Notwendiges Übel

Warum und wozu es staatliche Sozialpolitik gibt, damit befasst sich das Buch „Der soziale Staat“.

Die staatliche Sozialpolitik sei ein notwendiges Übel, das dem Funktionieren der unter­nehmerischen Geldvermehrung in der warenproduzierenden Marktwirtschaftsgesellschaft und damit auch der steuerfinanzierten Staatsmacht diene. Zu diesem Zweck relativiere der Sozialstaat die Profitmaximierung der einzelnen Unternehmen an übergeordneten Erfordernissen (wie zum Beispiel an der Erhaltung und Vermehrung des Staats- und Arbeitsvolkes) durch sozialpolitische Interventionen (beispielsweise durch den gesetzlichen Mutterschutz).

Lob und Tadel

So lautet die Quintessenz des Buches „Der soziale Staat. Über nützliche Armut und ihre Verwaltung“, mittels dessen die Sozialwissenschaftler*innen Renate Dillmann und Arian Schiffer-Nasserie in den gesellschaftlichen Diskurs über den Sozialstaat eingreifen wollen. Der wird nämlich dominiert von der Annahme, dass der Sozialstaat eine menschenfreundliche Errungenschaft sei – wenngleich die Meinungen über den Umfang der staatlichen Sozialleistungen auseinandergehen. Denn marktradikale Staatsbürger*innen wünschen eine „Sozialstaatsreform“, weil sich aufgrund der „Rundumabsicherung“ durch den Staat bei den Lohnabhängigen eine „Vollkasko­mentalität“ ausgebildet habe, die der „Leis­tungs­fähigkeit“ des Marktwirtschaftssystems schade. Indessen möchten betroffene Staatsbürger*innen und Sozialverbände, dass die Sozialpolitik des Staates ausgebaut werde, da sie „unterfinanziert“ und „unzureichend“ sei. An diesem systemkonformen Meinungsstreit in Form von Lob und Tadel beteiligen sich die Autor*innen Dillmann und Schiffer-Nasserie nicht, weil sie keine gewöhnlichen Armutsforscher*innen sind, die sich – wie etwa Christoph Butterwegge – als Politikberater*innen begreifen und infolgedessen ihre Wissenschaft letztlich für den Staat betreiben (Seite 28 ff.). Stattdessen treiben Dillmann und Schiffer-Nasserie Wissenschaft über den Staat, indem sie zunächst der Frage nachgehen, warum die Marktwirtschaftsdemokratie eine Gesellschaftsformation ist, die staatliche Sozialpolitik braucht.

Systemische Armut

Die Antwort auf diese naheliegende und zugleich grundlegende Frage, die von der politikberaterischen Wissenschaft nicht systematisch untersucht wird, findet sich in der ökonomischen Beschaffenheit der hiesigen Gesellschaft (Seite 11 ff.). Denn in der Marktwirtschaftsgesellschaft sind zwei gegensätzliche Sozialcharaktere dominant: Unternehmer*innen und Lohnabhängige. Während die einen ihr Geld vermehren wollen, indem sie gewinnbringende Waren oder Dienstleistungen produzieren lassen, sind die anderen gezwungen, ihre Arbeitskraft an interessierte Unternehmer*innen zu verkaufen, um vom Lohn dafür das Leben finanzieren zu können. Weil Unternehmer*innen die Lohnkosten der Arbeitskraft minimieren müssen, um ihren Gewinn zu maximieren und in der Konkurrenz mit anderen Unternehmer*innen zu bestehen, leiden Lohnabhängige unter systemischer Armut. Ihre „Einkommensschwäche“ führt beispielsweise dazu, dass sie staatliches Wohngeld beziehen müssen, da das „Erwerbseinkommen“ nicht langt, um die Miete bezahlen zu können. Mithin wird hierzulande „menschenwürdiges Dasein“ nicht durch die Ökonomie gesichert, vielmehr bedarf es dazu sozialpolitischer Interventionen des Staates, der dergestalt auf soziale Notlagen reagiert, die dem Mangel an Geld geschuldet sind. Eigentlich ist dieser wunderliche Umstand ein Armutszeugnis und also ein Grund dafür, die marktwirtschaftliche Produktionsweise zu kritisieren. Für gewöhnlich jedoch dient er dazu, ein Loblied auf die „kompensatorischen Leistungen“ des menschenfreundlichen Sozialstaates anzustimmen.

Sozialstaatsinterventionen

Dass aber der Sozialstaat keine menschenfreundliche Einrichtung, sondern ein notwendiges Übel ist, legen Dillmann und Schiffer-Nasserie im zweiten Teil ihres Buches dar, in dem sie sich mit neun Kernbereichen der staatlichen Sozialpolitik – zum Beispiel „2.5 Krankheiten“ – befassen (Seite 33 ff.). In ihrem Fazit halten die Autor*innen fest, wozu es den Sozialstaat gibt: „Mit seiner Sozialpolitik will der moderne Staat seine Bürger erstens in die Lage versetzen, überhaupt an der Einkommenskonkurrenz um Geld, als die er seine Wirtschaft eingerichtet hat, teilzunehmen und zweitens die Schadensfälle dieser Konkurrenz betreuen“ (S. 152). Folglich geht es bei den Sozialstaats­interventionen nicht um die Überwindung der Ursachen der sozialen Notlagen, die den ökonomischen Grundlagen der kapitalistischen Marktwirtschaftsgesellschaft entspringen, sondern um den Erhalt der Funktionsfähigkeit dieser Gesellschaft mittels Verwaltung der fürs Wirtschaftssystem nützlichen Armut, die das Leben der Lohnabhängigen bestimmt. Dergestalt engagiert sich die staatliche Sozialpolitik für die unternehmerische Geldvermehrung, die der Zweck der herrschenden Produktionsweise ist, für den die lohnabhängigen Menschen als „variables Kapital“ instrumentalisiert werden. Die historischen Etappen der systemstabilisierenden deutschen Sozialpolitik – von der Armenfürsorge in frühkapitalistischer Zeit bis zur Umwandlung in eine Geschäftssphäre heutzutage – lassen sich im dritten und letzten Teil des Werkes studieren.

Nutzanwendung

Da die Autor*innen ihre Schrift als Lehrbuch für Studierende des Sozialwesens und der Sozialwissenschaften konzipiert haben, ist das Buch so gestaltet, dass Informationen schnell zu finden sind. Hierzu werden zentrale Textstellen grau unterlegt sowie jedes Kapitel und Unterkapitel mit einem Fazit beziehungsweise Zwischenfazit abgeschlossen. Aufgrund dieser leser*innenfreundlichen Gestaltung eignet sich das wissenschaftliche Werk, das sich theoretisch mit dem Gegenstand „Sozialstaat“ beschäftigt, hervorragend für die politische Praxis, die auf Klassenpolitik statt auf Identitätspolitik den Fokus legt. Denn Argumente gegen den vorherrschenden „Sozialstaatsidealismus“, durch die bei den lohnabhängigen Frauen und Männern in den hiesigen Produktionsstätten Klassenbewusstsein erzeugt werden kann, sind rasch und in großer Anzahl zu finden. Die Erzeugung von proletarischem Klassenbewusstsein aber ist unabdingbar, um aus der Lohnarbeiter*innenklasse an sich eine Klasse für sich zu machen, die in der Lage ist, der kapitalistischen Produktionsweise mitsamt der unternehmerischen Geldvermehrung als deren Zweck den Garaus zu machen – wodurch dann auch die fürs Profitmachen nützliche Armut der Lohnabhängigen sowie deren Verwaltung mittels staatlicher Sozialpolitik abgeschafft werden könnten.

Franz Anger

Renate Dillmann, Arian Schiffer-Nasserie: Der soziale Staat. Über nützliche Armut und ihre Verwaltung
Hamburg: VSA-Verlag 2018, 304 Seiten, Hardcover, 19,80 Euro