Tatort Flughafen

Abschiebekultur

Willkommenskultur war gestern, inzwischen geht alles wieder seinen normalen Abschottungsgang. In der Folge steigt auch die Zahl der Abschiebungen drastisch. Nicht einmal schwere Krankheiten verschonen vor der „Rückführung“.

Da steht sich der Kapitalismus aber wieder mal gehörig selbst im Weg. Wie im verstaubtesten Lehrbuch des dialektischen Materialismus produziert die Wirtschaftsordnung Widersprüche, die das Business as usual gefährden. So propagiert sie einerseits vollmundig den freien Warenverkehr und streitet gegen Zoll-Grenzen und „nicht-tarifäre Handelshemmnisse“, wie aktuell im Zuge der Verhandlungen über das TTIP-Abkommen, bekämpft andererseits aber den freien Personenverkehr mit allen Mitteln. „Über euer scheiß Mittelmeer käm ich, wenn ich ein Turnschuh wär“, stoßseufzt deshalb ein Migrationswilliger in einem Song der Goldenen Zitronen.

Nur in einem kurzen Herbst der Anarchie hat die Bundesregierung Menschen mal so nett wie Waren behandeln wollen. Doch längst schon haben CDU und SPD den Abschied von der Willkommenskultur vollzogen. Die Große Koalition schafft immer mehr „sichere Herkunftsländer“, erkor die Türkei zum Vorposten der Flüchtlingsabwehr aus, verstärkte die Grenzsicherung und verschärfte die Asyl-Gesetzgebung gleich zweimal weiter.

„Für die nächsten Monate ist das Wichtigste: Rückführung, Rückführung und noch mal Rückführung“, gab Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer CDU-Fraktionssitzung Anfang September als Devise aus. Den Ausländer*innen-Behörden hätte sie dies nicht erst zu sagen brauchen. Diese schieben schon seit einiger Zeit so fleißig ab wie nie. Allein Nordrhein-Westfalen verfrachtete 2015 4.395 Asylbewerber*innen zurück in ihre Herkunftsländer; 2014 lag die Zahl noch bei 2.929. Und 2016 droht ein weiterer Rekord: 2.625 Personen mussten im ersten Halbjahr bereits zwangsweise die Heimreise antreten. Und dazu kommen noch die rund 11.000 „freiwilligen“ Rückkehrer*innen. „Mit Sorge beobachten wir, dass humanitäre Standards, die bisher gegolten haben, angesichts der hohen Zahl an Abschiebungen und der verschärften Gesetzes-Lage in den Hintergrund rücken“, sagt deshalb Helga Siemens-Weibring, die Beauftragte für Sozialpolitik der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe. Die Abschiebungsbeobachterin am Flughafen Düsseldorf, Dalia Höhne, kritisiert besonders, „dass zunehmend Flüchtlinge abgeschoben werden, die offensichtlich krank, schwer traumatisiert oder suizid-gefährdet sind“. Nach Angaben der Diakonie wurden Migrant*innen von bewaffneten Beamt*innen sogar schon aus geschlossenen Psychiatrien herausgeholt, um sie außer Landes zu schaffen.

Das Asyl-Paket II hat nämlich nicht nur Abschiebe-Stopps aus humanitären Gründen erschwert, ihm gelten auch nur noch „lebensbedrohliche und schwerwiegende Erkrankungen“ als Hinderungsgrund für eine „Rückführung“. Zudem benötigen die Asyl-Bewerber*innen zur Bescheinung der Gesundheitsstörungen ein höchstens zwei Wochen altes Attest. Und da die Behörden nach den Gesetzes-Änderungen nicht mehr verpflichtet sind, die Abschiebungen vorher anzukündigen, fehlt vielen Betroffenen eine solche Bescheinigung, wenn es frühmorgens plötzlich unverhofft an der Tür klopft.

„Die Auslegung und Umsetzung der asylrechtlichen Neuregelungen muss dringend verändert werden. Es ist höchste Zeit, sich von der vorherrschenden Fixierung auf die alleinige Flugreise-Fähigkeit zu distanzieren. Wir brauchen umfassende Standards auf Landes- und Bundesebene für die Abschiebungen abgelehnter kranker Asylbewerber“, fordert die Abschiebungsbeobachterin Dalia Höhne deshalb. Sie berichtet von Fällen am Düsseldorfer Flughafen, wo der Notarzt kommen und Menschen mit Verdacht auf Herzinfarkt oder gefährlich hohen Blutdruck-Werten behandeln musste. Im Jahr 2015 kam es aus solchen medizinischen Gründen 24 Mal zu einem vorläufigen Abbruch von Rückführungsmaßnahmen, so Höhne.

Anstatt aber die Kritik anzunehmen, schlägt die Politik die entgegengesetzte Richtung ein und plant, die Abschiebe-Praxis weiter zu forcieren. Innenminister Thomas de Maizière nimmt zu diesem Behufe die Mediziner*innen ins Visier, die seiner Meinung nach zu viele vor Abschiebung verschonende Atteste ausstellen. Dabei scheut der CDUler noch nicht einmal davor zurück, mit falschen Zahlen zu operieren. Zu allem Übel gab er in Tateinheit mit den Bundesländern auch noch eine Untersuchung über Rückführungshindernisse und angebliche Vollzugsdefizite in Auftrag. Noch doller will es derweil Finanzstaatssekretär Jens Spahn (CDU) treiben. „Wir müssen kleinste rechtliche Hindernisse, die Abschiebungen in der Praxis erschweren, finden und wegräumen. Da ließe sich sicher ein Paket an Maßnahmen schnüren“, meint er, schon mal eine erneute Gesetzes-Initiative imaginierend.

Das alles wird die Entwicklung jedoch kaum zurückschrauben können, denn diese hat materielle Ursachen. Der Düsseldorfer Autor Miltiadis Oulios, Verfasser des bei Suhrkamp erschienenen Buches „Blackbox Abschiebung“, sieht die Migration sogar als eine soziale Bewegung, die eine neue Realität geschaffen hat. Für ihn, der vor kurzem auch in der Brause zwischen Groß- und Kleinkunst, Punk und Liedermaching einen Vortrag zum Thema gehalten hat, tun die Migrant*innen etwas Hochpolitisches: Sie relativieren das Recht und die Macht der Nationalstaaten, Grenzen festzulegen. Als ein rein humanitäres Problem will Oulios die weltweiten Migrationsströme deshalb nicht verstanden wissen. „Der Begriff ‚Menschlichkeit’ entpolitisiert das zentrale Anliegen, um das es eigentlich gehen sollte: den gleichen Zugang zu Rechten – auf Bewegungsfreiheit, auf Flucht, auf Migration“, schreibt er in seinem Buch.

JAN