Gemeint sind wir alle!

Am 22. November begann die Strafkammer am Amtsgericht in Wuppertal mit der Beweisaufnahme im Prozess gegen einen Antifaschisten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, am 11. April 2015 vorsätzlich Beamtinnen und Beamten der Polizei misshandelt und Widerstand gegen polizeiliche Maßnahmen geleistet zu haben. Das war in der Nacht, als drei Nazis einen Freund des jetzt Angeklagten vor dem Autonomen Zentrum (AZ) angriffen und beinahe tödlich verletzten. Doch nicht erst nach den Zeug*innen-Aussagen des ersten Prozess­tages stellt sich die Frage, wie belastbar die Beweise aus Polizeimund für ein Urteil gegen den Angeklagten sein können, wenn bereits an der gesamten Geschichte rund um den Vorwurf nichts stimmen kann. Die TERZ dokumentiert die Pressemitteilung der Antifaschistischen Initiative Wuppertal, die vor Prozessbeginn klar umrissen hat, was hier eigentlich läuft:

Lügen haben sehr kurze Beine

Am Dienstag, den 22. November 2016 eröffnet das Amtsgericht Wuppertal den Prozess gegen einen Wuppertaler Antifaschisten. Der Tatvorwurf lautet: Versuchte Körperverletzung und Widerstand gegen Polizeibeamte.

Dieser Prozess ist nicht irgendein beliebiger Versuch der Wuppertaler Staatsanwaltschaft und des Staatsschutzes, Linke zu kriminalisieren. Es geht vielmehr um die Ereignisse rund um den Mordversuch vor dem Autonomen Zentrum in Wuppertal am 11. April 2015 und um den daraus folgenden Polizeieinsatz.

Zur Erinnerung: Am 11. April 2015 um 1 Uhr morgens wurde ein Freund des AZ auf der Straße vor dem AZ von drei Nazis aus dem HOGESA-Spektrum angegriffen. Aufgefallen waren die Täter bereits vorher durch Provokationen und Versuche, das AZ auszuspähen. Nachdem einer der drei Nazis von dem späteren Opfer erkannt wurde, wurde er vor dem AZ mit dem Ruf „Wir sind HOGESA“ angegriffen und vom Nazi Patrick Petri mit etlichen gezielten Messerstichen lebensgefährlich verletzt. Nach der Tat sind die Nazis Richtung Gathe/Innenstadt geflüchtet.

Der Schwerverletzte wurde schnell in den Flur des AZ gebracht und es wurde Erste Hilfe geleistet. Gleichzeitig ist umgehend vom AZ aus der Notarzt gerufen worden. Die Rettungskräfte kamen zeitnah mit Polizeieinsatzkräften am AZ an, sie wurden zu dem Schwerverletzten begleitet. Sie konnten sofort und ungehindert die professionelle Erstversorgung durchführen. Die Rettungssanitäter wurden einige Zeit später ohne ersichtlichen Grund vom Opfer zurückgerufen. Die Einsatzleitung der Polizei hat den Rettungseinsatz unterbrochen und die Rettungssanitäter mit scharfem Ton vom Verletzten weggeholt.

Die Polizei stürmte nun, anstatt das Gespräch mit den geschockten AZ-Besucher*innen am Eingang zu suchen, unter Androhung von Schlagstock- und Pfefferspray-Einsatz in den AZ-Eingang und überwältige u.a. den Angeklagten.

Die nach den Sanitätern eingetroffene Notärztin hat mit der ärztlichen Versorgung des Opfers erst außerhalb des Hauses begonnen.

Die später eingetroffene Notärztin ist nicht zum schwerverletzten Opfer gegangen, die ärztliche Versorgung des Opfers wurde erst außerhalb des Hauses begonnen. Später traten die Polizeikräfte auf der Suche nach möglichen Tätern noch wahllos Türen im AZ ein. Schließlich erklärte die Polizei das AZ zum Tatort und beschlagnahmte unser Haus bis zum Morgen. Die Nazi-Täter waren zu diesem Zeitpunkt schon lange weg. Die Polizei behauptete später in einer unsäglichen Pressemitteilung, die von allen Wuppertaler Medien ungeprüft übernommen wurde, folgenden Sachverhalt:

„Bei Eintreffen der Rettungskräfte wurden Polizeibeamte und Rettungswagenbesatzungen im Gebäude von mehreren Angehörigen der linken Szene angegriffen und der Zutritt verwehrt. Erst durch den Einsatz von Pfefferspray und mittels Schlagstock konnten die Einsatzkräfte den Verletzten zur weiteren ärztlichen Versorgung aus dem Gebäude retten.“ (Pressemitteilung der Polizei Wuppertal 11.04.2015 – 08:58)

Via WDR-Lokalfernsehen gab es eine weitere Version. Die Polizeisprecherin führte aus: „Die Kollegen sind in das Gebäude rein. Es gab Rangeleien und Schubsereien. Und da musste man auch zwischendurch wieder rausgehen, sich sammeln. Die verletzte Person konnte aber aus dem Gebäude gebracht werden und wurde dann aber weiter behandelt.“

Die trauen sich was

Die zuletzt zitierten Behauptungen der Polizeipressestelle, die später auch von der Polizeipräsidentin im Fernsehinterview – etwas variiert – wiederholt wurden, sind offensichtlich die Grundlage des aktuellen Gerichtsverfahrens. Dass beim Hauptverfahren gegen die Nazi-Täter vor dem Landgericht die Polizeiversion [Prozessende im Frühling 2016, das Urteil ist rechtskräftig] widerlegt wurde, ist u.a. im Artikel der Wuppertaler Rundschau vom 20.1.2016 dokumentiert: „Ebenfalls klar ist inzwischen, dass an einer ersten öffentlichen Mitteilung der Polizei vom Tattag kaum mehr als das Datum stimmte: Es gab keinen Schlagstock- und Pfefferspray-Einsatz gegen AZ-Besucher, mit dem den Rettungskräften der Weg zum Verletzten quasi freigekämpft worden wäre. Es gab allerdings den wohl irrtümlichen Befehl eines leitenden Polizisten im voll besetzten Flurbereich: ‚Rettungskräfte raus!‘ Das belegen Aussagen der Sanitäter. Das Gericht hat erklärt, dass es diesen Punkten nicht nachgehen wird. Der Vorsitzende Richter Robert Bertling: ‚Das betrifft nicht das Kerngeschehen.‘“

Wir sind verwundert und gleichzeitig erbost, dass die Lügengeschichten der Wuppertaler Polizei jetzt zu diesem Prozess führen. Dass eine Verurteilung wegen Widerstand gegen Vollzugsbeamte „immer geht“ und gerne als Retourkutsche bei Gewalttätigkeiten der Polizei eingesetzt wird (siehe auch http://www.taz.de/!5273271), brauchen wir hier nicht weiter ausführen. Doch offensichtlich denkt die hellwache Wuppertaler Staatsanwaltschaft und Polizei, dass die skandalösen Umstände des Polizeieinsatzes und der Ermittlungen in der Öffentlichkeit schon vergessen sind.*

Daher möchten wir die Gelegenheit des Prozesses nutzen, um erneut auf schwerwiegende Rechtsverstöße hinzuweisen und eine Reihe von öffentlichen Dienstaufsichtsbeschwerden zu stellen. Auch ein kleiner Eintrag in der Personalakte kann aufgeweckten Vorgesetzten auffallen ...

Öffentliche Dienstaufsichtsbeschwerden:

  1. Wir fragen uns, ob das Presseteam um Polizeisprecherin Anja Meis einen Freibrief für Lügengeschichten und Hetzkampagnen gegen Links hat oder von der hellwachen dienstvorgesetzten Radermacher Anordnungen erhalten hat?
  2. Wir fragen uns, ob die Quellen für die Falschaussagen auf Aussagen der am Einsatz beteiligten Polizisten und Polizistinnen beruhen? Welche*r Polizist*in lügt so offensichtlich? Und sind das dieselben Polizist*innen, die jetzt eine versuchte Körperverletzung und Widerstand gegen sich beklagen und bezeugen werden? Wir fragen uns natürlich, ob die offensichtlichen Falschaussagen im Polizeidienst zu Disziplinarverfahren und sogar zu Strafverfahren führen werden?
  3. Wer hat den Einsatzbefehl gegeben, die Sanitäter von dem lebensgefährlich Verletzten abzuziehen, um danach einen brutalen Polizeieinsatz zu starten, um die im Eingangsbereich des AZ befindlichen, größtenteils geschockten AZ-Besucher*innen anzugreifen und teilweise zu verletzen?
  4. Wer trägt die Verantwortung für die Unterbrechung des Rettungseinsatzes? Wer übernimmt die Verantwortung und auch die zivilrechtliche Haftung für die mögliche Schädigung des Verletzten, weil die Rettungssanitäter die Erstversorgung unterbrechen mussten? Da das Opfer sein ganzes Leben mit Folgeschäden leben muss, wäre auch eine Schadensersatzklage in Betracht zu ziehen.
  5. Welche Rolle spielt eigentlich die Notärztin? War sie einverstanden, dass die Rettungssanitäter von der Polizei abgezogen werden? Warum hat die Notärztin sich selbst kein Bild vom Verletzten gemacht, ob, wie und mit welcher Versorgung er aus den engen Räumlichkeiten transportiert werden kann? Warum hat sie stattdessen zugelassen, dass Polizeibeamte die Bergung des schwerverletzten Opfers vornahmen? Hier stellt sich die Frage, welcher Umstand eine Notärztin dazu veranlasst, nicht direkt zum Opfer zu gehen. Es gab laut Rettungssanitäter offensichtlich keine bedrohliche Situation im Rettungseinsatz, das dürfte der Notärztin nicht entgangen sein.
  6. Spätestens um 2:15 Uhr waren der Polizei und der bereits eingesetzten Mordkommission durch Zeug*innenaussagen bekannt, dass die Täter während des Angriffs eine HOGESA-Parole brüllten und dann Richtung Gathe/Innenstadt flüchteten. Auch für Mitglieder von Mordkommissionen müsste begreiflich sein, dass ab jetzt die Täter a) auch im rechten Spektrum gesucht werden sollten und dass b) das AZ nicht mehr die Fluchtstätte für diejenigen ist, die einen Antifaschisten mit dem Messer abstechen. c) wurde im gleichen frühen Zeitraum eine weitere Person mit Stichverletzungen an den City-Arkaden von der Polizei entdeckt, die sicherlich von der Polizei als der Nazi Patrick Petri identifiziert werden konnte. Trotzdem werden die Zeug*innen aus dem AZ und Umfeld bis September [!] 2015 als Beschuldigte in einem Mordverfahren geführt. Später wird diese massive Einschüchterung und Kriminalisierung von der Staatsanwaltschaft als Computerversehen [!] schöngeredet. Auch hier ist mindestens ein Disziplinarverfahren gegen die Mitarbeiter der Mord-Kommission und der Staatsanwaltschaft denkbar, die wider besseren Wissens über Monate falsche Beschuldigungen erheben.
  7. Ist der Einsatzleiter eigentlich noch im Amt, der diesen gesamten Polizeieinsatz zu verantworten hat? Muss man für eine Tatortsicherung Rettungskräfte zurückziehen und anschließend die von der Tat geschockten AZ-Besucher*innen brachial angreifen und überwältigen? Wurden die eingesetzten Polizist*innen auch schon mal mit deeskalierenden Einsatzmethoden vertraut gemacht? Können die eingesetzten Polizist*innen nicht nachvollziehen, dass nach einen Messerangriff auf einen Antifaschisten die Ersthelfer*innen geschockt und die Nerven blank liegen und dass man in dieser Situation nicht mit dem Knüppel drohen, sondern es mit einer Ansprache versuchen sollte?
  8. Wer ist eigentlich dafür verantwortlich, dass der Staatsschützer T. Böttcher immer noch im Dienst ist, obwohl er aus einem Chat-Protokoll seit dem 23.1.2015 wusste, dass Wuppertaler Nazis aus dem HOGESA-Spektrum einen bewaffneten Überfall auf das AZ in Wuppertal und auf das Linke Zentrum in Düsseldorf, sogar unter Einsatz von Brandsätzen während vollbesetzter Konzertsäle diskutierten? Weder wurden die Betreiber*innen des AZ oder des Linken Zentrums informiert, noch gab es eine Warnung vor den Tätern. Auch werden Nazis, die solche gravierenden Straftaten planen, in Wuppertal juristisch offensichtlich nicht zur Verantwortung gezogen. Dass nicht mal die ermittelnde Staatsanwaltschaft nach dem Mordversuch über Planungen eines der Hauptangeklagten vom Staatsschutz informiert wird, müsste eigentlich sogar die Staatsanwaltschaft und erst Recht das Gericht beunruhigen.

Die Pressemitteilung der Antifaschistischen Initiative Wuppertal erschien vor dem ersten Prozesstag im Strafverfahren, am 21.11.2016 (indymedia und labournet).

* Mit der wiederholten Vokabel „hellwach“ wird auf das vielbelachte, vermutlich aber kostspielige und für Stadt und Polizei vor allem Prestige-trächtige Feigenblatt von einem Präventionskonzept angespielt, dass das Polizeipräsidium Wuppertal unter Präsidentin Brigitta Radermacher im Dezember 2011 ins Leben gerufen hat. Die Präventionsarbeit unter dem Titel „Hellwach gegen Rechtsextremismus“ steht dabei fest im Glauben an die Unverwechselbarkeit von lechts und rings (Ernst Jandl) bzw. an die fragwürdige Extremismusdoktrin, das Rechts = Links sei.


Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen!

„Man weiß ja nicht, wer von denen das Messer hat“

Befehle ignorieren: lebensrettend

Im Verlauf des ersten Prozesstages im Strafverfahren wegen angeblichen Widerstands und vermeintlich vorsätzlicher Körperverletzung gegenüber Beamt*innen der Polizei stellte sich heraus, dass die von der TERZ in dieser Ausgabe dokumentierte Pressemitteilung der Wuppertaler Initiative richtig liegt. Das musste sogar der Richter sehen, der sich doch erstaunlich viel Mühe gab, die Zusammenhänge, die am 11. April 2015 der Ingewahrsamnahme des Angeklagten vorausgingen, herauszuarbeiten. Entscheidende Vorlage machte hier die Verteidigung des Angeklagten. Klar war, dass es dem Angeklagten in der Nacht des Nazi-Angriffs auf den Besucher des AZ ausschließlich darum ging, den für ihn und wohl auch für viele Zeug*innen des Messerangriffes vollkommen unverständlichen Befehl der Polizei, die Rettungskräfte von dem Schwerstverletzten abzuziehen, aktiv in Frage zu stellen. In höchster Verzweiflung und zugleich geistesgegenwärtig realisierte er, dass der Polizeibefehl, die professionelle Erstversorgung des lebensgefährlich Verletzten zu unterbrechen, das Opfer in große Gefahr bringen würde. Die Rettungskräfte, die im Gebäude vollkommen ungehindert, wie sie erneut aussagten, mit der lebensrettenden professionellen Erstversorgung des Angegriffenen begonnen hatten, sollten nach seiner Einschätzung vielmehr unbedingt bei dem Verletzten bleiben, um die immensen Blutungen zu stillen. Nichts anderes erforderte die Situation. So versuchte der Angeklagte, die Beamtinnen und Beamten, die den Abzug der Rettungssanitäter mit Gewalt durchsetzen wollten, von ihrem Plan abzubringen. Und der Angeklagte hatte die Lage damals schon sehr richtig eingeschätzt, wie sich jetzt wiederholt herausstellte: Die Erstversorgung unterbrechen zu müssen, weil ein Polizeibeamter die Rettungskräfte harsch aufforderte, den Patienten umgehend unversorgt im Gebäude zurückzulassen, war nach Aussage beider Rettungssanitäter höchst problematisch. Der Verletzte schwebte damals in Lebensgefahr. Ohne zeitnahe Notversorgung verringerten sich seine Chancen, den Angriff zu überleben, sekündlich. Einer der acht Messerstiche hatte seine Lunge verletzt, wie sich später im Krankenhaus herausstellen sollte. Sein Leben hing am seidenen Faden.

Wissen, wo der Feind steht

So drehte sich die Beweisaufnahme am 22. November 2016 um eben genau diesen Einsatzbefehl. Die Aussagen, wer genau den Abzug der Erstretter befohlen hatte, waren hier widersprüchlich. Es drängte sich der Eindruck auf, dass die Polizeibeamt*innen, die der Angeklagte verletzt haben soll und die als Zeug*innen aussagten, entweder keine Ahnung hatten, wer den Befehl erteilt hatte. Oder aber: die Verantwortung auf die Notärztin abwälzen wollten, die erst eintraf, als die Rettungswagenbesatzung bereits bei dem Verletzten war. Damit blieben die drei Polizeibeamt*innen bei der von Polizeipräsidentin Brigitta Radermacher verlautbarten Version, dass die Notärztin den Einsatzbefehl zum Abzug der Sanitäter ausgelöst habe. Diese ungewöhnliche Weisungskette (eine Ärztin kann der Polizei gegenüber bestimmen, wie diese im Einsatz vorzugehen hat?) löste nicht nur bei den zahlreich erschienenen Zuschauer*innen im winzigen Verhandlungssaal am Wuppertaler Amtsgericht Verblüffung aus. Auch der Richter und sogar die Staatsanwältin versuchten, sich über den Ursprung des für den Verletzten lebensgefährlichen Einsatzbefehls Klarheit zu verschaffen.

Dass die aussagenden Polizeibeamt*innen im Verfahren vor allem die Rolle von Sprechpuppen einnahmen, wurde dabei mehr als deutlich. Keine*r von ihnen konnte Angaben dazu machen, dass es im Inneren des AZ-Gebäudes tatsächlich den Umständen entsprechend ruhig zuging und die Rettungskräfte, wie diese mehrfach betonten, ungehindert die lebensrettenden Maßnahmen einleiten konnten. Denn gesehen hatten die Polizist*innen von all dem nichts. Ihre ‚Erkenntnisse‘ und Lageeinschätzungen schienen vielmehr auf einem fragwürdigen ‚Weltwissen‘ über sogenannte „Linksautonome“ zu beruhen. Von einer besonders hervorstechenden Selbstüberschätzung speiste sich hier vor allem die Aussage der 31-jährigen Polizistin P., die ihrer Phantasie wohl freien Lauf ließ. Sie berichtete vor Gericht von ihrer Annahme, dass im Flur des AZ, in dem der Schwerverletzte lag, ein heilloses Durcheinander geherrscht haben müsse. Das wisse man ja, dass in solchen Situationen alle mitmischen wollten und herumbrüllten. Gesehen hatte sie all das freilich nicht. Genausowenig hatte sie gesehen, dass der Verletzte später auf einer Trage herausgebracht worden sein soll, wie sie nun bezeugte. Das konnte sie jedoch gar nicht gesehen haben, da die besagte Trage gar nicht durch die Gänge des Flurs gepasst hatte und ergo im Gebäude nicht zum Einsatz kommen konnte. Vielmehr war der Verletzte, das hatte der vorausgegangene Strafprozess gegen die Täter Patrick Petri, Thomas Pick und Rolf B. gezeigt, tatsächlich vollkommen unsachgemäß von Polizeibeamten bis vor das Gebäude verbracht worden. Die Aussage der Polizeibeamtin, dass sie gesehen haben will, wie der Verletzte auf einer Trage vor die Tür gebracht worden sei, war also in jeder Silbe falsch. Die Beamtin korrigierte sich später, ohne in ihrem überbetont zur Schau gestellten Selbstbewusstsein nur einen Deut bescheidener aufzutreten.

Links war’s – wer sonst?

Sehr selbstsicher gab sie sich auch, als sie schilderte, dass sie zum Zeitpunkt des Abzugs der Rettungskräfte im Unklaren darüber gewesen sei, ob der oder die Täter noch im Gebäude seien. Obwohl mehrere AZ-Besucher*innen in ihren Notrufen an die Feuerwehr, von denen die Polizei Kenntnis gehabt haben wird, angegeben hatten, dass die Täter in Richtung Innenstadt geflüchtet waren (Passant*innen vor Ort bestätigten das und wiesen die eintreffende Polizei darauf hin!), sprach die Beamtin vor Gericht nun davon, dass sie den oder die Täter noch im Gebäude vermutet habe, solange das Gegenteil nicht „gesichert“ sei.

Auch dass zum Zeitpunkt ihres Einsatzes bereits klar war, dass es sich um Täter aus dem HoGeSa-Spektrum handelte, führte nicht dazu, dass die Polizistin im Prozess nun ihr Schablonen-‚Wissen‘ überdachte. Man habe, so die Beamtin P., schließlich nicht wissen können, „wer von denen das Messer hat“[!]. Gemeint waren hier die Besucher*innen des Autonomen Zentrums, die im Moment, in dem P. als Polizistin mit „Berufserfahrung“, wie sie selbst eingangs betonte, auf den Plan trat, verzweifelt versuchten, den Tod ihres Freundes zu verhindern, indem sie die Rettungskräfte vor dem Zugriff der Polizei zu schützen versuchten.

P. und ihr 25-jähriger Kollege, der bei der Ingewahrsamnahme des Angeklagten am 11. April 2015 beteiligt war, widersprachen nicht zuletzt auch der Aussage des Polizeibeamten Sch., der klar ausschloss, dass der Beschuldigte bei seiner Fixierung am Boden nach den Polizist*innen getreten habe. Gewunden habe er sich, ja. Aber getreten, und das auch noch gezielt, habe der Angeklagte eindeutig nicht. Dass der Beschuldigte, der zu diesem Zeitpunkt in Bauchlage, mit dem Gesicht in den am Boden liegenden Scherben, von inzwischen drei Polizist*innen in die Zange genommen wurde, dazu gar nicht in der Lage gewesen sein konnte, blieb unausgesprochen. Polizist Sch. berichtete indes noch freimütig, dass er, der den Beschuldigten am Kopf und Oberkörper fixiert hatte, seinen Griff lockerte, um den Festgehaltenen vor dem „Erstickungstod“ zu bewahren!

Komm raus, du bist umzingelt

Am Ende des Prozesstages ließen schließlich die Beweisanträge der Verteidigung noch einmal durchblicken, wie wenig Spielraum die Polizei Wuppertal für ihre nach wie vor aufrecht erhaltene Behauptung hat, dass sie den oder die Täter noch im AZ aufzufinden meinte, als sie vorgeblich aus Sicherheitsgründen den Einsatzbefehl zum Abzug der Sanitäter gab. Ebensowenig wie dafür, dass sie bis heute betont, zu diesem Zeitpunkt noch nicht habe wissen zu können, dass der oder die Täter, die unter HoGeSa-Rufen auf das Opfer eingestochen hatten, selbstverständlich nicht unter den Besucher*innen des AZ zu suchen seien. Einmal mehr fehlt der Rechtfertigung für den lebensgefährlichen Abbruch der Notversorgung des Verletzten jede Grundlage und Glaubwürdigkeit. Hier davon zu sprechen, dass der Abzug der Rettungskräfte dem Gedanken der Sicherung und der Gefahrenabwehr gedient habe, nimmt der Polizei Wuppertal nach diesem Prozesstag wahrlich niemand mehr ab. Es bleibt die Frage, ob der Nazi-Angriff auf den AZ-Besucher für die Polizei nicht vielmehr ein willkommener Anlass gewesen sein mag, einem lange gehegten Wunsch zu folgen und den Linken in diesem so überaus günstigen Moment der Schwäche mit voller Härte zu begegnen? Und das, obwohl im Flur des AZ ein Mensch lag, der um sein Leben kämpfte?

Die Verteidigerin des Angeklagten hat die Ladung des Einsatzleiters beantragt. Gericht und Staatsanwaltschaft stimmten am 22. November dem Beweisantrag bereits zu. Ob im Polizeipräsidium Wuppertal auf Leitungsebene nun die Terminkalender gezückt werden, wann sich im Vorfeld des zweiten Verhandlungstages denn über eine günstige Aussagetaktik sprechen ließe, ganz allgemein, versteht sich? Wir dürfen gespannt sein, wie der Einsatzleiter über den Abend und die Entscheidungsgrundlagen berichten wird, die zum Befehl „Rettungssanitäter raus!“ führten. Er selbst wird am besten wissen, ob er es war, der den Befehl gab. Und wir gehen natürlich davon aus, dass er die Wahrheit sagt, wie vor deutschen Gerichten üblich und vorgesehen. Ihm und seinen Dienstvorgesetzten im Polizeipräsidium dürfte indes klar sein, was es bedeutet, die Verantwortung für diese Entscheidung zu übernehmen.

Ein Fortsetzungstermin ist für Montag, den 5. Dezember 2016 angesetzt. Verhandlungsbeginn ist voraussichtlich um 9.30 Uhr. Wir erwarten mit Spannung die Aussage des polizeilichen Einsatzleiters. Vielleicht wird auch die Notärztin, die bereits im Strafprozess gegen die Nazis aussagte, erneut geladen.