Haus besetzen Haus besitzen

In den Medien wurde „Das ist unser Haus“ von Barbara und Kai Sichtermann wohlwollend aufgenommen, obgleich es keine Stürme des Enthusiasmus auslöste. Und die Zeitschrift konkret fand, die Sichtermanns „sanierten“ die Hausbesetzer*innen­bewegung, sie erzählten sie zu sehr als Erfolgsgeschichte. Als Lesebuch jedenfalls taugt es allemal.

In den zahlreichen Radio-, Fernseh- und Zeitungsinterviews, die die Geschwister Sichtermann begleitend zum Erscheinen ihres Buchs gegeben haben, gestehen sie unumwunden ein, dass es sich um eine Auftragsarbeit handelt – der Aufbau-Verlag hatte was zum Thema „Hausbesetzung“ gewünscht und fragte an. Kai Sichtermann war bzw. ist Bassist von Ton Steine Scherben und seine ältere Schwester Barbara Sichtermann 68er-Intellektuelle. Aufgrund lebensgeschichtlicher Gemengelagen hatten beide demnach Berührung mit Hausbesetzer*innen. Die Sichtermanns wurden vom Verlag also aus strategischen Gründen engagiert: Nicht jede Person findet auf Anhieb Zugang und Gehör im Bewegungs-Milieu. Doch das vorweg: Sympathischerweise überhöhen die Sichtermanns ihre Rolle nicht, sie inszenieren sich nicht als superkrasse Streetfighter*innen, die schon immer die Speerspitze der Bewegung gewesen sind. Sie nutzen vielmehr ihre Kontakte und den Rekurs auf Ton Steine Scherben, um an authentisches Futter für das Buch zu kommen. Nun ist es keineswegs so, dass hier Neuland betreten wurde oder viele bislang unbekannte Facetten der Hausbesetzer*innen-Szenen zu Tage gefördert wurden. Das Buch will auch eher ein Überblickswerk sein: nicht auf ein Haus oder eine Region beschränkt und lesbar für Nicht-Wissenschaftler*innen. Genau das ist es geworden: ein oft zahmes Lesebuch mit tollen Fotos. Die Sichtermanns haben sich die Städte Berlin, Hamburg, Frankfurt, Köln, Freiburg, Tübingen, München, Hannover, Göttingen und, whoop whoop, Monheim ausgesucht, im Appendix ist dann noch schnell was zur DDR, zu Dänemark, den Niederlanden, der Schweiz und Österreich zusammengeschrieben. Zu den jeweiligen Schauplätzen geben Protagonist*innen in Interviews (z. B. mit Detlef Hartmann) oder Erlebnisberichten (klarerweise dabei: Klaus der Geiger) ihre Sicht der Dinge zum Besten oder die Sichtermanns selbst liefern einen Text. Auf diese Weise entsteht zwar eine gewisse Dynamik, der Spannungsgrad und die Qualität der Texte variieren aber stark, lassen teilweise zu wünschen übrig, und es kommt zu Wiederholungen.

Immer dieses Berlin

Es wird unglaublich viel über Berlin erzählt. Das hat viele charmante zwischenmenschliche Momente, etwa wenn Kai Sichtermann und Bernhard Käßner sich über die bewegten Zeiten im Georg-von-Rauch-Haus unterhalten und überlegen, ob der autonome 1. Mai aus den Mariannenplatzfesten entstanden ist. [Der Startschuss für den Krawallo-1.Mai ist jedenfalls im Jahre 1987 zu verorten, als halb Kreuzberg sich in einem postapokalyptischen Zustand befand und in den Folgejahren Straßenschlachtliebhaber*innen und Revolutionsromantiker*innen anziehen sollte]. Jaja, wir wissen alle, in Berlin war und ist viel los. Aber warum driftet ein vielversprechendes Kapitel über Hausbesetzungen in der DDR dann direkt wieder ab, um von der Mainzer Straße und Konsort*innen zu berichten? Das ist zwar Ostberlin, aber 1990 doch nicht mehr wirklich DDR! Der zu knappe Abschnitt über das „Schwarzwohnen“ in der DDR ist jedenfalls trotzdem super. Streng genommen war Schwarzwohnerei zwar eher eine staatlich zumeist tolerierte Zwischennutzung einer leerstehenden Wohnung, um die real, aber nicht offiziell existierende Obdachlosigkeit zu verhindern. Doch vielleicht wusste noch nicht Jede*r, dass auch unsere one and only Angie Merkel mal schwarzgewohnt hat? Sie brach in eine Wohnung ein, als sie nach der Trennung von ihrem ersten Mann ohne Obdach war. Schade ist außerdem, dass der Osten Deutschlands nach 1990 nur in Randnotizen vorkommt. Gerade in Potsdam gab es doch eine riesige Hausbesetzer*innen-Szene, hätte man da nicht vielleicht München oder Tübingen aussparen können? Da ist die Aussage der Beiträge nämlich: Ähhh, war da was?

Hausbesetzung in der Peripherie: Monheim

Einmal das Buch durchgewälzt, sind die Transferleistungen das Spannende für die Leser*innen. Sie können Vergleiche ziehen zwischen den von Stadt zu Stadt differierenden Strategien von Polizei, Stadtoberen und Hauseigentümer*innen. Beispiel Rote Flora in Hamburg: Die ist de facto immer noch besetzt und konnte, wenn es heikel um ihren Status wurde, ähnlich wie die Hafensträßler*innen, auf breite Bündnisse von Unterstützer*innen zählen, so dass es der Stadt schlichtweg zu anstrengend wurde und die Florist*innen in Ruhe (naja...) ließ. Gleichzeitig wurde die Rote Flora aber zum Standortfaktor im Schanzenviertel, und die „Alten“ erzählen, dass sich heute kaum mehr junge Menschen finden, die wirklich verbindlich mitarbeiten wollen. In anderen Häusern und Städten waren die Besetzungen von kürzerer Dauer, weil Stadt und Polizei kompromissloser vorgingen oder die Besetzer*innen keinen langen Atem hatten. Zu denken geben die Beiträge über die Kölner Hausbesetzungen. Dort existierte ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den autonomen Hausbesetzungen und denen der Sozialistischen Selbsthilfe Köln (SSK). Während die Autonomen ein linksradikales Soziotop aufzogen, band die SSK von vornherein die Nachbar*innenschaft mit ein. Der SSK ging es nicht nur um symbolische Besetzung, sondern auch darum, Wohnraum für Leute mit akuter Wohnungsnot klarzumachen, die zum Teil sogar per Annonce gesucht wurden. So mischten sich dann völlig unterschiedliche Menschen in den besetzten Häusern und nicht nur die üblichen Verdächtigen. Klaus der Geiger weint dieser Vielfalt hinterher und kritisiert den heutigen Szene-Pudding in Köln: „Die sind wirklich sehr, sehr sauber geworden, und dat Jungvolk da, die lassen noch lange nicht jeden mitmachen.“ Das Beispiel Monheim zeigt dann, welche Auswirkungen total ätzende Stadtentwicklungshirngespinste haben. Einwohner*innen aus Düsseldorfs Problembezirken wurden nach Monheim in Plattenbausiedlungen der Neuen Heimat abgeschoben. Für jede*n verfrachteten Menschen zahlte die Stadt Düsseldorf der Stadt Monheim 1.000 DM. Doch das, wer hätte es gedacht, führte Anfang der 1970er Jahre zu Problemen: „Plötzlich gab es eine große Anzahl marginalisierter Mitbewohner und einen unerwarteten Kinderreichtum. Die Masse an jungen Menschen konnte kaum von den wenigen bestehenden (...) Einrichtungen betreut (...) werden.“ Die Folge: vagabundierende und manchmal vandalierende Jugendliche. Hardy Schumacher war Sozialarbeiter in Monheim und versuchte die Jugendlichen einzufangen und ihnen eine Struktur zur Mitgestaltung zu bieten. Er holte Ton Steine Scherben ins Jugendzentrum. Nach dem Konzert wurde das Jugendzentrum besetzt und eine ganze Zeit lang autonom betrieben.

Hausbesetzung zeitgenössisch

Hausbesetzungen werden von tendenziell jungen Menschen gemacht. Es gab eine Zeit, da wurde das dementsprechend als „Jugendbewegung“ bezeichnet. „Passt bloss auf! Was will die neue Jugendbewegung“ von Jürgen Bacia und Klaus-Jürgen Scherer ist 1981 erschienen. Während es beim Sichtermann-Buch durch den zeitlichen Abstand möglich ist, die Hausbesetzungen analytisch zu betrachten und auch zu bewerten (was war gut, was war kontraproduktiv, war die Besetzung „erfolgreich“), gibt das Buch von Bacia und Scherer einen unvermittelteren Eindruck von der damaligen Gefühlslage und den Motiven der Besetzer*innen. Interessant ist, dass „die 81er“ sich von „den 68ern“ abgrenzten. Sie orientierten sich eher an den eigenen Lebensverhältnissen und nicht mehr an abstrakter Politik. Das war „eine radikal neue Haltung, die Triebaufschub und Opferbereitschaft ebenso ablehnt wie bürgerlichen Individualismus und Egoismus.“ Zu handfesten Auseinandersetzungen kam es daher, wenn K-Grüppler*innen und andere Dogmatiker*innen in den besetzten Häusern zu ideologisieren versuchten. Im Buch von Bacia und Scherer wird neben diesem Konflikt außerdem besser als bei den Sichtermanns deutlich, welche immense Bedeutung die Gewaltdebatte für die Besetzer*innen hatte und wie sie sie spaltete. Die Besetzer*innen waren von der moralischen Berechtigung der Hausbesetzung überzeugt. Die Grenzen der Legalität verblassten, denn „was sind Eigentumsrechte von Wohnungsbaugesellschaften gegen das Grundbedürfnis, ein Dach über dem Kopf zu haben?“ Aus heutiger Sicht beeindruckend sind auch die abgedruckten Reden von Willy Brandt und Helmut Kohl. Sie zeigen, dass die Hausbesetzungen als ernstzunehmendes gesellschaftliches Phänomen eingestuft wurden, zu dem Politiker*innen gezwungen waren, sich zu verhalten. Die Reden, insbesondere die Rede Brandts, sind aber auch sprachlich und konzeptuell erstaunlich, weil sie von einer ehrlichen Auseinandersetzung mit den Motiven der Jugendbewegung zeugen - ob man mit den Schlussfolgerungen übereinstimmen mag, ist die andere Frage. Brandt überlegt, wie die Krise der SPD (damals schon!?) überwunden werden, wie auf die Ent-Proletarisierung reagiert werden könne. Er plädiert dafür, keineswegs auf die Werte der Arbeiter*innenbewegung, auf die er sich immer wieder bezieht, wie Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Wärme in sozialen Beziehungen, zu verzichten. Er attestiert den Revoltierenden, dass auch sie dafür kämpfen, aber kritisiert ihren Individualismus und die Missachtung der arbeitenden Bevölkerung und der Gewerkschaften. Auch Helmut Kohl äußert ein gewisses Verständnis, auch er fordert mehr Menschlichkeit und Geborgenheit, dreht das Ganze aber in eine Recht und Sicherheit-Argumentation: „Es ist schlimm, wenn in diesem rechtsfreien Raum offene Gewalt gegen Beamte dieses Staates geübt wird und das Eigentum unbeteiligter Bürger keinen Schutz mehr findet.“ Ein Jahr später wurde Kohl bekanntlich Kanzler und konnte seine Vorstellungen von demokratischer Ordnung 16 knallharte Jahre durchziehen.

Barbara und Kai Sichtermann: Das ist unser Haus. Eine Geschichte der Hausbesetzung 2017, 300 S. Ca. 27 Euro. Jürgen Bacia; Klaus-Jürgen Scherer: Passt bloß auf! Was will die neue Jugendbewegung? 1981, 160 S.