Kampf um Rojava, Kampf um die Türkei

Viel wird über die Türkei und die Kurd*innen berichtet. Das Verständnis was dort und vor allem wie und warum es passiert, fehlt jedoch meist. Der Grund liegt unter anderem in den teilweise gravierenden Unterschieden der gesellschaftlichen und politischen Koordinaten im Vergleich zu Europa bzw. Deutschland. Das Buch „Kampf um Rojava, Kampf um die Türkei“ greift genau da ein. In kurzen Essays werden verschiedene Aspekte der türkischen Politik beleuchtet, die häufig in Debatten und Berichten außen vor bleiben. Insbesondere mit Blick auf die vor kurzem stattgefundene Oberbürgermeisterwahl in Istanbul (siehe auch S. 14) haben die Autor*innen mit ihren Texten, die letztes Jahr geschrieben wurden, richtig analysiert. Wie fragil die Macht der AKP ist zeigte sich auch schon in den vorherigen Wahlen, wie Axel Gehring in dem Band ausführlich analysiert. Mit ihrer Rhetorik, alle zu ihren Feinden bzw. gleich zu Terroristen zu erklären, die sich nicht hinter sie stellen, erreicht die AKP immer weniger Menschen. Das zeigte sich auch in Istanbul, wo der OB Kandidat İmamoğlu der oppositionellen CHP selbst in islamistisch-nationalen Stadtvierteln die Mehrheit errang. Im Wahlkampf ließ er sich nicht auf das Freund/Feind-Denken der AKP ein, so daß deren bisher erfolgreiche Strategie nicht verfangen konnte. Die Strategie wird von Mahir Tokatlı genau beschrieben: wie sie bisher funktionierte und warum sie nun zu scheitern beginnt und Erdoğans Anhänger*innenschaft immer weniger erreicht. Genauso scheitert gerade die Wirtschaftspolitik und auch die Außenpolitik wie Alp Kayserilioğlu herausarbeitet. Erdoğan bewegt sich in vielen Bereichen – gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich – immer mehr in eine Sackgasse, darin sind sich alle Autor*innen einig. Trotzdem die Medien weitgehend gleichgeschaltet wurden, die Repression enorm hoch ist und mittlerweile jede*n treffen kann, es eine reine Willkürjustiz gibt, viele NGOs verboten wurden, ist die zivilgesellschaftliche Mobilisierung nicht totzukriegen. Ein bedeutender Faktor sind dabei die Frauen und die LGBT-Bewegung. Sie sind eine der wichtigsten treibenden Kräfte in der Türkei, wie Meral Çınar zutreffend beschreibt. Weitere wichtige Akteur *innen sind die Kurd*innen, die trotz massiver Repression, ein Machtfaktor sind und mit ihrer puren Anwesenheit zum Feindbild der AKP gehören, auf deren Rücken sozusagen Politik gemacht wird. Das gilt gleichermaßen innerhalb der Türkei wie außerhalb. Ismail Küpeli, der Herausgeber des Buches, bringt es im Titel auf den Punkt: Hauptsache die Kurd*innen verlieren. Und zu verlieren haben sie viel. Rosa Burç beschreibt die Errungenschaften im nordsyrischen Rojava: wie dort der so genannte „Demokratische Konförderalismus“ funktioniert und damit versucht wird, ein neues Gesellschaftsprojekt aufzubauen. Kerem Schamberger berichtet über den Aufbau neuer Medienstrukturen in Rojava, die insbesondere wichtig sind, um einen anderen Blick auf das Geschehen zu werfen, als es die internationale Presse tut. Wie schwierig es ist, eine faktische Informationssperre zu durchbrechen, zeigte sich beim letztjährigen Einmarsch der Türkei in Afrin und den damit einhergehenden Gräueltaten. Darüber berichtet in einem bewegenden Artikel der Arzt Michael Wilk.

Das Buch gibt einen interessanten Einblick in die aktuelle Situation und Politik der Türkei. Gleichzeitig werfen die Artikel einen Blick in die Zukunft: was kann noch passieren? Wie kann es weitergehen? Unbedingt lesenswert!

Kampf um Rojava, Kampf um die Türkei
Ismail Küpeli (Hg.), edition assemblage, 7,80 Euro