Pandoras Büchse

oder:

Die Anti-AKW-Bewegung hat (immer noch) recht

Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten in NRW ist es eine Meldung wert: Im Dreiländereck, kurz hinter Aachen, knapp 100 Kilometer süd-westlich von Düsseldorf, steht auf belgischer Seite in Tihange ein vor sich hin rottendes Atomkraftwerk – in trotz Sicherheitsbedenken bald wieder voller Nutzung. Die Büchse der Pandora direkt vor der Haustür. Die Städteregion Aachen hat jüngst beschlossen, gegen jeden weiteren Betrieb des AKW zu klagen. Zeit, sich über Geschichte und Perspektiven einer autonomen Anti-AKW-Bewegung Gedanken zu machen. Das Herausgeber*innen-Kollektiv Tresantis bringt hierzu Anregendes zusammen.

Der Weg der Klage war es nie. Ein großer Teil der Anti-AKW-Bewegung beruhte vielmehr auf Selbstorganisation und auf direkter Aktion an den Zufahrtswegen bis hin zu gelegentlicher Militanz an den Bauzäunen. Mit dem Ende 2015 erschienenen Buch „Die Anti-AKW-Bewegung“ hat das Schreib- und Herausgeber*innen-Kollektiv Tresantis jetzt einen druckfrischen, wichtigen Beitrag zur Geschichte und Praxis jenes Teils des anti-atomaren Protestes vorgelegt, der nicht Bestandteil der Eventindustrie der großen Campaigning-Strukturen aus Umwelt- und Naturschutzorganisationen oder Kapitalismus- und Lobby-kritischen Organisationen wie BUND, campact oder attac ist[1]. Damit ist eine empfindliche Lücke zur Bewegungsgeschichte gefüllt, die hilft zu begreifen, was es heißt, gegen Atomkraft und gegen eine auf Nukleartechnik fußende Energiepolitik eingetreten und standhaft geblieben zu sein. Das anonyme Tresantis-Herausgeber*innen-Kollektiv umfasst laut Verlagswebsite „Querköpfe, die an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten eng mit dem Widerstand gegen Atomanlagen verbunden waren und sind.“

Es berichtet über „Geschichte und Perspektiven“ der Anti-Atom-Bewegung für den Zeitraum von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart. Und eben diese vergangenen und gegenwärtigen Bewegungs-Strukturen und Impulse waren und sind bis heute geprägt von lebendiger, bisweilen auch reibungsvoller Vielfalt – standen gleichsam unter dem Tenor: „Nie zuvor waren die Mittel des Kampfes so unterschiedlich, umfassend und fantasievoll. Nie zuvor beteiligten sich so viele an Info- und Aufklärungsaktionen, strömten zu Demos, kämpften an Bauzäunen, besetzten Bauplätze und blockierten Transportwege.“ Eben diese Vielschichtigkeit der Bezüge von Akteur*innen und Mittel findet auch Ausdruck in dem knapp 400 Seiten starken Sammelband. Denn hier wechseln sich analytische und historische Artikel mit Zeitzeugenberichten ab. Gerade diese Mischung macht den Charakter eines Lesebuches aus, das die verschiedensten Standpunkte und Einschätzungen aufgreift, Bruchkanten mitdenkt und Entwicklungslinien sichtbar macht. So finden sich Berichte über illegale, aber trotzdem sehr folgenreiche Aktionen ebenso wie Texte über den politischen Horizont und die Perspektiven der Anti-AKW-Bewegung. Reimar Paul berichtet zum Beispiel über die heute nahezu vergessenen Debatten und Konflikte zwischen der Anti-AKW-Bewegung und den „Grünen“, die bereits mit der Gründung der Partei beginnen.

Das Buch berichtet über einen großen Zeitraum hinweg vom breiten Spektrum der Kämpfe, der Vielfalt der Protestformen – freilich mit einem Schwerpunkt auf militanten und auch illegalen Aktionen – und lässt damalige und heutige Protagonist*innen selbst zu Wort kommen. So wird von Bus- und Autokonvois mit mehreren tausend Personen berichtet, die gemeinsam zu Demonstrationen, etwa nach Brokdorf oder Kalkar fuhren. Das Buch beginnt mit Wyhl, dem Ort, an dem der Kampf gegen AKWs begann. Um sich dann, von Berichten über den Kampf gegen die dann nicht gebaute Wiederaufbereitungsanlage im bayrischen Wackersdorf abgesehen, vor allem mit den Kämpfen in Norddeutschland zu beschäftigen (Brokdorf, Gorleben[2], aber auch Kalkar und Grohnde).

Die Analysen und Momentaufnahmen in „Die Anti-Atom-Bewegung“ bleiben aber zuletzt vor allem nicht bei einem – spannenden und spannungsreichen – Rückblick stehen. Vielmehr formulieren die Autor*innen auch einen Ausblick auf die Zukunft der Atompolitik („Es gibt keinen Atomausstieg“) und die zu erwartenden neuen Auseinandersetzungen. Ob allerdings die Erfahrungen der sozialen Bewegungen der 1980er Jahre der zurzeit sehr schwächelnden Anti-AKW-Bewegung neuen Elan einhauchen oder für die (kommenden) Kämpfe etwa für Klimagerechtigkeit oder gegen die Kohle bedeutsam sein können, das kann und wird erst die Praxis und die Zukunft zeigen.

Bernd Hüttner

[1]  1997 erschien, herausgegeben von der Redaktion der 1994 eingestellten sehr wichtigen Zeitschrift Atom Express : „...und auch nicht anderswo! Die Geschichte der Anti-AKW-Bewegung“ (288 Seiten, ISBN: 978-3-89533-186-2). Das Buch „Atomkraft – nein danke! Der lange Weg zum Ausstieg“ von Wolfgang Sternstein (Frankfurt a.M. 2013) ist eher ärgerlich, da es borniert-gewaltfrei ist und der Ausstiegslüge auf den Leim geht.
[2]  http://www.gorleben-archiv.de

Die Anti-Atom-Bewegung
Geschichte und Perspektiven

Tresantis (Hg.):
Verlag Assoziation A,
ISBN 978-3-86241-446-8
10/2015, 384 Seiten, 24,80 EUR
http://www.assoziation-a.de/buch/Anti-Atom-Bewegung