TERZ 11.19 – KURDISTAN
Seit dem 9. Oktober greift die türkische Armee die kurdischen Gebiete in Nord-Syrien an. Möglich wurde dies durch den verkündeten Rückzug der US-Armee. Es blieb nicht der einzige Verrat in diesem schmutzigen Spiel. Seitdem gibt es weltweit Proteste, auch in Düsseldorf. Moralisch sind die Kurd*innen die Sieger, aber was haben sie davon?
Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es. Doch auf die Kurd*innen trifft das nicht zu. Schon oft in ihrer Geschichte gab es Versprechungen und Massaker. Schon oft sollten sie ausgerottet werden. Sie sind immer noch da. Auch jetzt wird die kurdische Bewegung überleben, ganz gleich, was da die nächsten Wochen und Monate noch kommen möge.
Von Anfang an gab es Kritik an der Zusammenarbeit der Kurd*innen mit den USA. Und einige dürften jetzt frohlocken: Wir haben es doch gleich gesagt. Nur, was blieb den Kurd*innen im September 2014 anders übrig, als die dschihadistische Organisation „Islamischer Staat“ (IS) die Grenzstadt Kobanê angriff und es wirklich nach einer totalen Niederlage aussah. Weder der militärisch angeschlagene syrische Despot Assad noch der damals in Syrien kaum beteiligte Putin rührten einen Finger. Und schon damals frohlockte Erdoğan über das scheinbar nahe Ende der Kurd*innen. In dieser Zeit war auch dem damaligen US-Präsidenten Obama klar, dass es eine Streitmacht auf dem Boden bräuchte, um dem IS Einhalt zu bieten. Die Türkei weigerte sich, machte sie doch hervorragende Geschäfte mit den Islamist*innen und unterstützte sie mit Geld, Waffen und dem freien Durchlass für weltweit anreisende Kämpfer*innen, die sich dem IS anschließen wollten. Mit der militärischen Unterstützung der USA und dem unbedingten Willen, den IS zu besiegen, gewannen die Kurd*innen Dorf für Dorf, Stadt für Stadt zurück. 11.000 Kämpferinnen und Kämpfer hat Rojava im Kampf gegen den IS verloren.
Gleichzeitig mit den Erfolgen ihrer Kampfeinheit YPG und dem weiblichen Pendant YPJ bauten sie in den befreiten Gebieten, genannt Rojava, eine neue Gesellschaft auf. Gerade für die Frauen begann eine neue Zeit. In einer, auch in den kurdischen Siedlungsgebieten, tief patriarchal geprägten Gesellschaft ermächtigten sie sich selbst, griffen selber zu den Waffen, um gegen den verhassten IS zu kämpfen, der Frauen wieder versklaven wollte. Die Frauen waren die Triebfeder der Revolution und sorgten für den gesellschaftlichen Umbau. Sichtbares Zeichen sind die Besetzung von Führungspositionen mit jeweils einer Frau und einem Mann, die gleichberechtigt entscheiden. Mit der Gründung von verschiedenen Räten soll allen Menschen in der Gesellschaft eine Stimme gegeben werden. Probleme, auch der kleinsten Art, sollen gemeinschaftlich und solidarisch gelöst werden. Natürlich funktioniert das nicht mal eben so. Widerstände, Skepsis, auch Feindschaft waren von Anfang an vorhanden. Es läuft nicht immer alles rund. Aber, und das ist das Wichtige, es wird versucht, alle Probleme mit allen gemeinsam zu lösen.
Am Besten sieht man die Erfolge in der Zusammenarbeit mit anderen Bevölkerungs- und/oder religiösen Gruppen. In dem Gebiet, das heutzutage Rojava umfasst, sind ganz unterschiedliche Ethnien und Religionen zu finden. Jahrzehntelang hat Assad versucht, Rivalitäten zwischen den unterschiedlichen Gruppen zu fördern, um eine Einheit zu verhindern. In Rojava hat jedoch jede*r eine Stimme bekommen. Es herrscht beispielsweise Religionsfreiheit. Verschiedene Ethnien haben eigene Kampfverbände aufgestellt und beteiligen sich am Kampf gegen den IS bzw. jetzt gegen die Türkei und deren dschihadistische Verbündete. Sie alle wissen, was sie zu verlieren haben, wenn die „Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien“ zerstört wird. In Rojava ist für die gesamte Region ein einzigartiges demokratisches Gebilde entstanden. Die Demokratische Föderation Nordostsyriens (Rojava) steht beispielhaft für die Vision eines friedlichen und demokratischen Mittleren Ostens. Sie könnte Vorbild sein für viele Länder, auch für die Türkei. Und genau davor fürchtet sich Erdoğan. Er befürchtet ein Überschwappen der demokratischen Forderungen auf die Türkei. Dass in dem NATO-Land Türkei nicht gerade demokratische Verhältnisse herrschen, ist hinlänglich bekannt. Hunderte Journalist*innen im Gefängnis, Wahlen werden annulliert, eine freie Presse ist nicht mehr vorhanden, Unterdrückung jeglicher demokratischer Forderungen, Hunderttausende in den Knästen, etc. Erdoğan steht politisch und wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand. Sein einziger Ausweg ist extremistische Nationalisierung seiner Politik nach innen und außen. Opfer sind dabei hauptsächlich die Kurd*innen. Erdoğan ist der IS näher als die Kurd*innen, das machte er immer klar. Seit Beginn hat die Türkei (und auch der Westen) die unterschiedlichsten Islamist*innen in Syrien unterstützt, um das syrische System unter Assad zu stürzen. Später hat die Türkei sogar offen den IS unterstützt. Als die Kämpfer*innen der Kurd*innen immer mehr Land zurückgewannen, schloss Erdoğan die Grenzen, um sie möglichst auszuhungern. Seitdem wartete er auf die Chance, nach Syrien einzumarschieren und Rojava zu zerstören.
Diese Chance kam, als Trump bekannt gab, sich aus Syrien zurückzuziehen. Die USA behaupteten immer wieder, verlässlicher Partner der Kurd*innen zu sein. Jetzt haben die Kurd*innen ihren Dienst getan, den IS zu bekämpfen, jetzt gehen die USA und lassen sie allein. Für jeden war klar, was passieren wird, und dass die Kurd*innen und ihre Verbündeten keine Chance gegen die hochgerüstete NATO-Armee der Türkei haben. Der von Washington ausgehandelte „Waffenstillstand“ erfüllte letztendlich alle Forderungen Erdoğans und gab der Türkei freie Hand. Die türkische Armee begeht seitdem Kriegsverbrechen, indem sie zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser, die Wasserversorgung und die Stromzufuhr bombardiert sowie gezielt Zivilist*innen angreift. Mindestens 200.000 Menschen sind auf der Flucht. Es ist ein völkerrechtswidriger Krieg. Von Rojava ging zu keiner Zeit Gefahr aus. Eine Chance, die Eindringlinge wirksam zu bekämpfen, wäre die Einführung einer Flugverbotszone gewesen, was die USA und Russland aber ablehnten. Auch die Forderung Erdoğans nach einer ethnischen Säuberung der Region wurde von den USA abgesegnet. Was dies bedeutet, zeigt die syrische Region Afrin, die die Türkei vorletztes Jahr erobert hat. Dort terrorisieren und ermorden nun dschihadistische Gruppen die verbleibende Bevölkerung. Die Führung von Rojava versuchte nach dem Einmarsch, einen Deal mit Assad zu machen. Auch dies ist wieder aus der Ausweglosigkeit der Lage geboren. Die Kurd*innen erinnern sich noch zu Genüge an das despotische System von Assad. Mit der Annäherung an Assad war jedoch die Hoffnung verbunden, dass Russland der Türkei Einhalt gebietet.
Mit dem Friedensabkommen zwischen der Türkei und Syrien wird die Zerschlagung Rojavas besiegelt. Nur unwesentlich unterscheidet sich das Abkommen mit dem der USA. Die Türkei kann die bis jetzt eroberten Gebiete behalten, an der restlichen Grenze sollen türkische, syrische und russische Truppen kontrollieren. Die Verbände der Kurd*innen sollen sich aus der Region in ein 30 km entferntes Gebiet zurückziehen. Dort ist vor allem Wüste. Bezeichnend ist, dass in beiden Fällen nicht mit, sondern über die Kurd*innen verhandelt wurde. Es ist wie ein Rückfall in die Zeit des klassischen Imperialismus, von der nicht wenige bisher meinten, dass diese vorbei sei. Dazu passt nur zu gut die Ankündigung von Trump, die Ölquellen im Osten Rojavas militärisch schützen zu wollen. Und perfiderweise baut er dabei auch wieder auf die Mithilfe der Kurd*innen – zum Glück vergeblich. Ölquellen sind halt wichtiger als Menschen.
Es ist bezeichnend, dass die Türkei mit als erste militärische Maßnahme die Spezialeinheiten der Kurd*innen angriff, die den IS bekämpfen. Gleichzeitig wurden Gefangenenlager mit IS-Kämpfer*innen angegriffen, um ihnen die Flucht zu ermöglichen. Seit Monaten fordert Rojava die Heimatländer der IS-Leute auf, diese zurückzunehmen. Nur wenige Staaten haben dies getan. Deutschland weigerte sich kategorisch, auch nur indirekte Kontakte mit der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien aufzunehmen. Zu groß war die Angst, Erdoğan zu verärgern. Zu wichtig ist der Handel mit der Türkei, zu wichtig der schmierige Geflüchteten-Deal. Den wollen Merkel & Co. nicht gefährden. Deshalb macht sich Deutschland zum Handlanger von Erdoğan. Jetzt hat mensch aber ein Problem. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die entkommenen IS-Kämpfer*innen irgendwann auch in Europa auftauchen.
Durch den von Erdoğan geführten Krieg werden auch die Sicherheitsinteressen Deutschlands und der EU berührt. Jetzt fällt ihnen auf die Füße, dass sie jede Chance, dem Despoten Erdoğan die Grenzen aufzuzeigen, willentlich verpasst haben. Und auch jetzt werden keine Handelsbeschränkungen gegen die Türkei verhängt, keine Strafzölle, kein wirkliches Waffenexportverbot. Nichts wird gemacht. Aber es kam ein Vorschlag der Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer für eine Sicherheitszone in Nord-Syrien. Was für eine Farce! Offensichtlich ist es einigen Leuten noch nicht ganz klar, dass der Westen in Syrien politisch nichts mehr zu melden hat. Ohne Russland geht gar nichts.
Währenddessen gibt es in Deutschland die „Furcht“, dass der Krieg zwischen Kurd*innen und Türk*innen auf den hiesigen Straßen ausgetragen wird, ganz so, als habe Deutschland mit der ganzen Situation nichts zu tun. Gezielt fördert die Türkei die Spannungen. Mittels der knapp 1.000 DITIB-Moscheen, die dem türkischen Staat unterstehen, werden Lobgesänge auf die türkische Armee angestimmt. Kurdische Demonstrant*innen werden von türkischen Nationalist*innen und Faschist*innen bedroht und provoziert, um die Situation eskalieren zu lassen. Denn für die deutschen Sicherheitsbehörden sind die Kurd*innen und ihre Unterstützer*innen das Feindbild. Sowohl das positive Bild, das die Kurd*innen mit ihrem Kampf insbesondere gegen den IS in Deutschland vermitteln, als auch das negative Bild, das Erdoğan & Co. abgeben, sollen gezielt zerstört werden. Damit es dann wieder heißt: Die bösen Kurden*innen. Exemplarisch ist das Verhalten des Kölner Polizeipräsidenten Uwe Jacob, der im Vorfeld der Demonstration am 19. Oktober in Köln eine beispiellose Hetze vom Stapel ließ. Am Abend vor der Demonstration, die sich gegen den türkischen Angriffskrieg richtete, warnte er, dass es in Köln zu Auseinandersetzungen kommen könnte. Auch ein Verbot aufgrund von angeblichen Informationen über „Gewalttäter“ schloss er nicht aus. Belege dafür lieferte er nicht. Die Demonstration blieb wie angekündigt friedlich. Selbst die Rheinische Post kritisierte in einem Kommentar das Verhalten des Polizeipräsidenten. Auch in Düsseldorf bemerkt mensch einen anderen Umgang mit den Demonstrationen gegen den türkischen Krieg. Fast jeden Tag finden, meist am Hauptbahnhof, Kundgebungen und Demonstrationen statt. Zuerst waren Flaggen der YPG und YPJ erlaubt, jetzt kommt es immer wieder zum Versuch des Verbotes dieser Flaggen, was jedoch keinerlei rechtliche Grundlage hat, wie mehrere Gerichte festgestellt haben. Davon zeigt sich die Düsseldorfer Polizei unbeeindruckt und beweist so erneut ihren merkwürdigen Umgang mit Recht und Gesetz. Die Demonstrationen werden weitergehen. Teilnahme oder wenigstens Anteilnahme sind erwünscht. Viele der hier lebenden Kurd*innen haben in Rojava Angehörige und Freund*innen. Außerdem ist nicht auszuschließen, dass es auch in Düsseldorf zu Provokationen und Angriffen von türkischen Nationalist*innen und Faschist*innen kommt. Auch hier gilt es wachsam zu bleiben – denn Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.
Die kurdische Organisation Kurdischer Roter Halbmond versorgt die Verletzten in Rojava und benötigt dringend Geld:
Heyva Sor a Kurdistanê e. V.
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