SPARE PARTS

Angesichts der Ereignisse in dieser Stadt und anderswo erscheint es zunehmend schwieriger und irrelevanter, über Popmusikprodukte monatlich einige Zeilen zu verlieren. Andererseits beansprucht dieser kleine kompakte Kulturkompass hier auch nicht irgendeine andere Wichtigkeit, als denen, die von einem Leben, das ihnen nicht gibt, was es nie versprach, einige Tonarten zu verlangen, die sie letztlich doch darüber hinweg führen könnten. Darum und nur darum diese paar Zeilen. Aber auch Geschmacksdistinktionen, die man hier schon längst überwunden geglaubt hatte, hinken hinterher und haken bös nach. & das in einem Prozess, den man auch schon einmal öfter, letztlich vielzuoft jedoch, erlebt zu haben weiss. Die erste Platte, die ich Euch hierzu anempfehlen kann, heisst STEAL THIS ALBUM (Circus / Zomba). Boots Riley ist ein alter Klassiker des Polit-HipHop (Kill my landlord). Jetzt funkt er weiter und sagt: "I like my music to be a call to struggle in a practical way. A way to get people out on the streets to fight for a change in the system, for revolution that outlaws exploitation. The working class should share it's own profit." Dann geht mal los & versucht diese Platte zu klauen. In eine ähnliche Kerbe, nur multimedial versierter & comic-artiger, haut der HipHop von THE ANTI POP CONSORTIUMs Album TRAGIC EPILOGUE (75 Ark). Die Vernetzungen dieses Projektes machen Sinn, und die Stile der MCs lassen tatsächlich alte Free-Jazzer am Mikro vorstellbar werden. Dabei immer noch bodenständig genug, um nicht vollends randständig zu werden. Ebenso zornig, aufgeklärt und desillusioniert: der HipHop von GUNSHOT und INTERNATIONAL RESCUE (WoW / Southern). Ich hab heut Lust zum zitieren, dann kommen Sachen manchmal schneller auf den Punkt: "mothers life ain't easy, when we have fe live life in a factory, and we done left the sun in a she country, them things a fuckree, when cold come take set in a your body. now your body get drop true you can't find food for the dutch pot, and they well want work but them get sack blood pressure rise an a gone and i bust that!" Das Ganze aus Brixton / London, und wieder implodiert eine Goldkette mehr. Bewegend auch das Debut der UK-HipHopper THE NEXTMEN. Ihr MOVING AMONGST THE MADNESS (75 Ark): Jazzy, sharp und mellow styles und intelligente Sounds vermischen sich zu einer tighten Vison, die einer DER aktuellen Beweisplatten für die Gross-artig-keit des HipHop von der Insel ist. Von der USA-Ostküste hingegen gibt es dieser Tage die Abschiedsplatte von BIG L: THE BIG PICTURE (Pias), der im Februar letzten Jahres seínen Verletzungen erlag, als er bei einem Besuch des Delano Village Projekts West 139th in Harlem - wo er auch herkam - aus kurzer Entfernung niedergeschossen wurde. Das ist so real, das es wirklich wehtut, aber nur ein Tropfen mehr auf den heissen Steinen dieser immer noch mörderischen Stadt. Wie gut, dass es da den sicheren schwedischen sozialdemokratischen Skater-Punk-HipHop von LOOPTROOP (dämlicher Name dazu) gibt. Das Debut (über Pias) kickt seinen soliden (yawn) aber wenig weltbewegenden Style auf einem Punk-Label, das sich einer Weiterbewegung nur öffnete, weil hier "punk attitude" (yawn) gerochen wurde. Na, dann fordert mal "reclaim the city" mit, aber vergesst nicht, die Kontonummer anzugeben! Den besten Roots-Sound dieses Monats findet ihr erneut auf den Releases der TROJAN-Labellegende (über Groove Attack) und solltet ihn wahrhaft suchen: die Compilation von DENNIS ALCAPONEs göttlichen Reggae-Skank-Uptempo-Nummern aus den Jahren 1970-1973 heisst nicht umsonst MY VOICE IS INSURED FOR HALF A MILLION DOLLARS, und ich schwöre, dieser Stoff geht runter wie warme Butter und hinterlässt keine Schuldgefühle! Grandioser Sound, den kriegt heute einfah mehr keiner hin! Auf der anderen TROJAN-Compilation STRICTLY RUB-A-DUB dann gibt es historischen Nachhilfeunterricht in Sachen Dancehall-Klassiker. In der Zeit von 1979-1985, also bevor die grosse Ragga-Explosion erfolgte, gab es die grossen Vorbereiter wie Clint Eastwood, Ranking Joe oder Yellowman / Fathead - hier wird tief in der Echokammer getoasted, bis alle Weissbrote glühen! Dub-Versionen der Neuzeit bietet hingegen eine Compi des legendären BLOOD & FIRE-Labels (Select Cuts), dass einige seiner Hammerklassiker von zb. King Tubby oder I-Roy von Modernisten bearbeitet liess. Die Ergebnisse sind teils grande, teils aber auch Schrott: wem nützen Dub-Remixe mit Yuppie-Drum & Bass-Styles? Wer aber auf neueren Downbeatkrempel der interessanteren Art steht, liegt bei DOCTOR L richtig. Der originelle Name sollte nicht verbergen, dass der Franzose, früher im House tätig, mit MOUNTAINS WILL NEVER SURRENDER (Zomba) eine extrem abgespacte Platte gemacht hat, die Frank Zappa heute gut gefallen dürfte. Eine sehr schöne Downbeatexkursion kommt auch von FINK - nein, nicht die hanseatischen Neo-Countries sind gemeint - sondern ein verbogener kleiner schmieriger Engländer, der mit FRESH PRODUCE (Ninja Tune) eine überraschend frisches und inspirierendes Beatseminar auf den Bartresen haut - nach der Sperrstunde, versteht sich. Wer auf derart tiefergelegten Rhythmen steht, für den ist unter Umständen auch PROGRESS, das neue Album der Brightoner RUNAWAYS etwas (Ultimate Dilemma) - auch dabei ist Iriscience der LA-HipHop-Legende Dilated Peoples! Eine der fittesten Platten eines knacksenden Lo-Fi-Hi-Genres, Songwriting gemixt mit grundgutem Reggae/Jazz-Vibes und jeder Menge wirklichem Soul, zaubert Ex-DC-Basehead Keith Lofton als LAZY K mit LIFE IN ONE DAY (Pias) zusammen. Die Country-HipHop-Connection ist nicht vergessen! Unglaublich: denn der Japaner NIGO schafft Ähnliches auf seiner Platte APE SOUNDS (Mo Wax), nur mit deutlich weniger Ironie und mehr 1:1-Popstilen. Zwei schwer seltsam gute Platten. Seltsam verjazzte und funkig-verfrickelte Elektronik, die mitunter sofort gute Laune macht, ohne anbiedernd zu nerven - ich kann nur immer wieder betonen, wie wichtig solche Platten sind - , gibt es dann auch vom zuverlässigen britischen Label Hydrogene Dukebox: da haben wir GUCCI DOG mit ODDTOOT MENTAL, den immer mehr Live-Ethnien-Musik aufsaugenden Beatfreak JAMES HARDWAY mit MOORS & CHRISTIAN und GLOBO mit THIS TIME IT'S GLOBO - komisch, üppig, bewegender Stoff, der nicht entäuscht. Strikt kubanisch-sozialistisches Musikgut dann von der Pipeline Bristol-Havanna: UP, BUSTLE & OUT interpretieren auf ihren MASTER SESSIONS 1 (Ninja Tune) die sattsam überreizten Kuba-Klänge auf eine Weise, die klar macht, warum ihre respektvolle Verehrung für Che Guevara immer noch mehr ist als ein Pop-Hype. Für unsere zahlreichen House-Freunde unter uns empfehle ich diesen Monat wieder zwei superbe Compilations, die rocken und rollen, dass es wirklich weh tut: NUPHONIC (Pias) featured mit der Nr. 3 eines der deepsten und besten Houselabel der Jetztzeit, und auf CLASSIC gibt es ebenfalls die dritte, nur mit allerbesten Remixen versehen und allem, was den anständig dissidenten Rock'n Roller noch so freut (sage nur: Isolée, Derrick L Carter, Gemini). Keine Frage: fast so gut wie Billy Bragg. Breakbeats öden derzeit wie nix, wenn man nicht Hardcorefan ist. Ausnahmen bestätigen die Regel: Genrepionier A GUY CALED GERALD macht mit ESSENCE (!K7) die saccharinsüsse Pop-Variante, die teils sehr schön, teils arg überzuckert ist, wogegen THROUGH THE EYES (Pias), DJ KRUSTS Mix und Compilation von FULL CYCLE-Breakbeats, eine selbstverständliche D&B-Offenbarung ist, die heute nicht mehr allzuoft passiert. 3 Titel sind bisher auf dem Label auf Vinyl veröffentlicht, der Rest ist komplett unveröffentlicht - no mo questions. Avancierte Elektronik passiert auf TRAINER, der Do-CD der hellwachen britischen Soundträumer PLAID (Warp), vergriffene und unveröffentlichte unspektakulär bescheiden geniale Nümmerchen, die zuerst gar nicht verraten wollen, was sie so besonders macht. Die schönste Elektronikplatte des Monats aber kommt von Aphex Twins REPHLEX-Label: die Finnen OVUCA haben sich auf ONCLEMENTS (EFA) selbst übertroffen. War der Vorgänger noch extrem noisy und drillbohrerartig, finden sich auf dieser Do-CD mit überbordendem Material unzählige witzige Klein- und Feinteile, die in einer ganz eigenen Klasse sind. Unbedingt anempfohlen wie selten was! Traditionell minima-listisch dann der Retro-Elektro von ARTIST UNKNOWN (disko B), doch die erst etwas müde Platte wächst und wird ziemlich spitze. Ähnlich retro dann PEACHES, eine junge Kanadierin, die mit ihrem Debut TEACHES OF PEACHES (Kitty Yo) alle unsexy Menschen ala MC5 rocken will, nur mit alten Beatmaschinen. Das alles soll natürlich wieder mal Punk und aufregend sein, ich aber frag mich nur, ob Sexismus aufregender, besser oder anders ist, wenn er von Frauenseite kommt. Die Sex-Attitüde ist schnell klar und nervt, alles sehr offensichtlich und hypy, mit Sexy Unterhändler-Style hat das zero zu tun - & wenn das jetzt doch ironisch sein soll, gibt's sofort aufs Maul. Ihr Berliner Label Kitty Yo bekommt aber eh derzeit nurmehr Zucker in den Arsch geblasen, da kommt ein bisschen Pfeffer vom Rhein nicht schlecht. Überall abgefeiert werden im September wahrscheinlich die Hamburger STELLA. Die 3er-Bande geht auf FINGER ON THE TRIGGER FOR THE YEARS TO COME (Zomba) selbstverständlicher und souveräner als zuvor mit Pop-Stilen um, so einige kluge Texte bauen sich so zusammen und unterhalten eben auch so, auch, wenn das heruntergebetete Hamburg-Paradigma mittlerweile ohne "Spacks"-Schützenhilfe so viel Kraft hat wie eine Tütensuppe von Aldi. Doch wen kümmert's, wenn wir die Musik haben? Insgesamt gelungen, aber: bleibt zwiespältig. Nochmal Diskursanbindung: Move D und Thomas Meinecke als Dream-Team für den Gender-Roman TOMBOY und das irre Spiel FREUDS BABY, sehr hörenswert, und auch interessant: die klassische Toncollage WEEKEND von Walter Ruttmann remixt von Mick Harris, to roccoco rot und anderen (Beide: Intermedium). Sehr eigen auch die Beiträge auf der Platte des Briten RUSSEL MILLS: STRANGE FAMILIAR (bella / EFA) vereint grandiose Klangteppichweber wie Brian und Roger Eno, Robun Guthrie, Bill Laswell, oder auch David Sylvian. Eine eigene Atmosphäre mit eigener Moral. Das beste der Bandmusik zum Schluss: dreimal sehr fragile, versponnene und gleichsam superkonkrete Musiken zwischen jazzigem Tagtraum und folkigem Nachtschattengewächs:

THE BLOS-SOM FILLED

STREETS, die dritte Platte MOVIE-TONE (Domino), die seltsam geerdeten, aber immer wieder in den Himmel guckenden und dabei stolpernden THE WISDOM OF HARRY mit HOUSE OF BINARY (Matador), und, mein Fave dieses Trios, die wunderbaren PRAM mit MUSEUM OF IMAGI-NARY ANIMALS, eine Band, die zwischen Tag und Traum Propagandakapelle für eine Kissenschlacht oder eine Bewusstseinsrevolution sein könnte. Den Schlusspunkt setzen trotzdem ATARI TEENAGE RIOT: LIVE AT BRIXTON ACADEMY (Digital Hardcore) ist ein brachialer Befreiungsschlag inmitten falscher Freunde, ein Lärm-Inferno, dass wächst und keine Hände mehr zu reichen hat, ausser Fäuste aneinander zu reiben. Es gibt es. Und es ist gut.

MARCUS