„Demokratie leben!“

ein unbekömmliches Programm des Bundesfamilienministeriums

Hallo Christian, wir haben uns vor einem halben Jahr bei einem Stadtteilfest mit dem Thema „Demokratie leben!“ in Oberbilk getroffen. Viele gewerkschaftliche, städtische und kirchliche Vereine haben das bunte Fest organisiert. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie Du Dir offensichtlich miesgelaunt das Treiben anschautest und schnell wieder verschwunden warst. Was war passiert?

Die Aktion „Demokratie leben!“ ist ein Programm des Bundesfamilienministeriums. Auf ihrer Webseite lässt Frau Schwesig schreiben: „Angriffe auf Demokratie, Freiheit und Rechtstaatlichkeit sowie Ideologien der Ungleichwertigkeit sind dauerhafte Herausforderungen für die gesamte Gesellschaft. Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus, die Herausforderungen durch Islam- bzw. Muslimfeindlichkeit, Antiziganismus, Ultranationalismus, Homophobie, gewaltbereiter Salafismus bzw. Dschihadismus, linke Militanz und andere Bereiche zeigen die Vielzahl demokratie- und menschenfeindlicher Phänomene. Um ihnen kraftvoll entgegenzutreten, bedarf es gemeinsamer Anstrengungen von Staat und Zivilgesellschaft.“
Hier werden gesellschaftliche Gruppen und Vereine mit unterschiedlichsten und gegensätzlichen Vorhaben in einen Pott geschmissen: Hooligans, die auf Salafisten losgehen, brave Bürger, die dem religiösen Treiben der Muslime ewig Steine in den Weg legen, „richtige“ Männer, die keine Schwulen mögen – und das auch tatkräftig zum Ausdruck bringen, Muslime, die die westliche Kultur verachten und Linke, die ihre Kritik am Staat nicht im bloßen zugestandenen „Meinen“ enden lassen wollen. Und was ist ihnen gemein? Alle haben am Staat nicht nur etwas auszusetzen, sondern wollen den Staat auch in ihrem Sinne verändern. Und darum werden staatlicherseits im ersten Satz die „Angriffe auf Demokratie, Freiheit und Rechtstaatlichkeit“ beklagt.

Und was ist daran so schlimm?

Das Sorgeobjekt für den Staat sind nicht in erster Linie die von Gewalt bedrohten Menschen, sondern ist er selbst. Nur ein unumschränkt gültiges Gewaltmonopol sichert die Souveränität des Staates nach innen und außen. Die Angriffe der rechten Gewalt und des islamischen Terrors bezieht der Staat auf sich, weil sie sein Gewaltmonopol in Frage stellen. Und das schützt er mit seinen Maßnahmen; der Schutz der Bürger ist dabei ein Kollateralnutzen.

Ich fand aber das Fest ganz nett. Wir haben uns gut mit den ausländischen Mitbürgern verstanden und lecker gegessen. So wohl habe ich mich in Oberbilk selten gefühlt.

Ja, genau das sollte das Fest bewirken. „Vielfalt leben! - Wir sind Oberbilk!“ lautete das Motto des Festes. Ob Kioskbesitzer, Fabrikarbeiter, Arbeitsloser, Asylbewerber, Grundschüler, Fabrikant, Beamter, Türsteher oder Rechtsanwalt – alle sollen sich mit dem Stadtteil identifizieren, in das es sie aus welchen Gründen auch immer verschlagen hat. Eine imaginäre Gemeinsamkeit wird beschworen, die alle Unterschiede und Gegensätze absichtsvoll unter den Tisch kehrt.

Aber ist es nicht gut, wenn der Staat sich dafür einsetzt, dass In- und Ausländer einander verstehen?

Dir ist wohl bekannt, dass es der Staat ist, der penibel zwischen In- und Ausländern unterscheidet. Die Inländer „dürfen“ sich frei im Lande und sogar Europa bewegen und überall eine Arbeit annehmen. Sie betrachten das als Privileg des deutschen Staatsbürgers. Der Asylbewerber z.B. aus Eritrea wird hingegen auf einen Aufenthaltsort festgelegt, darf keine geregelte Arbeit annehmen, ist auf Sachleistungen und ein Taschengeld angewiesen, die gerade die Existenz absichern. Außerdem ist der Asylbewerber ständig von einer möglichen Abschiebung bedroht. Weil der deutsche Volksgenosse grundsätzlich dem Ausländer wegen fehlender Staatsangehörigkeit Ansprüche verwehren möchte, wird sogar die bescheidene Behandlung der Asylbewerber als Bevorzugung der Ausländer gegenüber den Deutschen ausgelegt. Und einige werden radikal. Sie klagen den Staat an, er sei pflichtvergessen und kümmere sich mehr um die Aus- als um die Inländer. So las ich am 9. November im Neusser Stadt-Kurier die fette Überschrift: „Flüchtlinge haben freien Zugang zur Stadtbücherei - Einheimische Hartz-4-Empfänger sind traurig, dass sie benachteiligt werden“. Man kann also mit der Unterscheidung zwischen In- und Ausländern die Leute gut gegeneinander aufhetzen. Aber nochmal gesagt, die Unterscheidung zwischen In- und Ausländern ist keine Erfindung der Ausländerfeinde, sondern des Staates.

Merkel und die Regierungspolitiker sind doch keine Ausländerfeinde!

Nein, das sind sie nicht. Im Gegenteil.
In einem Interview mit der Bildzeitung haben die SPD-Männer und Bundestagsabgeordnete Thomas Oppermann und Karamba Diaby kürzlich hierzu ein paar markante Gedanken herausposaunt, indem sie eine zukünftige Einwanderungspolitik skizzieren. Zunächst stellt Oppermann klar, dass Flüchtlinge das Asylrecht nicht missbrauchen dürfen, damit es ihnen materiell besser geht: „Viele Menschen suchen … keinen Schutz, sondern Arbeit und ein besseres Leben. Das ist menschlich verständlich, jedoch kein Asylgrund. Darum müssen wir legale Einwanderungsmöglichkeiten endlich klar und transparent gestalten. Und zwar so, dass wir definieren, wer nach Deutschland kommen kann.“
Und Diaby schaut sich in der Welt um und wird fündig: „Indien verfügt über exzellente IT-Experten, Ägypten oder Iran haben viele gut ausgebildete Ingenieure. Für den Pflegebereich haben die Philippinen und andere asiatische Länder ein großes Potenzial.“
Wer nun nach Deutschland kommen darf, soll nach einem ausgeklügelten Punktesystem entschieden werden, zu dem u. a. berufliche Qualifikation, Alter und Sprachkenntnisse gehören. Und damit das Angebot zur Einwanderung nicht falsch verstanden wird, haben sich Diaby und Oppermann noch was ausgedacht: „Wer genug verdient, dass die Familie davon leben kann, darf auch Ehepartner und Kinder mitbringen. Aber nur dann. Wir wollen keine Einwanderung in das Sozialsystem. Deshalb sind die Einwanderer auch in den ersten fünf Jahren von Sozialleistungen ausgeschlossen, es sei denn, sie haben ausreichend Beiträge geleistet.“
Die fremdenfeindlichen Ausschreitungen gegen Ausländer findet Oppermann in diesem Zusammenhang ziemlich kontraproduktiv: „Pegida und fremdenfeindliche Ausschreitungen schaden Deutschland massiv – nicht nur im Ansehen, auch ökonomisch. Ein Arbeitgeber aus Dresden oder Bautzen hat es in dieser Zeit schwer, einen Einwanderer nach Sachsen zu locken.“

Ist das nicht eine Klarstellung?

Die Person des Einwanderers und die menschenfeindlichen Ausschreitungen werden unter dem Aspekt der Nützlichkeit für Deutschland und das deutsche Kapital gesehen. Und diese Betrachtungsweise gilt nicht nur dem Zuwanderer. Auch der deutsche Eingeborene wird nicht anders begutachtet: „Natürlich müssen wir gleichzeitig das inländische Potenzial ausschöpfen“, meint Oppermann.
Der deutsche hat also viel mehr gemein mit dem ausländischen Arbeitnehmer und dem Asylbewerber als mit „seiner“ Herrschaft, die von ihm einen positiven Untertanengeist erwartet, der sich neuerdings darin zeigen soll, dass er in Ausländern und Asylanten willkommene Mitbürger sieht, „seiner“ Firma, die ihn nur so lange benutzt, wie es sich für sie rechnet, „seinem“ Stadtteil, in dem er für seine Wohnung dem Vermieter mindestens ein Drittel seines Lohnes hinblättern muss. Wenn er verstanden hat, alles das nicht mehr als seine ökonomische und kulturelle Heimat zu begreifen, geht er bestimmt nicht mehr auf die Ausländer los, sondern kennt einen anderen Gegner, der Aus- und Inländern das Leben schwer macht.

Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Danke für das aufschlussreiche Gespräch.

HENRICI