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Was läuft schief in unserer Alltagswelt, wenn Menschen, die für andere Menschen da sind, so behandelt werden, als seien sie durchsichtig? Ganz gleich, ob sie im Familienverband Wäsche waschen, aufgeschlagene Knie verarzten oder Klappstullen für die Schicht-Pause schmieren? Oder ob sie in der sogenannten Sozialen Arbeit Welten bewegen und Verantwortung tragen für wenig mehr als einen feuchten Händedruck?
In Düsseldorf fragt sich das keine geringere als Gabriele Winker bei einer Veranstaltung zum Thema „Care Revolution“. Und zum Nachlesen schieben wir noch einen Literatur-Tipp hinterher. Care Revolution – jetzt! Sonst guckt ihr dumm aus der Wäsche!

Warum Care Revolution?

Sorge- oder Care-Arbeit ist eine Tätigkeit, die jede Person ausführt. Menschen kochen, erziehen Kinder und versorgen unterstützungsbedürftige Angehörige. Diese gesellschaftlich notwendige, jedoch nicht als solche anerkannte Arbeit wird meist unentlohnt und von Frauen in Familien verrichtet. Viele Menschen sind in diesem Bereich auch berufstätig, beispielsweise als Haushaltsarbeiter*in, Pflegekraft, Erzieher*in oder Sozialarbeiter*in, in der Regel in prekären und schlecht entlohnten Arbeitsverhältnissen. Dabei werden vor dem Hintergrund von Neoliberalismus und dem Abbau sozialer Infrastrukturen soziale Missstände verschärft. Staatlich verursachte Versorgungslücken werden auf Einzelpersonen abgewälzt und müssen von ihnen geschlossen werden. Arbeit ohne Ende ist in der Folge für Sorgearbeitende zur alltäglichen Realität geworden. Die andauernde Überlastung von entlohnten und nicht entlohnten Sorgearbeitenden führt von Erschöpfung bis hin zu psychischen Erkrankungen. Gabriele Winker hat in ihrem Buch „Care Revolution“ (2015) diese Zusammenhänge herausgearbeitet, auf die Notwendigkeit einer Veränderung dieser Strukturen hingewiesen und mit anderen Aktiven zusammen das Netzwerk „Care Revolution“ ins Leben gerufen.

Netzwerk „Care Revolution“

Das Netzwerk „Care Revolution“ ist ein bundesweiter Zusammenschluss von über 80 Gruppen und Personen, die in verschiedenen Feldern sozialer Reproduktion, also Hausarbeit, Gesundheit, Pflege, Assistenz, Erziehung, Bildung, Wohnen und Sexarbeit aktiv sind. Dem Selbstverständnis nach geht es ihnen um den Kampf gegen Lücken in der öffentlichen Daseinsvorsorge, die zu Überforderung und Zeitmangel beitragen. Langfristig strebt das Netzwerk neue Modelle von Sorge-Beziehungen und eine Care-Ökonomie an, die nicht Profitmaximierung, sondern die Bedürfnisse der Menschen ins Zentrum stellt und die Sorgearbeiten und Care-Ressourcen nicht nach rassistischen, geschlechtlichen oder klassenbezogenen Strukturierungen verteilt. Durch Austausch, Öffentlichkeitsarbeit und gemeinsame Aktionen wird die Care Revolution in Angriff genommen. Derzeit gibt es deutschlandweit regionale Vernetzungen in Berlin, Bielefeld, Frankfurt, Lübeck, Hamburg, Hannover, Thüringen (Jena/ Erfurt/ Weimar) und Freiburg.

Die Veranstaltung

Ziel der Veranstaltung ist, auf die Problematik der Care-Arbeit in der neoliberalen Gesellschaft einzugehen und auch in der Region Rhein-Ruhr eine Vernetzung zwischen verschiedenen Akteur*innen anzustoßen, die sich für verbesserte Rahmenbedingungen der Care-Arbeit einsetzen. Zu Beginn der Veranstaltung wird Gabriele Winker einen inhaltlichen Überblick über Sorgearbeit und die Notwendigkeit einer Care Revolution geben. Als regionale Kooperationspartner*innen nehmen zudem Wir Frauen - das feministische Blatt, das Frauenforum der Stadt Düsseldorf und Ver.di Düsseldorf teil. Gemeinsam werden erste Ideen entwickelt, um hier eine Care Revolution zu starten. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen, dabei mitzudiskutieren und -zuwirken!

Sorgearbeit unter Druck. Notwendigkeit einer Care Revolution
Montag, 12. Dezember 2016
Beginn 17:00 h, Ende 19:00
Hochschule Düsseldorf
Münsterstraße 165
40476 Düsseldorf
Gebäude 3, Raum 3.EG.01

Link zur Veranstaltung: https://facebook.com/CareRevolutionRheinRuhr

Ein ausführliches Selbstverständnis des Netzwerks und weitere Infos unter: https://care-revolution.org


To Fight For ...

... wer Gabriele Winker verpasst, verpasst was!

Wer Gabriele Winker einmal persönlich erlebt hat, und sei es nur bei einem Vortrag, wird kaum glauben, dass sie Anfang November 2016 ihren 60. Geburtstag feierte. Winker ist seit 2003 Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der Technischen Universität Hamburg-Harburg und leitet dort u.a. die Arbeitsgruppe Arbeit–Gender–Technik.

Zuvor war sie in der Verwaltung des Landes Bremen und danach fast zehn Jahre als Professorin an der Fachhochschule Furtwangen tätig. Heute ist sie vor allem als engagierte Streiterin in Sachen Care und „Care-Revolution“ – und als Verfechterin des theoretischen Konzepts der „Intersektionalität“ bekannt. Sie ist bekennende Feministin und Marxistin. Und nicht zuletzt: politische Aktivistin. Sie ist sich auch nicht zu schade, in Neuköllner Kneipen mit autonomen Kommunist*innen vom „Ums Ganze“-Bündnis zu diskutieren oder vor 25 traditionsmarxistischen Besucher*innen bei der MASCH (der „Marxistischen Abendschule“) in Bremen engagiert über die Grundlagen des Care-Gedankens zu erzählen.

Mitstreiter*innen und Schüler*innen haben jetzt überraschend eine kleine Festschrift zusammengetragen, die in einer Art Bricolage thematisch den Weg umreißt und illustriert, den Winker theoretisch, politisch und wissenschaftlich gegangen ist: Von der (feministischen) Technikforschung zur Intersektionalität. Heute treten sie und andere Autor*innen dafür ein, gleichrangig Identität, symbolische Repräsentation und Sozialstruktur zu untersuchen und zu reflektieren und alle miteinander verwobenen Unterdrückungsverhältnisse in den Blick zu nehmen.

Das Buch enthält zehn Beiträge zu feministischen Analysen und Strategien und je fünf zum Thema „Care“ bzw. zu Technik als Feld feministischer Auseinandersetzungen. Alle sind auf der Höhe der Zeit, in der die Forderung nach Selbstbestimmung längst in die neoliberale Selbstverantwortung umgedreht wurde.

Kathrin Ganz berichtet darüber, wie digitale Öffentlichkeiten und soziale Medien für kritisch inspiriertes Empowerment im und durch das Internet heute genutzt werden (können). Nina Degele zeigt am Beispiel von Fußball und von Kinokartenabreißer*innen, dass Intersektionalität als Konzept auch für eine Untersuchung dieser Felder frucht- und anwendbar ist. Antje Schrupp, die als bekennende Anarchistin auch bei der evangelischen Kirche arbeitet, schreibt gewohnt souverän über ihr am italienischen Differenzfeminismus geschultes Denken: Feminismus habe weniger etwas mit dem Verhältnis von Frauen zu Männern zu tun als vielmehr damit, wie Frauen die Welt gestalten und sich darüber aneignen. Selbstentwickelte Regeln und Maßstäbe sind dabei hilfreich. Ein Denken in binären, sich ausschließenden Kategorien wie etwa Reform/Revolution ist dafür eher hinderlich. Es gehe, so Schrupp, vielmehr darum, Verantwortung für das Tun und Sein zu übernehmen, am jeweiligen Ort. Wibke Derboven berichtet auch empirisch über die Zeitverwendung von „Frauen“ und „Männern“ bzw. Müttern und Vätern in Hinsicht auf bezahlte und unbezahlte Arbeit. Hier zeigt sich, dass Mütter pro Woche etwa 15 Stunden mehr unbezahlte Arbeit leisten als Frauen ohne Kinder. Väter leisten vier Stunden mehr unbezahlte Arbeit und sieben Stunden MEHR Erwerbsarbeit als Männer ohne Kinder.

Beiträge resultieren teilweise aus der jeweiligen Forschung der Autor*innen und sind deswegen doch zum Teil sehr spezialisiert. Aber das ist nicht weiter schlimm. Und sogar zu Gabriele Winker selbst finden wir einige privatere Perspektiven.

Dieses Buch umfasst eine eindrucksvolle Palette aktueller feministischer und queer-feministischer Kämpfe, Perspektiven und Positionen – jenseits poststrukturalistischen Jargons. Positionen und Kämpfe, die nach Solidarität, emanzipatorischen Bündnissen, Anerkennung, Lebensqualität und nach der Überwindung sozialer Ungleichheiten fragen.

Buch und Veranstaltung sind wichtig, erhellend und anregend. Wer kann, möge hingehen!

Bernd Hüttner

Melanie Groß, Kathrin Schrader, Tanja Carstensen (Hrsg.): care | sex | net | work. Feministische Kämpfe und Kritiken der Gegenwart
unrast-Verlag, Münster 2016, 176 Seiten.