„Straight“

Ai Weiwei im K20 und K21

Eine schwergewichtige Ausstellung zeigt den populären chinesischen Künstler gleich in beiden Häusern der Kunstsammlung NRW

Transportkisten, bestückt mit rostigen Armierungseisen, versperren hermetisch den Raum. Wo bis März noch ein Open Space war, ein Freiraum inklusive einer Infostation rund um das Forschungs- und Ausstellungsprojekt „museum global“, der Gelegenheit bot Kaffee zu trinken, oder sich auf der improvisierten Bühne im Siebdruck zu versuchen, ist jetzt eine Lagerhalle: 164 Tonnen Armierungsstahl füllen die Grabbe-Halle des K20. Da diese nicht als Lagerhalle konzipiert ist, war zuvor eine Prüfung durch einen Statiker notwendig. Die Armierungseisen könnten von jeder x-beliebigen Baustelle stammen, Baurohstoff, wie er tagtäglich zigtausendfach in Containern über die Weltmeere verschifft wird. An der Stirnseite und am Fußende der Halle gibt es einen schma­len Spalt zwischen den Transportkisten, so dass es von hier aus möglich ist, sich im Slalom um die unterschiedlich langen Kisten zu bewegen. Sonst ist nur am äußeren Rand ein schmaler Gang frei. Erst auf den zweiten Blick ist in dem strahlenden Weiß von Decke und Wänden zu erkennen, dass sich an der Längsseite plan aufgebrachte weiße Papierbögen befinden, bedruckt mit winzigen lateinischen Lettern, chinesischen Schriftzeichen und arabischen Zahlen. Sind es Lieferscheine? Börsennotierungen für Stahl? Tatsächlich handelt es sich um die Auflistung der 5.219 Kinder, die in der Provinz Sichuan bei dem Erdbeben vom 12. Mai 2008 in den eingestürzten Schulgebäuden ums Leben kamen. In der hinteren Ecke läuft auf einem Monitor ein Film mit einer Kamerafahrt durch das Erdbebengebiet. In einer weiteren Sequenz ist zu sehen, wie die verbogenen Armierungseisen, die Ai Weiwei aus den Stahlbetontrümmern der Schulen bergen ließ, wieder gerade gerichtet werden. Nun füllen sie die Halle.

„Wir wissen alle, wofür Eisen stehen kann. Gerade in Düsseldorf“, sagte Ai Weiwei im RP-Interview. „Eisen steht für vieles, für Struktur, Gebäude, Industrie – aber natürlich steht es auch für Beschädigung, Verletzung – auch für Krieg.“ (Rheinische Post, 17. März 2019) Es scheint fast, als spiele Ai Weiwei damit auf das Treffen von Thyssen und anderen Industriellen mit Adolf Hitler im Düsseldorfer Industrieclub an.

„Straight“ ist der Titel der Installation. Das lässt an einen „straight“ an Profitmaximierung ausgerichteten Konzern denken, der aus den Trümmern Wiederverwertbares birgt. Oder an einen ebensolchen Staat, der durch eine dezidiert straighte Ausrichtung im kapitalistischen Konkurrenzkampf der Nationen seinen Platz zu behaupten sucht.

Kleiderkammer

Irritierend ist eine Installation im Untergeschoss des K21 (Ständehaus). An 40 Kleiderständern hängen 2.046 Kleidungsstücke. Ai Weiwei hatte sie nach der gewaltsamen Auflösung des Übergangslagers Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze einsammeln lassen, wo die Vertriebenen alles zurücklassen mussten. Gewaschen, geflickt, gebügelt, katalogisiert, sind die Textilien jetzt aufgereiht und mit Zettelchen versehen wie in einer Reinigung oder Kleiderkammer. Keine Spur von den unzumutbaren hygienischen Zuständen in dem überfüllten Lager. Titel der Installation: „Laundromat“. Auf dem Boden Kurznachrichten, die sich Ai Weiwei und sein Team aus verschiedenen Flüchtlingslagern zugeschickt hatten, die Wand ist tapeziert mit tausenden iPhone-Snapshots Ai Weiweis aus Idomeni.

An der hinteren Wand des Nebenraums finden sich auf schwarzer Tapete wie in einem antiken Bilderfries Motive von Flucht und Migration, darunter auch heutiges Militär, bestückt mit modernem Kriegsgerät. Vielem haftet in dem ausschließlich der Geflüchtetenthematik gewidmeten Raum etwas Kunstgewerbliches an. Zentral ist ein 17 Meter langes Schlauchboot aus Bambus und Sisalgarn, gefertigt in einer Technik, die in China vor allem bei der Drachenbaukunst Verwendung findet. Neben Geflüchteten sitzen mythologische Gestalten im Boot. Auf dem Boden liegt ein Autoschlauch. Wie die Kleidungsstücke scheint Ai Weiwei ihn aus dem Meer gefischt und in die Ausstellung verbracht zu haben. Erst aus der Nähe ist erkennbar, dass das Material nicht Luft und Gummi, sondern edler dunkelgrauer Marmor ist. Einem Ertrinkenden zugeworfen, würde dieser „Rettungsring“ ihn nur noch schneller auf den Meeresboden hinabziehen. Alles wirkt in diesem Raum irgendwie absurd und in seiner Ästhetik völlig sinnlos. Die „schönen Sprüche“ rund ums Boot scheinen die Nutzlosigkeit von Spruchweisheiten demonstrieren zu wollen. Ein Bibelvers: „Show hospitality to strangers, for by doing that some have entertained angels“, eine Sure aus dem Koran: „Was not the earth of God spacious enough for you to flee for refuge?“ Joseph Roth: „Nationality is a Western concept. It was an invention of Western European scholars [...].“ Hannah Arendt: „In the first place, we don‘t like to be called ‚refugees‘“, Sokrates: „I am not an Athenian or a Greek, but a citizen of the world“, Nâzim Hikmet: „the train derails,/ the ship sinks/ the plane crashes./ The map is drawn on ice./ But if I could/ begin this journey all over again,/ I would.“

Weltstar mit Betroffenheitsdrang

Der österreichische Standard brachte die Headline: „Der Weltstar mit dem Betroffenheitsdrang.“ In einem Kommentar ereiferte sich jemand, Ai Weiwei geriere „sich als exemplarischer Ankläger unheilvoller Zustände“, mache „Kunst mit menschlichem Leid“, und er stellt fest: „Tatsächlich sind Ethik und Ästhetik jedoch Gegensätze, die einander ausschließen.“ (Standard, 25.05.19)

In dem Raum mit dem Kunstgewerblichen sind auf Monitoren Bilder aus Idomeni und dem „Dschungel“ bei Calais zu sehen. Neben mir konnte ich mehrere Besucher*innen beobachten, deren Blicke immer wieder auf diese Szenen fielen, hier oft länger verweilten als bei dem Kunstschnickschack in ihrem Rücken. Eine Kamerafahrt durch das Flüchtlingslager, Bilder von dessen Auflösung durch die griechischen Behörden. Ich fühlte mich unwillkürlich an das Düsseldorfer Romaprotestlager von 2002 erinnert, bei dem sich Oberbürgermeister Erwin weigerte, Toilettenhäuschen aufstellen zu lassen und dieses erst durch den Protest vieler Gruppen durchgesetzt werden konnte. Es wird gezeigt, wie die eingesammelten Kleidungsstücke in die Waschmaschine gesteckt und gebügelt werden. Auch Schuhe werden von Dreck befreit. Diese finden sich jedoch nicht ausgestellt. Die Analogie zu den Bergen von Schuhen in Auschwitz wäre wohl allzu peinlich gewesen. Auf dem „Calais“-Monitor sehen wir Polizist*innen, mit Schildern und Schlagstöcken bewaffnet, die den „Dschungel“ räumen. In den Reihen der Geflüchteten schlagen immer wieder Tränengasgranaten ein. Wortfetzen der Ausstellungsführerin dringen an mein Ohr. Viele Künstler Europas würden ihre Bronzen wegen der dortigen Dumpinglöhne in China gießen lassen. Dieser Methode bediente sich auch Ai Weiwei, wenn er drei riesige Porzellanvasen und drei Teller nach Wunsch bemalen lässt. In das traditionelle blaue Dekor arbeiteten Billiglöhner*innen Stacheldraht, heutige Kriegsszenen, IS-Kämpfer, die abgeschlagene Köpfen halten, und Europa auf einem Stier reitend, neben ihr Geflüchtete, ein. Kitsch. Es ist ein merkwürdiges Environment, verwirrend, was in Bildern und Tönen hier auf eine*n einwirkt. Es wird gezeigt, wie unter Polizeischutz die Zelte und Behelfsunterkünfte von Baggern beseitigt werden. Der Polizeieinsatz ist von derartiger Brutalität, dass Ai Weiweis Hafttage, die im Raum zum Kaiserteich hin in sechs Stahlkisten mit Puppen nachgestellt sind, auf mich eher harmlos wirkten.

Stinkefinger

Vieles ist irritierend an dieser Zusammenschau. Manches ist aber einfach nur flach, so z.B. ein chinesischer Armeemantel mit eingearbeitetem Kondom, Titel: „Safe Sex“. Oder die Stinkefinger-Fotoserie: Ein Stinkefinger vor der San Marco Basilika, einer vor dem Louvre, ein weiterer vor Westminster, vor dem Kaiserpalast auf dem Platz des Himmlischen Friedens, auch einer im Guggenheim-Museum, im Petersdom, vor dem Sydney Opera House, der Sagrada Familia, der Mona Lisa ... Ai Weiweis Selbstbezogenheit nervt. Das Presseportal der Kunstsammlung bietet nahezu gleichviel Fotos von Ai Weiwei zum Download an wie von seinen Werken. Die Beliebigkeit oder die scheinbare Beliebigkeit von Ai Weiweis Kunstproduktion hat aber auch etwas durchaus Produktives. Wir können unsere eigene Sinneswahrnehmung in den Räumen mit den Veröffentlichungen vergleichen. Wer noch nie eine Lagerhalle von innen gesehen hat, mag bei den mit Armierungsstahl gefüllten Transportkisten an Särge oder Kindersärge denken, wie die Kurator*innen im Pressetext schreiben. Rezensent*innen schrieben dies eifrig ab. „Everything is art. Everything is politics“, beginnt der Pressetext. Auch dies wurde fleißig abgeschrieben. „Everything is Ai Weiwei“ wäre hier allerdings noch pointierter gewesen. Von den Stinkefinger-Fotos steht nur das vor dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing zum Download bereit, was das Handelsblatt auch prompt groß abdruckte. Der erste Satz dieser Rezension: „Ai Weiwei war selbst Flüchtling, als ihn Berlin Ende 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise mit offenen Armen empfing.“ Der Dissident im freien Westen – dies ist der Tenor vieler Artikel. Das artet zuweilen in Kitsch aus. In Düsseldorf sei zu sehen, „wie man Tausende Tränen zu Stahl formen kann“, hieß es in der RP.

Wirklich problematisch ist, dass Ai Weiwei 1.600 Kunsthandwerker*innen in der chinesischen Porzellanmetropole Jingdezhan zweieinhalb Jahre daran setzte, um 60 Millionen Sonnenblumenkerne aus Porzellan in Originalgröße zu formen und mit winzigen Pinseln zu bemalen. Eine stupidere Fronarbeit ist wohl kaum denkbar. So wie Dagobert Duck sich seinen Traum vom allmorgendlichen Bad in Dukaten erfüllte, kann auch Ai Weiwei jetzt in Sonnenblumenkernen baden. Ein sehr schöner Nebeneffekt:

Als chinesischer Dissident mächtig gehypt, strömten bereits in den ersten Tagen Tausende ins K20 und K21, so dass es sowohl in dem mit den Sonnenblumenkernen gefüllten Raum wie auch im Raum mit den Transportkisten (beide K20) notwendig wurde, eine Laufrichtung vorzugeben. Wie chinesische Staatsbeamte sind die Museumswärter*innen nun angewiesen, jedem Besucher und jeder Besucherin Order für Ein- und Ausgang, sowie für die Laufrichtung zu geben.

Where is the Revolution?

Auf dem Cover des Kurzführers prangt ein voranschreitender Ai Weiwei, verbunden mit der Frage: „Where is the Revolution?“ Im RP-Interview stellt Ai Weiwei klar: „Dabei meine ich nicht eine Revolution der Gesellschaft, sondern die des Individuums.“ Gesunde Ernährung, abends Yoga, morgens Tai Chi, hat er sicherlich nicht im Sinn. Greta Thunberg mit ihrer konsequenten Haltung käme wohl am ehesten der Ai Weiweis nahe. Die Aufdeckung der Korruption, die zum Einstürzen der Schulgebäude in Sichuan führte, brachte ihm 81 Tage Haft ein. Wie bereits erwähnt, könnten die Armierungseisen von „Straight“ von jeder x-beliebigen Baustelle der Welt sein. Es könnten auch die aus den Stahlbetontrümmern der Ponte Morandi bei Genua geborgenen sein oder die verschwundenen beim Kölner U-Bahnbau, welche 2009 den Einsturz des Kölner Stadtarchivs mit verursachten. Der Unterschied: In China ist die Korruption staatlich organisiert, im Westen mehr privat, wobei staatliche Behörden zumeist beide Augen zudrücken, wenn sie nicht direkt verwickelt sind.

Thomas Giese

Ai Weiwei
bis 1. September 2019
K20 Grabbeplatz
K21 Elisabeth Str./ Ständehausstr.1
(Kombiticket: Erwachsene 18 Euro, ermäßigt 14 Euro, Kinder 4 Euro)
Di-Fr: 10-18 Uhr, Sa-So: 11-18 Uhr