label wie KANZLERAMT, das Heiko Laux jetzt von Berlin aus macht, ist ebenso ein Fall. Nicht ganz so humorig & retrobezogen wie HELL seins, dafür mit klarer innovativer Linie, die keine Tech-Klischees aufkocht. Ergo nicht nur hard & stompin, denn es gibt weder was durchzusetzen, noch trotzig auf dem Boden des ehrlichen Underground rumzurotzen. Die Releases von GOLDWAVE (What the darkness proposes), DOUBLE X (unGleich in Exile) & DJ SLIP (The machines will know who you are) aus Midwest-USA, jetzt NY, sind mir mit das Beste & Liebste, was mir aus dem intelligent-gefühlvoll produziertem 4-Fuss-Bereich in die Finger gekommen ist. Bewusst, geschmackssicher, konsequent, offen, & das alles im besten Sinn. & alles andere als "amtlich", wenn wir das mal als definitiven Schrottbegriff in die 7 Meere versenken. Dem Techno-Traditionslabel TRESOR, das immer aufpassen muss, dass es bei allem Qualitätsoutput nicht zu "amtlich" wird, gelingt es auch immer noch, brillante Autorenalben herauszubringen. JAMES RUSKIN aus London, seit 94 aktiv, präsentiert auf POINT 2 harten Techno, funktional, gleichsam sorgfältig arrangiert. Breites Spektrum, geht auch in Minimal- & Ambientbereiche, sehr sehr gut. Auch auf TRESOR das Projekt AGAINSTNATURE, wo es Karl O' Connor (Regis) & Peter Sutton (Female) erwartungsgemäss konzentriert krachen lassen, aber auch hier mit intelligent kanalisierter Energie & schneidender Sonik. Das Album des Techno-Traumpaars aus dem tiefsten Herzen Birminghams wird ein zeitloses statement für Kompromisslosigkeit bleiben. Herausragend. Wer Techno für tot hält, lasse sich hier eines besseren belehren. Die aktuelle TRESOR-Compilation DE NUIT / No. 8 zeigt das ganze Spektrum dann in Reinform für die, die sich in bits & pieces informieren wollen: Round Two, Stewart S. Walker, Terrence Dixon, Drexciya, Sterac & viele mehr. Ein Stimmungs-Pendant in Sachen Drum & Bass könnte das Projekt THE RISE sein: Descent (Pagoda) enthält sorgsam programmierte Anti-Tunes mit der richtigen Kante, wohl zu dark für den Sommer, aber für jeden weird mind ein Alltags-Meisterwerk. Das Ganze vom Mastermind der Punklegende Snuff, Simon Wells, aber das sind doch nur Histörchen...Wenden wir uns der Schublade "experimentelle Elektronik" zu, was blinzelt denn da im Tageslicht? Das Beste gleich zuerst: DEADPAN ESCAPEMENT. Reconstructed heisst das Remixalbum vom CONTEXT-Label aus Oakland, auf der die Tracks des 98er Albums der Kalifornier Sutekh & Twerk von verständnisvollen Zerpflückern wie Matmos, Mannequin Lung, Jake Mandell, Stewart Walker, Kit Clayton, Mick Harris oder Safety Scissors liebevoll auf die Liege gelegt werden. Unglaublich gut, die Rhythmik fängt an zu keuchen & zu kotzen, & wir feuern sie an. Dito interessant ist das Projekt GOLDEN TONE (Supername, keine Frage har) mit der zweistückigen Liveperformance MICRO DATA, & das sind der Berliner Zeitblom & der Wiener Fennesz auf GPS / MEGO, & naja, das ist schon klasse für 2 Uhr nachts allein mit einem Drink oder als vereinsamtes Bit auf einer fremden Festplatte, auf den Virus wartend. Wir hören eine faszinierende Schnittstelle aus Improvisation & Elektrolytik, aus sehr gelungenen Klangparameterverschiebungen & Düsterdrones, & nur die konstante Ernsthaftigkeit diverser elektronischer Experimentalisten lässt mich dann noch brummeln. Das passt aber zur Musik. Dann noch TAL mit seinem neuen Release An evening with chartlie. Das SUBROSA-Label preise ich ja hier zur Genüge an, die electronic subdivision QUARTERMASS ist dito empfehlenswert, der loopende Pariser hier jedoch sollte noch mal in Klausur gehen. Hier ist zwar der Witz da, & der ist auch oft HaHa, jedoch klingt mir die Samplekunst des Mannes ein bisschen nach "Wie es die Oma macht". Nee echt jetzt, das kann Klein-Jochen aus dem Sandkasten, der ist auch ein Samplegenie, mindestens genauso. Merke: Loop nix immer gut. Der Vollständigkeit halber erwähne ich hier noch mal das Album von GRY: Public recordings (FM 451) versammelt die sehr hörenswerten Ergebnisse der öffentlichen Probe-Aufnahmesessions von FM Einheit & seinem "Orchester". Sehr schöne Songs, von princess crocodile bis helicopter heart. Dann ein Knall: Was auf dem Album der Salt Lake City Band ETHER passiert, ist phänomenal gut: Music for air raids ist der 50ste Release auf dem australischen Wunderlabel EXTREME, & dafür erfinden ETHER die Rockmusik nochmal neu. Kein Scheiss, die spielen das, auch mit diesen seltsamen Instrumenten, aber wie, aber wie...euch kommt das Staunen, völlig zerpflückt & kaputtgenickt. Wer auf Sachen wie LOW steht, muss hier reinhören!!! Seltsamen russischen Impro-Psychedelik-Rock spielt auch OLE LUK-KOYE (Crystal Glow-Bar). Die St. Petersburger traten beim letzten Burg Herzberg-Hippie-Festival auf & wurden von FAUST-Mitglied Jochen Irmler produziert. Bei wem's jetzt klingelt, der hört rein: sehr ruhig, ambientös, leicht angetranct, & mit 5 Tüten zuviel oder dem entsprechendem natureflash wahrscheinlich super, nüchtern aber nicht mein Ding. Doch kommt Zeit ...Deshalb was Anderes: Neues von BURNT FRIEDMAN, sein Con ritmo ist das erste Album auf dem eigenen Output NONPLCE. Das ist keine Elektronik oder so Kinderkäse mehr, hier vermischt jemand mit genuinem Gespür für Klangspuren, Instrumente & der Tiefe des musikalischen Raumes seine Musik mit einer Live-Rhythmussektion. Grandios, gell. & klingt auch so. Eine Ausnahmeplatte für die, die wirklich das Besondere suchen, aber ist Love Go (Primal / Artelier) vom FLESHQUARTET, dem schwedischen Stringquartett mit Rhythmiker, denn sie verdreht Dir Kopf & Gefühle, & so muss es sein, willst du dich häuten. Ähnlich herausragend ist die Platte The Hour Of Bewilderbeast des Engländers BADLY DRAWN BOY (Beggars Banquet). Sein futuristisches Folk-Songwriting, dass sich aus Spieltrieb & Experi-mentierfreude nährt, rührt, bewegt, reisst mit & ist fast besser als Beck. Listen up! So, wir nähern uns nun hörbar dem Groove-Sumpf, da muss es jetzt etwas schneller gehen, damit wir nicht immer stecken bleiben. Die ersten Mangrooven-Bäume wachsen logisch bei GROOVE ATTACK & den superben von ihnen vertriebenen Labels. Zum Beispiel auf Farout Recordings: GRUPO BATUQUE versammelt superbe brasilianische Rhythmik in originalen Aufnahmen, Vibes & Querverbindungen, ORLANDO JULIUS & seine MODERN ACES hingegen sind mit ihrer 1966er Scheibe SUPER AFRO SOUL (Afro Strut), einem essentiellem Oberklassiker nigerianischer Musik, wieder zu haben - ein Muss!!!-, die Compi SPIKE'S CHOICE 2 hingegen versammelt all die Neo-Rare-Funk-45er des DESCO-Labels, die das stundenlange Wühlen in der Plattenkiste unnötig macht. Alle über GROOVE ATTACK zu erhalten, wie auch der grandiose Brooklyn-HipHop des JIG-MASTAS (Beyond Real) - Duos (DJ Spinna!), das auf Lyrical Fluctuation mit vielen Gästen in absoluter Hochform ist, wohingegen die Westküste mit der fantastischen ABB-Labelcompi Always bigger & better mehr als glänzt, & ENCORE's Album Self Preservation (75 Ark) dafür den state-of-the-art der Bay Area phänomenal repräsentiert. Ein weiteres HipHop-Highlight ist unbedingt auch das LA-Duo PEOPLE UNDER THE STAIRS, deren Question in the form of an answer (Om) eine homemade-funk-underground-Apotheose ist, close to the bone & reduced to the max. Originalgetreue Dub-Vibes, mild & voll, kommen wieder von Ryan Moores Twilight Circus Sound System: DUB VOYAGE (M Records) lässt keine Zweifel an der Klasse analogen Empfindens. Klar eine Klasse für sich auch das neue Album von Ex-Hüsker-Dü-GRANT HART: Good News for modern man (World Service) - für College-Rock-Süchtige mit Nostalgielaune. Eine wunderbare Überraschung & eine der besten Remix-Alben bis dato schliesslich die KOOK-VARIATIONEN von Tocotronics letztjährigem Klassiker, hier von Elektro- & Samplingspassvögeln wirklich einmal grösstenteils originell durchgeschrubbt (L'age d'or). Schlussendlich dann IT'S NO FUN TO COMPUTE, der knarzige Stossseufzer vom Berliner ROPE auf Geist-Records, dem Digital-Hardore-Ableger fürs Sonderbare. Mindestens so kompromisslos & empfehlenswert wie der Rest. Was bleibt? Dieser Sommer. Eine Zeit der leisen Umbrüche. Der feinen Abschiede. Der bitter-gutgelaunten Aus- und der unpathetischen Aufbrüche. Der Idiot auf den Hügeln sitzt & sieht. & flüstert einen Schrei. Hört doch auf. Fangt doch an.

MARCUS