(Nicht)Aufklärung mit vielen Fragen

Der Düsseldorfer Wehrhahn-Anschlag im Jahr 2000

Am 27. Juli 2000 soll Ralf S. auf dem S-Bahnhof Wehrhahn per Fernsteuerung und mit Sicht auf die Opfergruppe einen selbst gebauten TNT-Sprengsatz zur Detonation gebracht haben. Am 1. Februar 2017 wurde er in seinem Wohnort Ratingen verhaftet. Der Hauptvorwurf: Zwölffacher Mordversuch – heimtückisch, gemeingefährlich, aus niederen Beweggründen und „in fremdenfeindlicher Absicht“.

Ziel des Anschlags war eine Gruppe Migrant_innen aus der ehemaligen UdSSR, die meisten von ihnen Jüdinnen und Juden. Zehn von ihnen wurden teilweise lebensgefährlich verletzt, das ungeborene Kind einer Frau wurde getötet. Alle besuchten einen Sprachkurs der Bildungseinrichtung ASG, der unweit des S-Bahnhofs auf der Ackerstraße angeboten wurde. Im Gegensatz zu den späteren NSU-Morden und -Anschlägen wurde in den Medien und von führenden Politiker_innen ein rechter Hintergrund als möglich bis wahrscheinlich eingeschätzt.

Nachdem Polizei und Staatsanwaltschaft Anfang Februar 2017 mit reichlich Lob überschüttet worden waren, legten sich während der 52. und 53. Sitzung des Parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschusses (PUA) des NRW-Landtags am 7. und 17. Februar dieses Jahres Schatten über das Geschehen. Offen blieb, woran es gescheitert war, dass der mutmaßliche Täter nicht schon viele Jahre früher dingfest gemacht werden konnte. Und welche Rolle die Inlandsgeheimdienste beim Tatkomplex Wehrhahn gespielt haben.

Waffennarr und Zeitsoldat

Schon am Tag nach dem Anschlag wurde von antifaschistischen Gruppen und Bewohner_innen des Stadtteils auf Ralf S. aufmerksam gemacht. Der Verdacht beschränkte sich aber auf ein „dem wäre so etwas zuzutrauen“. Der damals 34-jährige Waffennarr und ehemalige Zeitsoldat, der keinen Hehl aus seinem Hass auf „Ausländer“ machte, war vielen aufgrund seiner patrouillenartigen Rundgänge mit Hund und seines militärhaften Outfits bekannt. S. wohnte in der Nähe des S‑Bahnhofs, bot Security- und Wachschutzdienste an, betrieb ein Ladengeschäft für „Polizei-Armee-Sicherheit-Zusatzausrüstungen“ und Militaria (TERZ September 1999 berichtete) – und nebenbei auch RechtsRock-CDs – und war eng mit der lokalen Neonaziszene, insbesondere mit dem Kreis der „Kameradschaft Düsseldorf“ um Sven Skoda verbunden. Er brachte damals seine Gesinnung unter anderem durch eindeutige Tätowierungen und das massenhafte Anbringen von einschlägigen Aufklebern zum Ausdruck. Neonazis gingen in seinem Laden ein und aus. Auf Aufmärschen wurde er jedoch nicht gesichtet. Unbekannt ist, ob er Mitglied einer extrem rechten Partei war bzw. ob er sich als Aktivist der „Kameradschaft Düsseldorf“ verstand. Insgesamt aber machte er wohl lieber sein „eigenes Ding“, gehörte jedoch zur lokalen Neonaziszene, die Ende der 1990er Jahre – hartnäckig ignoriert von Polizei und Stadtoberen – aktiver und zahlenmäßig stärker geworden war und immer dreister in Erscheinung trat. Etwa drei Wochen vor dem Wehrhahn-Anschlag hatte beispielsweise eine siebenköpfige Gruppe um die Mitglieder der Düsseldorfer Band „Reichswehr“ zwei Migranten auf dem S-Bahnhof Derendorf angegriffen. Hierbei wurde eines der Opfer auf die Schienen gestoßen und zusammengetreten.

Die wenige Tage nach dem Wehrhahn-Anschlag eingerichtete „Ermittlungskommission Acker“ („EK Acker“) verfolgte als eine unter vielen Spuren auch die Spur Ralf S.. Noch vor der Einrichtung der EK hatte bereits der Polizeiliche Staatsschutz am 29. Juli 2000 eine offenbar halbherzige und erfolglose Hausdurchsuchung bei S. durchgeführt. Dabei habe es sich eher um einen „oberflächlichen Stubendurchgang“ gehandelt, kritisierte der frühere EK-Leiter Dietmar Wixfort bei seiner Befragung bei der 52. PUA-Sitzung. Näheres zu dieser Durchsuchung, beispielsweise zur Verantwortung und zu den Gründen für das stümperhafte Vorgehen, blieben der Öffentlichkeit verborgen und schienen den PUA auch nicht sonderlich zu interessieren. Für die EK sei es in der Folgezeit schwer gewesen, so Wixfort, Durchsuchungen und Telekommunikationsüberwachungen (TKÜ) gegen S. richterlich genehmigt zu bekommen. Dem Richter hätte sich ein „konkreter Tatverdacht“ nur „zögerlich“ erschlossen. Vielleicht wäre es rückblickend ja schneller gegangen, wenn die „EK Acker“ recherchiert hätte, dass S. während seiner vierjährigen Bundeswehrzeit eine Sprengstoffausbildung genossen hatte und sich mit Sprengfallen auskannte. Ob auch der MAD dazu etwas hätte beitragen können, ist unbekannt. „Da der benutzte Sprengstoff laut nicht dementierten Presseberichten aus Bundeswehrbeständen stammt“, sei es „höchst merkwürdig“, so das „Antifaschistische Infoblatt“ damals (Ausgabe 51 vom 21.08.2000 [1]), „dass diese Spur zu keinerlei Ermittlungsergebnissen geführt“ habe. Ein Gutachten stellte bezüglich der Fertigung des Sprengsatzes eine „erhebliche Sachkunde“ fest, auch „die beim Schweißen entstandenen Nähte“ seien „fachmännisch bei 800 Grad gehärtet worden“. S. war des Schweißens mächtig und verfügte zur Tatzeit über ein Schweißgerät, wie von den Ermittlungsbehörden im Februar 2017 bekannt gegeben wurde. Wie lange das schon bekannt war, verrieten sie nicht.

Der zweite Anlauf

Im Frühjahr 2002 fasste die Staatsanwaltschaft zusammen, dass sich keine „objektivierbaren Anhaltspunkte für eine Beteiligung“ von S. „an der Straftat“ ergeben hätten. Dieser sei „offenbar nicht in der Lage“ gewesen, „ausgefallene Gegenstände aus dem Waffenbereich herzustellen oder auf Bestellung zu besorgen“. Die Spur S. wurde aufgegeben. Ein extrem rechter Hintergrund des Wehrhahn-Anschlags war damit aus dem Rennen. Stattdessen liebäugelte die „EK Acker“ offenbar mit dem Tathintergrund „osteuropäische organisierte Kriminalität“, ohne hierbei Ergebnisse erzielen zu können.

Ende 2014 wurde dann hinter den Kulissen die „EK Furche“ eingerichtet. Anlass für ihre Einrichtung war, dass sich Ralf S. während der Verbüßung einer Haftstrafe im Herbst 2014 gegenüber einem Mithäftling damit gebrüstet hatte, den Wehrhahn-Anschlag begangen zu haben und hierbei Täterwissen präsentiert hatte. Die „EK Furche“ unter der Führung des Leiters des Polizeilichen Staatsschutzes und ehemaligen Mordkommissionsleiters Udo Moll bemühte sich von nun an mangels Beweisen um eine „geschlossene Indizienkette“, um eine Anklage zu ermöglichen. Um hierbei nicht vom zwischenzeitlich eingerichteten PUA behindert zu werden, wurde mit diesem eine Art Geheimabkommen geschlossen. Der PUA zögerte die Behandlung des Themas „Wehrhahn“ so lange hinaus, bis der „Zugriff“ erfolgt war, hatte aber offenbar nicht damit gerechnet, dass dies so lange dauern würde. Für eine gründliche „Untersuchung eines möglichen Fehlverhaltens nordrhein-westfälischer Sicherheits- und Justizbehörden einschließlich der zuständigen Ministerien und der Staatskanzlei und anderer Verantwortlicher“ im Fall „Wehrhahn-Anschlag“ blieb angesichts der Landtagswahlen im Mai 2017 kaum noch Zeit.

Hinweise auf einen Zusammenhang mit dem NSU haben die beiden EK nicht entdecken können, Staatsanwaltschaft und EK-Leiter sind sich aber sicher, dass „der Richtige“ dingfest gemacht wurde. Man sei ab 2014 alle Akten noch einmal durchgegangen, habe alle Zeug_innen von damals noch einmal verhört und auch neue Zeug_innen ausfindig gemacht. Damals nicht sehr aussagefreudige Personen wären mit Abstand zum Tatgeschehen und zu S. gesprächiger und glaubwürdiger gewesen. Ein Alibi, so Oberstaatsanwalt Ralf Herrenbrück auf der 53. PUA-Sitzung, habe S. ohnehin nie gehabt. „Es habe sich allein um die Schilderung des Tagesablaufs des Beschuldigten gehandelt“, notierte NSU-Watch NRW das Gesagte: „Es habe auch niemand ein Alibi widerrufen, da es keins gegeben habe. Es sei darum gegangen, ob die Tat mit dem geschilderten Zeitablauf vereinbar gewesen wäre, es sei schwierig gewesen, Ralf S. um 15.03 Uhr an den Tatort zu kriegen.“

Zum Motiv für die Wahl der Opfer führten die Ermittlungsbehörden Anfang Februar einen Vorfall im Herbst 1999 an. In einem direkt gegenüber dem Ladenlokal von S. gelegenen Gebäude habe ein ASG-Sprachkurs stattgefunden. Zwei bis heute nicht identifizierbare Neonazis aus dem direkten Umfeld von S. hätten die Sprachschüler_innen über einen längeren Zeitraum belästigt und bedroht – bis sich diese erfolgreich zur Wehr gesetzt hätten. Dieser Vorfall sei für S. der Auslöser für die Planung der Tat gewesen. Das Geschehen 1999 war auch der „EK Acker“ bekannt gewesen, diese hatte es aber aufgrund des „großen zeitlichen Abstands“ zum Anschlag nicht in Verbindung mit der Tat gebracht. Und das obwohl eine der Sprachlehrerinnen mehrfach auf einen möglichen Zusammenhang aufmerksam gemacht hatte.

V-Mann „Apollo“

Den Aussagen der beiden EK-Leiter „Acker“ und „Furche“ zufolge haben die Verfassungsschutzämter nicht zu einer möglichen Aufklärung beitragen können. Allerdings fand Anfang 2012 – und damit über elf Jahre nach dem Anschlag und kurz nach der Selbstenttarnung des NSU – ein Gespräch zwischen dem VS NRW und dem temporär reaktivierten Dietmar Wixfort statt. Das Stattfinden des Gesprächs wurde auf der 52. PUA-Sitzung kurz thematisiert, nicht aber der Inhalt. Darüber müsse in nichtöffentlicher Sitzung gesprochen werden, so der Ausschussvorsitzende Sven Wolf (SPD). Vier Tage später enthüllte dann „Der Spiegel“, dass es 1999/2000 einen V-Mann des NRW-Landesamts im direkten Umfeld von S. gegeben habe, der „im Sommer 2000 als Wachmann für den Rechtsextremisten“ gearbeitet habe. Als V-Mann tätig gewesen sein soll M. alias „Apollo“ von August 1999 bis Mai 2000, habe aber offenbar nur „Substanzfreies“ geliefert. „Allerdings halten sich in Sicherheitskreisen Zweifel“, so „Der Spiegel“, „ob der Informant tatsächlich im Frühjahr 2000 abgeschaltet worden war. Ein V-Mann-Führer will sich nämlich auch später noch mit seinem Schützling getroffen haben: Er sei ‚zur Tatzeit‘ mit M. zusammengewesen, der im Hafen Flugblätter verteilt habe.“ Düsseldorfer Antifaschist_innen teilten am 12. Februar 2017 in einer Pressemitteilung mit, M. sei „an diversen Aktionen der Kameradschaft Düsseldorf beteiligt“ und „auch in der Düsseldorfer Fußballfanszene als Neonazi bekannt“ gewesen, leicht zu erkennen an seinem „Blood & Honour“-Tattoo über dem linken Ohr. Bei polizeilichen Vernehmungen hatte M. wiederholt angegeben, nichts über die Hintergründe des Wehrhahn-Anschlags zu wissen.

Was bleibt?

„EK Furche“ und Staatsanwaltschaft gehen davon aus, dass S. die Tat zwar alleine durchgeführt hat, aber dass es „Mitwisser“ gegeben haben könnte. Zu erwarten ist, dass während des anstehenden Strafprozesses Zeug_innen präsentiert werden, die angesichts von Verjährungsfristen mehr oder weniger freiwillig zu bekunden wissen, dass ihnen S. von der Tat berichtet hatte beziehungsweise dass sie rückblickend Gehörtes oder Gesehenes anders interpretieren würden, als sie das damals getan hatten. Spannend ist, ob sich auch Sven Skoda unter ihnen befinden wird. Möglicherweise ist die Staatsanwaltschaft auf solche Aussagen auch angewiesen, um ihre angeblich „geschlossene Indizienkette“ bruchsicher zu machen. Ein Freispruch für S. käme einem Desaster gleich.

Unterzugehen droht die Aufklärung der Rolle der Inlandsgeheimdienste. „Lagen dem VS tatsächlich keine Hinweise auf den Anschlag vor? Oder gibt es Gründe zu der Annahme, dass V-Mann M[...] ihm bekannte Hinweise auf den Täter nicht weitergegeben hat?“, fragen Düsseldorfer Antifaschist_innen: „Es wäre Aufgabe des Parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschusses in NRW oder eines neu einzurichtenden Untersuchungsausschusses zum Komplex Wehrhahn-Anschlag, Antworten auf diese Fragen zu finden.“

ALEXANDER BREKEMANN und JUDITH KIPP

Bei dem Artikel handelt es sich um eine von den Autor_innen überarbeitete Version eines Beitrags in „analyse und kritik“ (ak-Ausgabe 624, 21.2.2017).

Zum Weiterlesen:
https://nrw.nsu-watch.info/?s=Wehrhahn
https://www.antifainfoblatt.de/artikel/keine-neonazi-strukturen-erkennbar-terrortown-düsseldorf