TERZ 10.00 – STORE
Gestern sah ich einen neuen Film. Clanchefs und Cowboys aus CDU / CSU
beeilten sich darin zu betonen, dass ihre Parteien einem Bündnis
gegen Rechts nicht beitreten werden, da man in diesem Land ein Bündnis
gegen Radikalität, besonders gegen linke und von Ausländern
ausgehende, brauche. Wir seufzten tief & guckten an die Decke. We
saw those movies earlier, we know the stuff, we know the staff, we know
the reasons and we know the end. Es ist so wie immer, nur schlimmer, sagt
der kleine Clown, & das Land kommt genau da an, wo es hinwill. Kollektiver
Schlaf. Welche Töne können aufrütteln, euphorisieren oder
besänftigen? Legen wir doch mal die neue NO MEANS NO (Wrong
/ EFA) ein. Weil diese komische Kapelle immer noch aufrecht durch die
Gegend schwankt? Ja, und weil ihr Sound mit Kraft allen egomanisch asozialen
Poptrotteln, die das Medienfeuilleton derzeit so gerne abfeiert, ein klitzekleines
Feuerzeug unter die Buxe hält. Und das kann bei ner Liveschaltung
aus Hirnverbranntomanien viel wert sein. So, ab jetzt geht's wieder im
Schweinsgalopp durch die wirklich erwähnenswerten Platten: ein Doppel-kracher
logisch die beiden folgenden: RESCATE 137 (novamute), die stetig
freier werdenden Elektronikmutationen des evergenialen CRISTIAN VOGEL
- selten fräste sich Funk-Rhythmik so disparat-dissident UND gutgelaunt
in die Kopfmotorik -, und die unglaubliche Freejazz-Elektro-Musique-Concrete-Fusion
MUDDLIN GEAR (Warp) seines Compagnions JAMIE LIDELL, dessen
Platte früher wohl als "kommerzieller Selbstmord" bezeichnet
worden wäre. Also liebt das Zeug, es ist zu gut. Noch mehr Schweinskram:
DATACH'I, einer der besten und abgedrehtesten NYer Produzenten,
stellt auf WE ARE ALWAYS WELL (Cai-pirin-ha) erneut klar, dass
nur er das nach USA abgehauene Ziehkind von Aphex Twin ist. Drillbohrerbeats
und lofi-Casio-Georgel, und die Gehörleitungen drehen durch. Ebenfalls
auf Caipirinha und völlig anders: einmal das FREIGHT ELEVATOR
QUARTET mit ua DJ SPOOKY, das die faszinierenden Klangschichtungsexzesse
und die lavaähnlichen Tracks diesmal noch kompakter hinbekommt:
BECOMING TRANSPARENT der sinnige Titel, zum anderen SAVVAS YSATIS
als SOUND TRACK, der kühle Grieche aus NY, der seine hartfunkige
Minimaltecharchitektur auf THE COOLER in ein wärmeres tiefes
Haus überführt, in dem es genug Zwischenräume gibt. Die
wahrscheinlich beste Ambient-Platte der Zeit kommt hingegen von SUSUMU
YOKOTA. Der ansonsten sehr beatbetont arbeitende Japaner verbindet
auf SAKURA (Leaf) Elemente akustischer Pianomusik mit Stimmfragmenten
und DeepHouse-Atmo, heraus kommt ein beruhigendes Crescendo, das wohltuende
Wärme und Tiefe generiert. Ein ausser-ordent-liches Experiment hat
auch Klangwissenschaftler DAVID TOOP mit MUSIC FOR MONDOPHRENETIC
(sub-rosa) geschaffen: Tracks, die die Atmosphäre eines Raumes suggerieren
sollen. Angeregt durch die Science Fiction von JG Ballard, entstanden
so eindringliche Miniaturen wie empty mall, ventilation shaft oder watchtower
data. Beunruhigender Ambient, vorstellbar? Als ob das noch nicht düster
genug wäre, befasst sich der Belgier VALIUM auf dem Konzeptalbum
ART OF MISDIRECTION (Gigolo) mit Theorien zur Gehirnforschung und
psychologischen Grenzwerterfahrungen. Das Konzept bleibt etwas unscharf,
im Gesamtbild aber ergibt sich ein faszinierendes Panorama, in dem futuristisch
intendierter Elektro sich mit theoretischer Handleserei verbindet. Definitiv
worth a check. Auf die Arbeit der TWO LONE SWORDSMEN verweise ich
nur der Form halber: Legende Andrew Weatherall und Keith Tenniswood sind
wirklich wahre Piratenkapitäne des UK-Elektro-Underground, und auch
TINY REMINDERS (Warp) enthält einfach so gutes Material, das
wärmt ungelogen bis in den Winter hinein. Gross. Auch auf Warp die
fantastische MIRA CALIX, die nach ihrem genialen Album-debut jetzt
schon die verdiente John Peel-Session bekommt. Dieser Elektro gehört
definitiv einer neuen Generation an, witzig nur, dass seine Macherin mit
ihrem Mann mitten in der britischen Pampa in einer kleinen Uralt-Bauernkate
wohnt. Vielleicht inspiriert das Landleben ja doch. Was zu erwarten war:
NEON ROCKA (Tresor), das erste Album der britischen Underground-Technoten
SUBHEAD, die bislang Unmengen von dreckigstem und taffsten Techno
produzierten, ist herausragend geworden. Man hätte es noch härter
erwartet, stattdessen setzt das Duo auf eine phantastische Stilbreite,
die nichts verwässert. Auf dem durchweg empfehlenswerten Kanzleramt-Label
dann der junge Schweizer DIEGO, dessen intelligent-charmante Tech-Tracks
auf dem Debut MOUTH FULL OF FRESH CUT FLOWERS überzeugen,
der Sound aber auf Dauer etwas langweilt - zuviel Gummi drin, ukwis. Bestes
Remixalbum der letzten Zeit aber dann die Bearbeitungen von HEIKO LAUX'
SENSEFICTION - grossartig! Normalerweise schicken einen viele Remixe
durch ihre komplette Unnötigkeit ja gleich präventiv in den
Schlaf, hier aber gibt's scheinbar ein komplett neues Album - absolut
nur vom Besten mit interessantesten Stilverschie-bungen! Haben wir auch
noch ein kurzes Ohr auf Drum & Bass: DARCHIVES klingt auf SCENARIO
(artelier) wie das Beste aus dem abgegrasten London, war aber noch nie
da und wohnt in Uppsala/Schweden. Huppsala - ihr werdet's nicht glauben:
hier ist der beste D&B-Joint derzeit! Spielverderber dann logisch
wieder die Elektrohardcorepunker von Digital Hardcore: EC8OR wollen
weder brav noch erwachsen werden, rotzen I'm a tomorrow oder I won't pay
aus den Boxen und sind auch sonst eine ganz gute Kulturwaffe gegen Geschmacks-
und vielleicht auch sonstige Faschisten. Trotzdem: gebt denen nicht die
Hand, denn die könnte nachher fehlen. Auf den Mangrooven-bäumen
spriessen auch derzeit wieder unglaublich gute Gewächse: right on
top natürlich die XEN NINJA CUTS, die famose Riesensammlung
des state-of-the-art, den unser britisches Darling-label NINJA TUNE
zum 10jährigen herausgegeben hat. Glückwunsch, & am 2.10.
feiert die Posse in Köln, watch out! Auf gleichem Label auch REWIND,
das superbe Album ihrer Visual Artists HEXSTATIC: fantastische
Atmo & groovend-ste beats, die um ein reflektiertes Medieninferno
gebaut wurden, plus CD-Rom. Abtlg. "Begnadet": die besten Remixe
von Detroit-Mastermind CARL CRAIG sind auf DESIGNER MUSIC 1
(Planet E / EFA) raus, und sind sowohl vom Klangbild als auch von der
Musikalität wirklich einmalig. Unverkennbar in der warmen Klangästhetik,
die rund ist, aber auch packen kann. Die Elektrojazzband RED SNAPPER
wird dann auf OUR AIM IS...(Warp) richtig vielschichtig: schwerer
irgendwie, dann nahezu sphärisch, aber immer am Boden und superspannend.
Kranke Dope Beats, die irgendwann cool zu rocken anfangen, dann von den
DOPE SMUGGLAZ (Pias) aus Leeds, MINIMALPHUNK aus Bochum
hingegen überzeugen auf BALANCE mit Köpf-chen--groove.
Sehr interessante leichtere Varianten gibt's von JOLLY MUSIC, zwei
schrägen Italienern, die auf JOLLY BAR (Nature) Flohmarktplatten
kaputt-samplen und dabei sogar noch originell sein können. Der Italiener
NICOLA CONTE dagegen baut sich auf dem famosen JET SOUNDS-Album
(Schema/Groove Attack) mit 20 Musikern schwingende Stil-Gerüste für
seinen urkomischen easy-el-avant-garde-jazz und begeistert, und die hochseriöse
Variante kommt dann von den begnadeten Filmmusikkomponisten ARLING
& CAME-RON, die auf MUSIC FOR IMAGINARY FILMS (Pias) ihrem
Hang zum obskuren Lounge-Pop frönen. Ganz hervorragender Stoff, dem
sich auch die Ausnahmecompi SPINNING WHEEL OF JAZZ 2 (Groove Attack)
anschliesst: das in München beheimatete Label SPINNING WHEEL
pickt nur absolute rare und vergriffene Dancefloorjazzjuwelen aus den
Archiven & Flohmärkten, und das Zuhören ist ein Genuss!
AZUCAR LETAL (SubUp) dann sind drei kubanische Damen, von Ex-Schaumburger
Holger Hiller produziert. Der "tödliche Zucker" trifft
manchmal mitten ins Geschehen, zuweilen jedoch lässt er den Kaffe
kalt werden. Zwiegespalten, aber hörenswert. Fanatisch-Fantastisch
natürlich wieder die neueste Compi aus dem Hause SOUL JAZZ RECORDS:
400 % DYNAMITE heisst es jetzt schon, & wieder nur Raggamuffin
& Dancehall-Klassiker galore, absolute Ticker wie Ring the Alarm oder
Under me sensi sind auch dabei. In diesem Falle: wirklich unverzichtbar
& bald ausverkauft. Ebenso genial-original: CLUB AFRICA 2 (Groove
Attack), auf der Brighton's Russ Dewbury superraren African Hardfunk,
-jazz und -beat mit fachkundigsten Linernotes kompiliert. Ganz gross!
Der beste House-Joint des Monats dann kommt eindringlich und unverkennbar
mit der Doppel-Mix-CD "UK-USA" (React), auf der zwei
der besten und ältesten Housemeister dieser Zeit, DANNY RAMPLING
und DAVID MORALES, den real house sound of now zusammenstellen.
Wie immer hochpolitisch und in der euphorischen Mission des sozialen Zusammenkommens
unterwegs, räusper. Hörenswerten zeitgemässen Dub, der
den alten Echokammern eine Menge verdankt, bekommt ihr auf HI-FIDELITY
DUB SESSI-ONS 2 (Guidance) in die Ohren geschmiert, sogar schnellere
Momente. Die Hamburger Spassmacher vom LADO-MAT-Label schliess-lich
bieten wieder mal zwei recht lohnenswerte originäre Produkte an:
COMMERCIAL BREAKUP mit GLOBAL PLAYER, eine typisch zeitgenössische
berlinhippe Version von Pop, deren Halbwertzeit wir bitte in zwei Jahren
nochmal überprüfen wollen, und die neue von SAND 11,
die ihren hanseatischen House auf ein überraschend gutes neues Level
gehoben haben. Wen's interessiert: auf einem Track singen Frank "Sterne"
Spilker und Peta "BrautAugeHaun" Devlin". Die Musik ist
gut, aber die Promotexte mal wieder unerträglich. Das muss man bei
Lado in Kauf nehmen, also Schnaps drüber. Zum guten Schluss Wort
auf für HipHop. Erstmal der gefakte, der aber echt gut ist: die Grossmaul-Nervensägen
von KITTY YO aus Berlin haben mit der neuen GONZALES wieder
spitzen-mässige Scheisse am Start. Auch hier nervt die Promo: Pressekonferenz
in Bundespressekonferenzsaal, wo statt Gerhardcore-schwach-mat unser Gonzales
sich zum Präsident des Berliner Undergrounds wählen lassen will.
Aua, aber die Platte brennt, also verzeihen wir ihnen den Scheiss. Da
real stuff (kicher) heute vergleichsweise dünn: ein DJ-Kicks-Mix
von NIGHTMARES ON WAX (!K7) ist natürlich eine verdammte Offenbarung,
die keines Kommentares ausser gehet und höret bedarf, Genosse PHIFE
DAWG, der dritte Mann von A Tribe Called Quest, ist mit VENTILATION
(Superrappin) realer als real und vielleicht schon fast weg von der Strasse
(hat Mutti geschimpft?), dafür tun's Dir FOREIGN LEGION mit
KIDNAPPER VAN (Insiduous Urban) aus - wieder mal - der Bay Area
gewaltig. Die Fahrraddiebe aus San Jose sind eine absolut anempfehlenswerte
Adresse, wenn es um guten HipHop geht, und das Projekt DELTRON 3000
(75 Ark) mit DEL, DAN THE AUTOMATOR und KID KOALA zieht
dann endgültig alle Hosen runter. Das ist wirklich jajaja der next
level shit, futuristisch-verrückt-bewusst-innovativ, runterkommen
kann mensch da nur mit der DEFINITION OF ILL (Copa-setik), der
wirklich besten HipHop-Compi-lation zur Zeit. Und jetzt ist Schluss mit
Vokabeln, jetzt wird gehört, und dann rausgegangen und alles anders
gemacht.
MARCUS