Gib’ der Ratte Zucker

Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) zum sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) schaufelte sich im Mai und Juni durch Themen und Sitzungstermine. Wenn der Ausschuss bisher vor allem Wut bei all jenen auslöste, die auf handfeste Antworten zur Aufklärung der Hintergründe und Netzwerke des NSU und zur (bewusst?) fehlerhaften Ermittlungs- und Aufklärungsarbeit von Polizei, Justiz und Politik hofften, gab es jetzt zum ersten Mal den Hauch einer neuen Erkenntnis: Diabetes geht auch ohne Kranksein und das Bundesamt für Verfassungsschutz steckt knietief in Erklärungsnot.

Seit nunmehr über einem Jahr ‚verhören‘ die Ausschussmitglieder der Landtagsfraktionen von SPD, CDU, FDP, Grünen und Piraten im NRW-Untersuchungsausschuss zum sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund Zeuginnen und Zeugen, die Auskunft über die Netzwerke, die Taten und Unterstützungsstrukturen im und um den NSU herum geben könnten. Auch politische Entscheidungen und Verantwortlichkeiten werden abgeklopft. Wie kam es etwa nur wenige Stunden nach dem Nagelbombenanschlag auf der Kölner Keupstraße im Juni 2004 zu der innenministeriellen Sprachregelung, dass in der Ermittlungskorrespondenz jegliche Hinweise darauf, dass der Anschlag einen (rechts-)terroristischen Hintergrund gehabt haben könnte, getilgt wurden? Und natürlich sollen – dem selbstgesetzten Einsetzungsbeschluss und Aufklärungsauftrag gemäß – auch Mitarbeiter*innen der Ermittlungs-, Strafverfolgungs- und Nachrichtendienstbehörden Aussagen über ihre Arbeit, ihre Erkenntnisse und Schlussfolgerungen machen. Schließlich geht es dem Untersuchungsausschuss auch um die Frage, was eben jene Behörden früher oder besser hätten wissen können und müssen und ob die Täter*innen nicht weit vor der sogenannten Selbstenttarnung des NSU im November 2011 hätten dingfest gemacht werden können.

Über ein Jahr lang war die ‚Verhör‘-Technik der Ausschussmitglieder dabei bisher allerdings in beinahe jeder Sitzung mehr oder weniger problematisch. Zu „pomadig“ - hieße es vermutlich im Fußball-Jargon. Hakten die PUA-Mitglieder im Ausschuss doch in den seltensten Fällen an entscheidender Stelle nach oder ließen Hohlphrasen à la „da kann ich mich nicht dran erinnern“ oder „dafür war ich nicht zuständig“ regelmäßig durchgehen (TERZ 05.16). Doch zuletzt sollte der Geduldsfaden, der bisher allzu elastisch schien, deutlich dünner werden: Vor allem der Ausschuss-Vorsitzende Sven Wolf (SPD) machte seiner Verärgerung unlängst häufiger Luft, kritisierte, dass etwa das Bundesamt für Verfassungsschutz dem Ausschuss Akten vorenthalte. Auch gegenüber Kripo-Beamt*innen und Staatschützern, die im PUA angaben, sich an den Hauch eines Nichts erinnern zu können, trat Wolf deutlich durchsetzungswilliger auf als in den vergangenen Monaten. Die dem Ausschuss zur Verfügung stehende Autorität ließ er allerdings nur im Falle des Zeugen Toni Stadler, des ehemaligen V-Mannes des thüringischen Verfassungsschutzes zur Wirkung kommen. Stadler, der eine vorhergehende Ladung des PUA durch Nichterscheinen missachtet hatte, wurde am 27. April 2016 zu seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss polizeilich vorgeführt. Auch muss Stadler ein Ordnungsgeld zahlen.

... kam der aus Köln?“

So waren die meisten der bisher 44 Ausschuss-Sitzungen bestens geeignet, wütend zu werden. Wütend über die Stirn, die einige der Zeug*innen haben, wenn sie von ihren eigenen Ermittlungen sprechen. Strotzen diese mitunter doch von Fehlern. Fehlern in einer Größenordnung, bei denen es schon als Ehrenrettung gewertet werden kann, wenn wir den Zeuginnen und Zeugen ‚nur‘ Absicht unterstellen. Denn was nicht absichtlich ist, dass kann nur Dummheit sein. Oder Ignoranz. Oder beides. Schlimmstenfalls aber alles drei zusammen.

Zuletzt stöhnten die Abgeordneten und vor allem die wenigen Zuschauerinnen und Zuschauer im Sitzungssaal nahezu vor Schmerzen auf bei der Zeugenaussage von Kriminalhauptkommissar Szemmeitat. Dieser hatte im Polizeipräsidium Köln den Auftrag, die Spurenauswertung zum Nagelbombenanschlag auf die Keupstraße voranzutreiben. Szemmeitat ist es auch, dessen Name unter einem 2005 verfassten Abschluss-Vermerk zur Auswertung des inzwischen weitbekannten Berichtes von Scotland Yard steht. Im Dezember 2005 hatte die britische Polizei ein 80 Seiten starkes Dossier erstellt, mit dem sie die deutschen Kolleg*innen in deren Ermittlungsarbeit zum Keupstraßen-Anschlag auf den Attentäter David Copeland aufmerksam machen wollten. Der britische Neonazi Copeland hatte im Frühling 1999 innerhalb weniger Tage drei Sprengstoffattentate im Londoner Stadtgebiet ausgeführt und dabei vor allem Straßen als Tatorte ausgewählt, in denen sich für gewöhnlich vor allem Menschen aufhielten, die Copeland aus rassistischen, schwulenfeindlichen und extrem rechten Motiven angreifen wollte. Offensichtlich sah Scotland Yard Parallelen zum Keupstraßen-Anschlag. Der britische Polizei-Bericht war im Dezember 2005 zweifellos als Anregung an die deutschen Kolleg*innen gedacht, die Ermittlungen in Richtung „Hasskriminalität“ und „politisch motivierte Kriminalität rechts“ nicht auszuschließen.

Im Untersuchungsausschuss wurde in der Vernehmung des Polizeibeamten Szemmeitat nun deutlich, dass dieser den Scotland-Yard-Bericht seinerzeit nicht einmal gelesen hatte, sein Englisch sei nach dessen Aussage hierfür auch nicht gut genug gewesen. Wohl aber hatte Szemmeitat nur fünf Tage nach Eintreffen des Scotland Yard Dossiers im Kölner Polizeipräsidium am 19.12.2005 bereits den Abschluss-Bericht zur Bewertung dieser „Spur“ unterzeichnet. Sein Fazit: Die Spur führe nicht weiter, Copeland sei schließlich wegen seiner Taten inhaftiert und könne den Anschlag in der Keupstraße nicht ausgeführt haben!

Und als sei diese so banale wie himmelschreiend falsche Einschätzung nicht bereits Hohn genug, verblüffte der Zeuge im Ausschuss auch noch durch eine an Naivität kaum zu überbietende Aussage. Gefragt, was ihm der Name Copeland heute, 11 Jahre, nachdem er die Spuren-Bewertung unterzeichnet hatte, sage, antwortete Szemmeitat doch tatsächlich: „Copeland? – Das sagt mir gar nichts, kam der aus Köln?“

So hat der NSU-Untersuchungsausschuss im Düsseldorfer Landtag in diesem Frühling einmal mehr gezeigt, dass es - wie überraschend - tatsächlich gravierende Fehler und Verweigerungshaltungen waren, die die Ermittlungen zum Keupstraßen-Anschlag zum bitteren Treppenwitz der Geschichte werden ließen. Es bleibt zu hoffen, dass der Untersuchungsausschuss diesbezüglich in seinem Abschluss-Bericht hierzu die richtigen Worte findet. Es ist fraglos Zeit, diese – für die Polizei peinliche, für die Betroffenen unfassbare – Entblödung und Ignoranz als solche zu benennen.

Vacor statt Zuckerwasser

Im Juni 2016 kamen im Untersuchungsausschuss, der in Fragen neuer Erkenntnisse bislang nicht über die frustrierenden Zusammenhänge zum Unwillen und der Unfähigkeit der NRW-Polizei, -Justiz, und -VS-Strukturen hinaus gekommen ist, allerdings dann doch ein paar Neuigkeiten zu Tage. Sie haben durchaus das Zeug dazu, einen weiteren Aspekt in der Neubewertung der Neonazi-Strukturen in NRW und ihrer willigen Helfer des Verfassungsschutzes taghell auszuleuchten. Denn der NRW-Untersuchungsausschuss war es tatsächlich, der im Juni wahrlich neue Erkenntnisse zum Verfassungsschutz-Sumpf rund um den NSU hervorbrachte.

Die Causa „Corelli“

„Corelli“, das ist der Tarnname von Thomas Richter. Der Neonazi Richter war zwei Jahrzehnte lang Spitzel des Bundesamtes für Verfassungsschutzes (BfV). Mitte der 1990er Jahre hatte er Kontakt zu Uwe Mundlos und übergab dem BfV eine CD mit dem Titel „NSU/NSDAP“. Kurz bevor er im April 2014 zu der CD befragt werden sollte, wurde er von seinem Vermieter und zwei BfV-Mitarbeiter*innen tot in seiner Paderborner Wohnung aufgefunden, wo er unter neuem Namen gelebt hatte. Nach der Selbstenttarnung des sog. NSU hatte das BfV Richter als V-Person abgeschaltet und ihn mit einer Inkognito-Existenz als Szene-Verräter schützen wollen. Erst vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass schon 2015 im Panzerschrank von Richters V-Mann-Führer ein bislang nicht bekanntes Handy und verschiedene SIM-Karten von „Corelli“ gefunden wurden.

Am 2. Juni hörten die Ausschuss-Mitglieder im PUA nun den Diabetologen Prof. Dr. Werner Scherbaum. Scherbaum hatte 2014 ein Gutachten zu den möglichen Todesursachen erstellt. Sein Ergebnis damals: „Corelli“ sei an einer unerkannten Diabetes verstorben.

Heute, im Juni 2016, kam derselbe Experte Scherbaum indes zu einer anderen Interpretation. Die unabhängige Dokumentations- und Recherche-Initiative NSU-Watch NRW fasst zusammen:

„Die Aussage des Diabetes-Experten stellt die bisherige Annahme, dass das hyperglykämische Koma [...] durch eine unerkannte Diabetes-Erkrankung ausgelöst worden sei, in Frage. Die tödliche Stoffwechselentgleisung könnte theoretisch auch durch eine Vergiftung mit dem Rattengift Vacor ausgelöst worden sein. Eine Dosis von 0,4 bis 0,7 mg des Giftes, das auch geschluckt werden könne, zerstört nach Angaben des Mediziners die Pankreas-Inseln in der Bauchspeicheldrüse, wodurch die Insulinproduktion unterbunden wird. Dies führt dann zur Übersäuerung des Blutes und zur tödlich verlaufenden diabetischen Ketozidose.

Der Zeuge Prof. Dr. Scherbaum revidierte damit die zentrale Aussage seines 2014 im Auftrag der Staatsanwaltschaft Paderborn erstellten Gutachtens, wonach es keine Substanz gäbe, die ein hyperglykämisches Koma auslösen könne. Vor dem Untersuchungsausschuss erklärte Scherbaum nun, dass er die Aussage seines Gutachtens von 2014 heute nicht mehr treffen würde. Er könne nicht mit 100-prozentigen Sicherheit ausschließen, dass Thomas Richter nicht an dieser verabreichten Substanz gestorben ist, so Scherbaum im Landtag.“

„Todesermittlungsverfahren“

Am 23. Juni befragte der PUA nun auch den Staatsanwalt, der 2014 den Tod von „Corelli“ untersucht hatte. Keine Zweifel hätten für ihn damals bestanden, dass es sich eigentlich um ein ‚normales‘ Todesermittlungsverfahren gehandelt habe. Allein die Tatsache, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz sehr schnell die Finger in den Ermittlungen hatte, führte dazu, dass Ralf Meyer als Abteilungsleiter der Staatsanwaltschaft Paderborn seinerzeit die Ermittlungen übernahm. Immerhin, so blieb in der Ausschuss-Sitzung nach der Aussage Meyers hängen, hätte es ja sein können(!), dass dieser brisante ‚Fall‘ des toten V-Mannes irgendwann noch einmal gerade wegen der Spitzel-Identität des Toten an Bedeutung gewänne. Immerhin: Hier scheint der Staatsanwalt die Geisteskraft der Vorahnung gehabt zu haben. Denn mit der Aussage des Mediziners Scherbaum steht tatsächlich in Frage, ob Thomas Richter nicht etwa doch ermordet wurde.

Und folgen wir Meyers Ausführungen vor dem PUA, hätte das Bundesamt für Verfassungsschutz den ‚Fall‘ „Corelli“ am allerliebsten schon 2014 ganz verschwinden lassen. Schließlich habe das BfV nach Meyers Aussage angeregt, Thomas Richters Leichnam unter seinem Tarnnamen – letztlich also unter falscher Identität – bestatten zu lassen. Richter wäre auf diese Weise einfach verschwunden, niemand hätte erfahren, dass er tot ist. Bis heute ist Meyer davon überzeugt, dass das BfV mit dieser Taktik des Verbuddelns vor allem die Arbeitsweise des Geheimdienstes vor fremden Blicken schützen wollte. Als ob die Praxis, abgestellte Quellen mit einer neuen Identität auszustatten, jemals noch irgendwen überraschen könnte. Dass Richter in einem Grab unter fremdem Namen aber schlichtweg verschwunden gewesen wäre, mag ein weitaus besserer Grund dafür gewesen sein, dass das BfV die Beerdigung rasch durchziehen wollte, ganz gleich ob etwa irgendein*e Anverwandte*r den ‚echten‘ Thomas Richter irgendwann einmal vermissen würde. Seinerzeit wollte Meyer indes in seiner Funktion als Staatsanwalt rechtlich prüfen lassen, ob eine derart ‚anonyme‘ Bestattung überhaupt möglich sei.

So weit kam es 2014 aber nicht. Denn nur wenige Tage nach dem Tod von Thomas Richter alias „Corelli“ berichteten die Medien über das mehr als überraschende Ableben des ehemaligen V-Mannes. Ihn unter einem anderen Namen zu verscharren, war nun nicht mehr möglich.

Irgendwie untot ist „Corelli“ nun, im Sommer 2016, allerdings einmal mehr. Denn nur zwei Wochen, nachdem der damalige medizinische Gutachter Scherbaum das Rattengift heute als möglichen Auslöser des Zucker-Komas im Ausschuss in Erwägung zog, ist die Causa Richter wieder sehr aktuell. Die Staatsanwaltschaft Paderborn hat am 21. Juni verlautbart, dass sie die Ermittlungen zum Tod des V-Mannes wieder aufnimmt. Prüfen will sie nun zunächst, welches Institut die toxikologischen Untersuchungen vornehmen könnte. Und auch wenn das Rattengift Vacor seit 1979 eigentlich nicht mehr käuflich zu erwerben ist, muss dies nicht heißen, dass der Nazi und Spitzel nicht ermordet wurde.

Vielleicht wird die Wiederaufnahme des „Todesermittlungsverfahrens“ zum Ableben des V-Mannes Richter das einzig Neue sein, das der Untersuchungsausschuss sich in sein Fleiß-Heftchen schreiben kann. Hier muss niemand zwischen den Zeilen lesen. Niemand muss die Struktur differenziert in Frage stellen. Rattengift bleibt Rattengift – ganz einfach. Vergessen werden wir darüber hinaus aber nicht, dass es nicht immer der so einfachen Gleichung Gift = Mord bedarf, um eine Tat zur Tat zu machen. Auch Nichtstun, Wegschauen, Dumm-Stellen, kurz: Ignoranz und Hochmut können Übelkeit hervorrufen und Ursachen beschreiben. Polizei-Beamt*innen, Strafermittlungs- und VS-Mitarbeiter*innen und politisch Verantwortliche haben es im Untersuchungsausschuss gezeigt.

Und damit das klar ist: We will watch you!