Die Republik Türkei betrieb seit ihrer Gründung 1923 unter Mustafa Kemal Atatürk die Schaffung einer türkischen Nation unter dem Slogan „Wie glücklich ist der, der sagen kann: Ich bin ein Türke.“ Obwohl Atatürk den Kurd*innen zunächst eine begrenzte Autonomie zugesichert hatte, wurde der Status einer geschützten Minderheit lediglich Griech*innen, Armenier*innen und jüdischen Menschen zuerkannt. Die kurdischen Traditionen, ihre Sprache und Kultur hingegen wurden weitgehend negiert und unterdrückt.

Der seit Juli 2015 inhaftierte Kurde Hemê Xelef (türkischer Name Ahmet Çelik) steht in Düsseldorf vor Gericht (OLG), da ihm vorgeworfen wird, in den Jahren 2013 und 2014 ein Kader der kurdischen Arbeiterpartei PKK in Deutschland gewesen zu sein. Es fogte ein Prozess nach § 129b (siehe TERZ Juni 2016). Im letzten Monat schilderte er an einem der Prozesstage seine Lebensgeschichte und beschrieb eindrucksvoll die Situation von Kurd*innen in seinem Dorf Meşkina (Bozok), nördlich der syrischen Grenze, während der 1970er und 1980er Jahre. Seine Beschreibungen werden hier in Auszügen wieder gegeben.

Bildung in der Muttersprache muss ein Menschenrecht sein!

Auszüge aus der Prozesserklärung Hemê Xelefs vom 5. Oktober 2016 vor dem Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf

Keine Muttersprache haben

Der 1964 geborene Hemê wuchs als eines von acht Geschwistern in Meşkina auf, ein Dorf, das hauptsächlich von Ackerbau und Viehzucht lebte, über nur eine Schule verfügte. Hemê sprach als Kind ausschließlich kurdisch, eine Sprache die in der Schule verboten war, weshalb er dort türkisch lernen musste. Bestrafungen – so ein Kind doch kurdisch sprach – waren an der Tagesordnung, es gab Schläge mit dem Stock sowie Ohrfeigen. Kinder wurden nicht zum Essen nach Hause gelassen, in den Keller der Schule gesperrt, wo allerlei Ungeziefer hauste oder mussten auf einem Bein vor der Tafel stehen. Und so entwickelten sich Minderwertigkeitsgefühle bei den kurdischen Kindern und ihren Eltern, weshalb sich viele überangepasst verhielten. Aus Angst denunzierten sich Schüler*innen gegenseitig, kurdisch gesprochen zu haben. Die kurdische Sprache wurde Stück für Stück verdrängt. Der Gebrauch der kurdischen Sprache war in allen Lebensbereichen verboten, auch in Privatwohnungen. Dadurch, dass Hemê seine Muttersprache nicht weiterentwickeln durfte, war es ihm nicht möglich, richtig türkisch oder andere Sprachen zu lernen, ihm fehlte eine Grundlage und heute spricht er keine Sprache so frei, wie andere ihre Muttersprache(n). Für Hemê ist die Sprache jedoch ein wichtiges Gut, in kultureller Hinsicht, für die Persönlichkeitsentwicklung und die Identität. Bildung in der Muttersprache nennt er ein Menschenrecht, welches Kurd*innen verwehrt wird und wodurch sie zur Assimilation gezwungen werden.

Nahe gelegene Städte konnten mit dem Bus erreicht werden, doch während der Fahrten fanden immer wieder Personenkontrollen statt. Wer den türkischen Beamten nicht in Türkisch antwortete, wurde geschlagen oder in Gewahrsam genommen. Gerade für alte Menschen, die nur mit der kurdischen Sprache aufwuchsen, war dies riskant. Sie fragten den Busfahrer vor Fahrtantritt, ob es an dem Tag schon Kontrollen gegeben habe. Bejahte er, fuhren sie nicht mit.

Zwar galt es bis zur Mitte der 1970er Jahre unter Kurd*innen als Schande, türkisch zu sprechen, doch nach dem Militärputsch 1980 änderte sich dies. Die Kritik am Türkischen nahm ab, da viele erkannten, dass ihre Kinder nur eine erfolgreiche Zukunft haben konnten, wenn sie Türkisch sprachen und sich weniger auf kurdische Werte und Traditionen beriefen, weshalb diese weiter verdrängt wurden. Eltern befanden sich in einem Zwiespalt. Um ihre Kinder zu fördern und sich vor Repressionen zu schützen, brachen sie mit kurdischen Traditionen. Schließlich schämten sich Kinder sogar, wenn ihre kurdischen Eltern weiterhin traditionelle Kleidung trugen, so sehr waren sie gegen die eigenen Wurzeln eingestellt.

Überwachung im Dorf

Die Sicherheitswache (Gendarmerie) im Dorf war stets mit 12 bis 15 Soldaten besetzt. Dorfbewohner*innen waren dazu angehalten sie zu versorgen, manche taten dies aus Angst, andere freiwillig, einige wurden bestochen.

Bis zum Putsch 1980 war es möglich, dass zwei oder drei Soldaten die Dorfbewohner*innen auf dem Platz aus willkürlichen Gründen versammelten und zur Einschüchterung schlugen. Auch wurden auf dem Dorfplatz Versammlungen einberufen, um Steuern einzusammeln oder ‚Straftäter*innen‘ ausfindig zu machen. Wenn jemand gesucht wurde, hat die Sicherheitswache Männer misshandelt und gedroht, Frauen einzusperren, wenn sie nicht bei der Suche kooperierten. Versammlungen gab es auch wegen Streitigkeiten um das Ackerland. Teilweise wurde das Land vom Staat enteignet, aber Landwirt*innen bauten trotzdem an, auch, da Grenzen nicht klar abgesteckt waren. Tabakanbäuer*innen durften ihre Ernte ausschließlich an eine staatliche türkische Firma verkaufen. Taten sie dies nicht, wurden sie bestraft.

Die politische Situation im Dorf

In Meşkina bestand ein feudales Stammessystem. Die Großgrundbesitzer wurden von den Türken unterjocht, Stammesfürsten lehnten sich gegen die türkischen Kolonialisten auf, was Hemê als positiv wertet.

Die Situation war autoritär und undemokratisch: Männer herrschten, Frauen und Kinder hatten kaum Rechte. Denunziationen durch Dorfbewohner*innen trugen ebenfalls zur Einschüchterung bei.

Vor dem Hintergrund dieser Lebensumstände kamen Vertreter*innen der PKK ins Dorf und hielten offene Versammlungen ab. Die Bewegung der Anhänger von Abdullah Öcalan (Apo) gewann an Stärke, Anhänger*innen der PKK nahmen entgegen aller Vorschriften die Worte Kurde und Kurdistan wieder in den Mund. Die Bewohner*innen waren von diesem Mut beeindruckt und unterstützen die Bewegung. Die Apo-Vertreter*innen waren sehr ernsthaft, obwohl sie noch unerfahren waren. Sie kümmerten sich um die Nöte der Dorfbewohner*innen und machten keinen Unterschied zwischen Großgrundbesitzern und den Armen. Die Bewohner*innen wandten sich nicht mehr an die Institutionen des Staates. Es gab weniger Streitigkeiten und die Grausamkeiten durch staatliche Einrichtungen nahm stark ab. Selbst die Militärwache konnte die Dorfbewohner*innen nicht unter Druck setzen. Die PKK-Vertreter*innen sprachen von der Gleichberechtigung von Mann und Frau, waren gegen Polygamie und Zwangsverheiratung. Sie entwickelten Ausbildungsmöglichkeiten und verhielten sich respektvoll gegenüber religiösen Werten.

Nach dem Putsch

Nach dem Militärputsch von 1980 änderte sich die Situation nicht. Durch die türkischen Militärs wurde die Regierung entmachtet, die Parteien verboten und es kam zu zahlreichen Verhaftungen. Laut Hemê Xelef war die Hälfte aller Dorfbewohner*innen von Repressionen betroffen. Hausdurchsuchungen, Misshandlungen, Denunziationen, Ausgangssperren bis zu 2 Tagen waren an der Tagesordnung. Wasser für Menschen und Tiere im Dorf musste zwar vom Dorfrand geholt werden, die Häuser durften jedoch nicht verlassen werden – eine Situation, bei der es keine Möglichkeiten gab, sich zu wehren. Wer gegen die Ausgangssperren verstieß, dem drohte eine Bestrafung. So wurden Menschen zwei bis drei Tage ohne Essen und Trinken in den Zellen auf der Polizeiwache festgehalten oder mussten bei 40 Grad Hitze Tag und Nacht vor der Wache stehen, ohne sich hinzusetzen. Hausdurchsuchungen dauerten mehrere Stunden an und wurden willkürlich durchgeführt – eine Situation ähnlich der heutigen, nach dem missglückten Putschversuch in der Türkei vor drei Monaten.

Viele verließen ihren Geburtsort, um in Metropolen oder im Ausland ein neues Leben anzufangen. Auch Hemê war gezwungen, sein Dorf schon im Alter von 16 Jahren zu verlassen. Denn bis dahin wurde er bereits mehrfach in Gewahrsam genommen. Er behielt dennoch weiterhin Kontakt zu seiner in Meşkina lebenden Familie.

Hemê Xelef kannte viele Menschen, die inhaftiert und gefoltert wurden, so auch sein Vater und Bruder. Nur durch Bekannte, die Beziehungen zum Staat hatten, kamen sie wieder frei. Zuvor waren sie im noch heute berüchtigten Gefängnis von Mardin inhaftiert, das bekannt ist für Folterungen und Morde. Durch das türkische Militär wurden den Dorfbewohner*innen ihre Waffen abgenommen. Hatten sie keine, wurde ihnen nicht geglaubt und sie wurden hart bestraft und gefoltert. So kam es zu der schizophrenen Situation, dass sich Menschen aus Angst Waffen kauften, um diese dann abgeben zu können.

1982 wurde zwar die Militärherrschaft beendet, doch die Zivilregierung war schlimmer als die Militärherrschaft. Drei Jahre später wurde das Dorfschützersystem eingeführt. Die Dorfschützer – auf kurdisch „Eselssohn“ – standen zweifellos im Dienste des Kolonialstaates. Die Türken zwangen die Menschen, Dorfschützer zu werden, ansonsten war ihre Zukunft zerstört, Unterdrückung und Repression waren die Folgen. Das tägliche Leben war weiterhin von Repressionen geprägt: Die Wache befand sich am Dorfende und man musste die Soldaten grüßen, wenn man an ihnen vorbeiging. Auch wenn man gegrüßt hatte, wurde behauptet, man hätte es nicht getan. Weitere Misshandlungen waren die Folge. Hemê versuchte, seinen Vater zu überreden, das Dorf zu verlassen, schweren Herzens verließen die Brüder und sein Vater schließlich das Dorf, da auch sie Dorfschützer werden sollten oder alternativ ihre Heimat innerhalb von 24 Stunden verlassen mussten. Sie suchten Zuflucht in Deutschland. Das Dorf wurde – so wie über 3.000 andere Dörfer – geräumt, einige wurden niedergebrannt. Das Eigentum der Menschen wurde zerstört oder von den Dorfschützern übernommen, z. B. das Vieh, die Felder, Olivenbäume. Entschädigungen gab es nicht. Hunderte wurden in Gewahrsam genommen und gefoltert, einige Menschen wurden ermordet, darunter auch Verwandte von Hemê. Seine Cousine wird noch heute vermisst. Viele Familien schlossen sich schließlich der PKK an.
Zahlreiche Dörfer erzählen ähnliche Geschichten wie diese.

Verfolgung in Deutschland

Im September 1987 kam Hemê über Istanbul mit seiner Frau und ihren drei Kindern nach Deutschland, wo sie noch ein viertes Kind bekamen. Nur dank Schleusern war ihnen dieser Weg ermöglicht worden. Sieben Jahre lang lebte die Familie mit einer Duldung, mit der ständigen Ungewissheit, eventuell abgeschoben zu werden. Im Juni 1994 wurde ihr Asylantrag positiv beschieden. Im folgenden Jahr wurde Hemê Xelef zum ersten Mal inhaftiert. In diesem Zusammenhang gab es bei ihm eine Hausdurchsuchung, die seine herzkranke Frau schwer belastete und starke Ängste bei ihr hervorrief. Sie verstarb am 8. April 1995, was Hemê Xelef vom Abteilungsleiter des Gefängnisses mitgeteilt wurde. Er bat darum, an den Trauerfeierlichkeiten teilnehmen zu dürfen, was ihm nur in Hand- und Fußfesseln erlaubt wurde. Hemê Xelef lehnte es ab, so vor seinen Kindern aufzutreten und verabschiedete sich nicht gemeinsam mit seiner Familie von seiner Frau. Später ging Hemê zu Verwandten nach Syrien. Er kam im Dezember 2001 über den Iran und Österreich zurück nach Deutschland zu seinen Kindern. Nach einem Jahr bekam er einen Aufenthaltstitel. Im Herbst 2007 wurde er in Stuttgart das zweite Mal inhaftiert und zu acht Monaten Gefängnis auf drei Jahre Bewährung verurteilt.

Heute steht Hemê Xelef wieder vor Gericht, weil er sich in Deutschland für die politische Lösung der Kurdenfrage und für eine Demokratisierung der Türkei ebenso eingesetzt hat, wie für eine gleichberechtigte Teilhabe von Kurd*innen an der deutschen Gesellschaft. Von Mai 2008 bis April 2011 war Hemê Xelef Vorsitzender der Föderation kurdischer Vereine in Deutschland, YEK-KOM (heute NAV-DEM). Vermutlich wird in diesem Jahr noch ein Urteil gesprochen.

Die Repression gegen kurdische Genoss*innen und ihre Verfolgung in Deutschland müssen aufhören. Der kurdische Politiker Ali Özel wurde am 13.10.2016 in Stuttgart zu drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt, obwohl ihm keinerlei strafbare Handlungen nachgewiesen werden können. Lediglich der Vorwurf, PKK-Gebietsleiter in verschiedenen Regionen Deutschlands zu sein, reichte für dieses Strafmaß aus.

Zeigt Solidarität durch Besuche bei den Prozessen.
Die nächsten Termine sind:
4.11. um 13 Uhr, 8.,16.,22. und 29.11., jeweils um 9.30 Uhr im OLG Düsseldorf, Kapellweg.

ROTE HILFE ORTSGRUPPE DÜSSELDORF-NEUSS

Die Rote Hilfe unterstützt politische Gefangene, sie besucht regelmäßig Prozesse und leistet Antirepressionsarbeit. Unterstützt diese Arbeit gerne als aktives Mitglied und/oder mit einer Spende:
IBAN: DE25 2605 0001 0056 0362 39 (Stadtsparkasse Göttingen).

AZADI setzt sich für in Deutschland inhaftierte Kurd*innen ein. Der Verein ist dafür auf finanzielle Unterstützung angewiesen, Spenden könnt Ihr auf das folgende Konto überweisen:
IBAN: DE80 4306 0967 8035 7826 00 (GLS Bank Bochum).

Am 12.5.2016 begann vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf-Hamm, Kapellweg 36, die Hauptverhandlung gegen den kurdischen Politiker Hemê Xelef (Ahmed Celik), der im Juli 2015 in Siegen festgenommen wurde und sich seitdem in Untersuchungshaft in der JVA Köln-Ossendorf befindet. Die Anklage wirft dem 51-Jährigen vor, als mutmaßlicher PKK-Kader von Anfang Juni 2013 bis Juli 2014 den Sektor „Mitte“ (u. a. Bielefeld, Köln, Düsseldorf, Bonn) geleitet zu haben. In allen §129b-Verfahren geht es nicht darum, Angeklagten eine individuelle Straftat vorzuwerfen und nachzuweisen. Ausschlaggebend ist einzig, ob die PKK in der Türkei als terroristisch eingestuft wird und ob ein Angeklagter die Vereinigung unterstützt haben bzw. deren Mitglied gewesen sein soll.