TERZ 09.16 – BOOKS
„A Typical Girl“ von Viviane Albertine und „Hunger Makes Me a Modern Girl“ von Carrie Brownstein
Als ob die Gegenwartsbewältigung nicht schon aufreibend genug wäre, jährt sich ständig irgendwas. Schon jetzt droht 2018, wenn Uschi Obermaier oder Daniel Cohn-Bendit wieder „die ‘68er“ erklären müssen. Naja, dieses Jahr also 40 Jahre Punk. Ist es Kalkül, wenn Viviane Albertine ihre Memoiren ausgerechnet im Jubiläumsjahr veröffentlicht? Hm, eigentlich kam „Clothes Clothes Clothes, Music Music Music, Boys Boys Boys“ ja schon 2014 raus. Nur die deutsche Übersetzung hat etwas länger gebraucht und mit „A Typical Girl“ einen gelungenen Titel gefuden. Er lehnt sich an den Song „Typical Girls“ von The Slits an, deren Gitarristin Albertine von 1977 bis 1981 war. Auf das Buch gab es allerorten viel Lobeshymnen, von Jungle World über Spiegel bis hin zur Welt, jüngst zog es Campino, als er sich für Arte auf die „Spuren des Punk“ begeben hat, aus dem Regal eines Londoner Buchladens. Doch das Buch ist wirklich gut! Weil es ohne Klischees und Verklärungen auskommt und beschreibt, wie man mit (trotz? dank?) Punk-Attitüde altern, sich weiterentwickeln kann, ohne zur musealen Anekdotenerzählerin à la „Das waren noch Zeiten“ zu werden. Zugegeben, in den Memoiren wimmelt es nur so von Namedropping, aber Albertine heroisiert nichts und niemanden, sondern erzählt von teils ätzenden, teils inspirierenden Personen, die zufällig zu Protagonist*innen des Punk wurden. Sie verbrachte ihre jungen Jahre im London der ersten Punkkonzerte, in einschlägigen Clubs, Squats, in Vivienne Westwoods und Malcolm McLarens Klamottenladen „Sex“ (der Klamottenkauf war dort selten, weil teuer), hatte eine On-Off-Beziehung mit Mick Jones von The Clash, war kurze Zeit in einer Band mit Sid Vicious, fand aber schließlich zu ihrer Girlgang, den Slits. Spätestens ab dann ging es für Albertine auch darum, sich als Frau-mit-Instrument-in-Frauen-Band behaupten zu müssen: vor einem Publikum (es gibt ein Wahnsinnsfoto, auf dem Sängerin Ari Up und Albertine sich mit skinheadigen Konzertbesuchern prügeln) oder vor Musikbranchen-Männern, die, wenn sie „Nein, das wollen wir anders machen“ hören, „Nein, ich möchte nicht mit dir schlafen“ verstehen. Doch es gibt tatsächlich auch ein Leben nach dem Sturm-und-Drang! Nach fast zwei Jahrzehnten Rückzug ins Häusliche findet sie zum Musik-Machen zurück, blamiert sich ein paar Mal auf Open-Mic-Abenden, tourt dann aber recht bald als Solo-Musikerin. Eines dieser Konzerte besucht Carrie Brownstein und zählt es zu den „punkest things“ die sie seit langem gesehen hat, weil Albertine völlig angstfrei das verkörpert, was auf der Bühne nicht sooo gefragt ist: weiblich, jenseits der 50, singt sie von den Fallen des Mutter-, Haus- und Ehefrau-Seins. Brownstein ihrerseits hat letztes Jahr ihre mindestens ebenso reflektierten Memoiren „Hunger Makes Me a Modern Girl“ veröffentlicht. Auch dieser Titel ist eine Referenz an einen Song ihrer Band Sleater-Kinney, die in den 1990er Jahren der Riot Grrrl/Indie/Punk/DIY-Atmosphäre im Nordwesten der USA entwuchs. Wie bei Albertine besticht die witzige und ehrliche Auseinandersetzung mit sich selbst und „der Szene“. Brownsteins Memoiren eignen sich bestens als Studie über Underground- und Politszenen, in denen der Horror vor Vereinnahmung durch den Mainstream undurchschaubare Codes, Exklusivitäten und Exklusionen hervorbringt. Ihr Biotop war die alternative Glocke in Olympia, unter der Solidarität oft durch Betonung der Unterschiede flöten ging: Wenn Personen sich marginalisiert wähnten, gründeten sie kurzum ihre eigene kleine Szene mit Fanzine und Band, anstatt nach Koalitionen zu suchen. Neben den üblichen, aber unverzichtbaren Geschichten über Liebe (unerwiderte und zerbrochene), Peinlichkeiten (wenn Brownstein nach erfolglosem Casting als Gitarristin bei 7 Year Bitch der Band einen weinerlichen Bettelbrief schreibt), Krisen (Sleater-Kinney aufgelöst, Sleater-Kinney wiedervereint) und körperlichen Zusammenbrüchen (gerne auf Tour) geben die Memoiren eine Idee vom „modernen Frauenleben“: Albertine und Brownstein folgen ohne Furcht vor Missachtung von Geschlechterrollen und standardisierten Lebensentwürfen den eigenen Obsessionen, lassen sich von Bedenkenträger*innen nicht fremdbestimmen und von (teilweise derben) Rückschlägen nicht einschüchtern. Auf das ihnen viele Gitarristinnen folgen mögen!