Keine Verwechslung!

Am 6. Juli 2018 wurde Amad Ahmad ohne jede rechtliche Grundlage eingesperrt. In Haft blieb er bis zum 17. September, als ein Brand in seinem Haftraum in der Justizvollzugsanstalt Kleve ihn lebensgefährlich verletzte. Er starb zwölf Tage später. Politik, Exekutive und Medien sprechen von einer tragischen „Verwechslung“. Wer aber die Inhaftierung von Amad Ahmad als das Ergebnis einer „Verwechslung“ verkauft, wird sich für grobe Widersprüchlichkeit rechtfertigen müssen.

In 15 Sitzungen haben sich die Mitglieder des „Parlamentarischen Untersuchungsausschuss Kleve“ (PUA Kleve) bis Ende Dezember 2019 die „Mühe“ gemacht, sich mit der wochenlangen unrechtmäßigen Inhaftnahme und dem späteren Tod von Amad Ahmad zu beschäftigen. Ihr Aufklärungswille ist dabei weder präzise geschärft noch uneigennützig. Es ist deutlich spürbar, dass die Opposition am Koalitionsgerüst sägt, dass die Regierung sich verteidigt und jede Verantwortung empört von sich weist.

Verfälscht!, nicht fehlerhaft

Bisher ging der Ausschuss chronologisch vor. So befragte er etwa früh Polizeibeamt*innen der Bundespolizei Düsseldorf und der Polizei in Krefeld zu einer Personenkontrolle, in die Amad Ahmad zwei Tage vor seiner Inhaftierung geraten war. Die Beamt*innen hatten ihn am 4. Juli 2018 am Hauptbahnhof in Düsseldorf und am Bahnhof in Krefeld festgehalten, weil er zu einer Bahnfahrt keinen gültigen Fahrschein vorweisen und sich nicht hatte ausweisen können. Die Polizei in Krefeld nahm ihn darum am selben Tag mit auf die dortige Wache, ließ in abends wieder gehen. Nicht, ohne ihn zuvor einer erkennungsdienstlichen Behandlung zu unterziehen (TERZ 10.19).

Viele Stunden widmete sich der Ausschuss dann der Frage, wie der Datensatz zu „Amad A.“ im nordrhein-westfälischen polizeilichen Datensystem ViVA und im bundesweiten System INPOL verfälscht worden ist. Denn (ausgerechnet?) am Abend des 4. Juli 2018, an dem Tag also, als Amad Ahmad in Düsseldorf und Krefeld aufgegriffen und in Krefeld ED-behandelt worden war, führte eine Sachbearbeiterin in der Polizei Siegen bei ihrer Arbeit am NRW-Polizeidatensystem ViVA zwei Personendatensätze zusammen, die Amad Ahmads „Führungspersonalie“ betrafen – also jene Daten, mit denen eine Person eindeutig einem einzigen Datensatz zugeordnet ist, auch wenn es mehrere Alias-Namen gibt (die wiederum in einer sogenannten „Datengruppe“ zusammengefasst abgebildet werden).

Wie die Politiker*innen im PUA Kleve die bisher erhobenen Informationen zu bewerten gedenken – als bedauerliche „Datenpanne“, als „fehlerhafte Eingabe“ in einem zu komplizierten, neuen NRW-Datensystem, als Verfälschung, oder als Manipulation –, ließen sie bis Ende Dezember 2019 in ihren Äußerungen im Ausschuss oder gegenüber Presse, Funk und Fernsehen kaum durchblicken. Falls sie überhaupt vorhaben, jemals eine zugespitzte Bewertung vorzunehmen.

November: Ruhe trotz Justizskandal

Im November 2019 machten die Polizeibeamt*in­nen, die Amad Ahmad am 6. Juli 2018 in Geldern festgehalten hatten, als Zeug*innen des Ausschusses eine*r nach dem und der anderen von ihrem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch. Die Ausschussmitglieder nahmen es gelassen hin, beharkten einander allenfalls zu ihren jeweiligen „Rechtsauffassungen“ zum Zeugnisverweigerungsrecht und zu ihrer Treue zum Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, ganz im Interesse ihrer jeweiligen Oppositions- und Regierungspartei-Politik.

Inzwischen sind die Strafermittlungsverfahren gegen die Gelderner Polizist*innen eingestellt. Die zuständige Staatsanwaltschaft will den Anfangsverdacht nicht bestätigt sehen, dass die Beamt*innen für die unrechtmäßige Inhaftnahme von Amad Ahmad in strafrechtlichem Sinne zur Verantwortung zu ziehen seien. Bisher ist nicht bekannt, ob der Ausschuss sie nun noch einmal laden will. Jetzt, da sie nicht länger auf ihr Recht pochen können, sich während eines laufenden Verfahrens nicht selbst belasten zu müssen.

Die Familie des Toten hat inzwischen auf dem Rechtsweg Beschwerde gegen die Einstellung der Strafermittlungen gegen die Polizeibeamt*innen eingelegt. Ihre Rechtsvertreter*innen äußerten gegenüber dem „Spiegel“, dass die Staatsanwaltschaft sich ihrer Einschätzung nach nicht hinreichend damit auseinandergesetzt habe, welches „pflichtwidrige Verhalten“ zur falschen Inhaftierung von Amad Ahmad geführt habe. Vielmehr sei anzunehmen, so die Kölner Kanzlei um Sven Tamer Forst und Eberhard Reinecke, dass in den ‚Ermittlungen‘ gegen die Beamt*innen „vor allen Dingen ein offensichtlicher Justizskandal kleingeredet“ werde. („Spiegel ONLINE“ v. 18.11.2019). Es steht zu befürchten, dass die Familie von Amad Ahmad und ihre Anwälte richtig liegen.

Dezember: Nicht gelesen, nicht nachgefragt

Am 4. Dezember 2019 hörte der Ausschuss eine Sachbearbeiterin des LKA Hamburg und eine Rechtspflegerin der dortigen Staatsanwaltschaft. Die Sachbearbeiterin hatte nach dem 6. Juli 2018 die Haftvollzugsmeldung bearbeitet, mit der dem LKA Hamburg von der Polizei in NRW mitgeteilt worden war, dass ein in Hamburg gesuchter Mann in Kleve in Haft genommen worden sei – unter dem Pseudonym „Amed Amed“. Auf diese Meldung hin überschrieb die Sachbearbeiterin im dortigen, landeseigenen LKA-Datensystem POLAS die Datengruppe, in der zu jeder „Führungspersonalie“, also dem Hauptdatensatz, etwaige Alias-Namen geführt werden. Damit fügte sie der Führungspersonalie des gesuchten Mannes aus Mali einen Vor- und Nachnamen in der Alias-Datengruppe hinzu, der dem Namen von Amad Ahmad aus Nordrhein-Westfalen ähnlich war, überschrieb einen anderen.

In der selben PUA-Sitzung berichtete die Rechtspflegerin L., dass sie für die Staatsanwaltschaft Hamburg zwei Mal in NRW nachgefragt habe, ob die dortigen Polizei- bzw. Justizvollzugsbehörden sicher sagen könnten, dass die Identität des Mannes, der in der Zwischenzeit in der JVA Kleve eingeknastet worden war, zweifelsfrei geklärt sei – und welche Belege dafür in NRW vorlägen. Sie habe daraufhin die Auskunft bekommen, dass Belege nicht zur Verfügung stünden. Ein Ausweisdokument, mit dessen Übersendung in Kopie die Rechtpflegerin gerechnet hatte, hätte es in NRW offenbar nicht gegeben. Damit war der „Fall“, für die Rechtspflegerin ein „ganz normaler Vorgang, wie bei anderen Sachen, die nicht eilig sind“: erledigt.

Dass der Haftmeldung aus NRW die Auszüge aus der polizeilichen Datenbank beilagen, hatte sie dabei gar nicht erst registriert. Obwohl die Angaben dort ungewöhnlich lang waren. Denn hier waren die Daten zu Amad Ahmad und zu dem in Hamburg Gesuchten vermischt worden. Auf wessen Anweisung die beiden Datensätze in der NRW-Polizeidatenbank ViVA durch die Dateneingabe-Stelle in Siegen zusammengefügt worden sind, ist bis heute unklar. Hätte L. in Hamburg den Fax-Anhang durchgesehen, hätte ihr auffallen müssen, dass dort unterschiedliche Personenbeschreibungen zusammengebracht worden waren – ein untrüglicher Hinweis darauf, dass die Identität des Mannes, der in Kleve in Haft verbracht wurde, von der Polizei in NRW zuvor eben nicht zweifelsfrei geklärt worden war. Ihr Vorgesetzter, Oberstaatsanwalt M., seines Zeichens Leiter der Vollstreckungsabteilung, ergänzte zu diesem Punkt: Die Datensatz-Auszüge seien für die staatsanwaltschaftliche Arbeit zumeist nicht relevant. Bislang sei auch „noch keine Fehler“ daraus „erwachsen, dass diese drei, vier Seiten keiner liest.“

An die Backe geklebt?

Auch mit der 15. Ausschuss-Sitzung sind heute zwei entscheidende Punkte offen:

1. Es ist bislang immer noch kein Beleg dafür aufgetaucht, dass die Verknüpfung der Personendaten von Amad Ahmad mit denen des in Hamburg Gesuchten nicht in NRW hergestellt worden ist. Vor allem aber wissen wir immer noch nicht: warum! Amad Ahmad war weder als Person noch als „Datensatz“ „polizeilich“ jemals in Norddeutschland. Es gibt keinerlei Hinweis darauf, warum seine Daten ausgerechnet am Abend des 4. Juli 2018 (dem Tag, als er an den Bahnhöfen in Düsseldorf und Krefeld aufgegriffen worden war) in der ViVA-NRW-Datenbank ausgerechnet mit denen eines Mannes verbunden wurden, der in einem anderen Bundesland per Haftbefehl gesucht wurde. Wohlgemerkt: ohne dass zu diesem Zeitpunkt die Daten des zwei Tage später in Geldern unrechtmäßig inhaftierten Amad Ahmad in Hamburg überhaupt nur vorgelegen hätten. Sie kamen erst nach dem 6. Juli mit der Haftvollzugsmeldung aus NRW in Hamburg an und wurden erst am Montag darauf dort bearbeitet. 2. ist mehr denn je klar – und öffentlich ausgesprochen über die Aussagen der Hamburger Zeug*innen –, dass Innenminister Herbert Reul wissentlich eine falsche Behauptung in die Welt setzt, wenn er im Brustton der Überzeugung öffentlich äußert, dass die Daten von Amad Ahmad von den Hamburger Behörden verändert worden seien und dass diese Veränderung ursächlich für die Inhaftnahme von Amad Ahmad gewesen sei. So, wie er es am 10. April 2019 in einer Fragestunde im Landtag behauptet hatte, ist es nachweislich nicht gewesen. Damals hatte er jede Verantwortung seitens der NRW-Polizei weit von sich gewiesen. Man könne „seinen“ Polizeibeamt*innen „nicht einfach etwas an die Backe kleben, was sie nicht zu verantworten“ hätten.

Wo ist Mali?

Nichtsdestotrotz blieb es auch zwei Wochen später im Ausschuss merkwürdig ruhig – still und starr, vorweihnachtlich gelassen –, selbst als nun zur inzwischen 15. PUA-Kleve-Sitzung ein Justizbeamter aus dem Haftvollzug in der JVA Geldern, der heute ehemalige JVA-Leiter Sch., der Anstalts-Arzt, eine Psychologin und eine Krankenpflegekraft aus der Justizvollzugsanstalt Geldern neuerlich keine gute Figur für die NRW-Behörden abgaben. Sie alle berichteten darüber, wie die Polizei Amad Ahmad am Abend des 6. Juli 2018 in die JVA Geldern eingeliefert hatte (bevor er fünf Tage später in die JVA Kleve verlegt wurde, die als Anstalt für kürzere Haftstrafen zuständig ist), in Badehose, vom Badesee weg (TERZ 10.19) erst zur Polizeiwache, dann rasch in den Knast in Geldern. Dort wurde Amad Ahmad noch am Abend in den „BGH“, einen besonders gesicherten Haftraum gesteckt, in dem „ein Bett, eine offene Toilette und ein Schlafanzug“ seien. Wo die Kameraüberwachung rund um die Uhr nicht von den Häftlingen lasse, die dort zu ihrem eigenen Schutz – bei Hinweisen auf Suizidalität etwa – „besonders gesichert“ würden. Ein Ort, so äußerten die Zeug*innen einstimmig, der für die Inhaftierten die drastischste Maßnahme des Freiheitsentzuges verkörpere.

Aufgefallen war in der JVA Geldern bereits am Freitagabend, dass im Haftbefehl-Vermerk verschiedene Namen gestanden hätten. Darum habe der diensthabende Justizvollzugsbeamte Amad Ahmad die genannten Namen vorgelesen. Dieser habe bestätigt, dass er er selbst sei, habe nicht protestiert, dass sein Name nicht stimme. So habe man ihn also als „Amed Amed“ in die Haftdatenbank aufgenommen. Dass der Geburtsort „Mali“ und der von Amad Ahmad angegebene Geburtsort „Aleppo“ nicht identisch seien, hätte den Justizer*innen nicht unbedingt auffallen müssen. Heute meint der ehemalige Anstaltsleiter Sch., dass er sich nicht sicher sei, ob „alle Mitarbeiter [der JVA Geldern] so viele Erdkundekenntnisse haben, dass sie wissen, wo Mali liegt.“
Und dann war Weihnachten. Zeit für Märchen und Geschichten.

Geschäftig klappern

Nach den Weihnachtstagen machte der „Westdeutsche Rundfunk“ nun mit der Meldung auf, dass die SPD im Landtag von Nordrhein-Westfalen den Rücktritt von Justizminister Biesenbach fordere. Für die SPD nehme Biesenbach „den Fall Kleve […] bis heute nicht ernst“. Sven Wolf, Obmann der SPD im PUA Kleve twitterte am 27.12.2019, dass dem Justizminister der schwarz-gelben Regierung Glaubwürdigkeit und Ansehen verloren gegangen seien.

Damit ist nun zumindest ein Verantwortlicher – der als Minister der Justiz für das Handeln der JVA Geldern einstehen muss – klar benannt. NRW-Innenminister Herbert Reul wäre als nächster dran. Die SPD wird als Oppositionspartei hier ihre ganz eigenen Interessen verfolgen. Der „Fall Amad A.“ ist ihr ein guter Anlass, mehr aber vermutlich nicht.

Der „WDR“ wiederum ist sich nicht zu schade, die Freiheitsberaubung und den Tod von Amad Ahmad weiterhin als „Verwechslungsfall“ zu beschreiben. Wer lernen mag, warum es nicht nur falsch, sondern auch fatal ist, den Vertreter*innen der Politik – auch den Mitgliedern im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss Kleve – diese exkulpatorische Vokabel von den Lippen abzulesen, sollte dringend einmal an einer Ausschuss-Sitzung teilnehmen. Das heilt jedes romantische Vertrauensverhältnis.

Die nächsten Sitzungstermine sind für den 14.01.2020, 14 Uhr und für den 04.02.2020, 14 Uhr angekündigt. Zu Tagesordnungen und Ladungen sowie zu kurzfristigen Terminergänzungen ist ein Blick auf die Homepage des Landtages hilfreich:
https://www.landtag.nrw.de/home/parlament-wahlen/ausschusse-und-gremien/untersuchungsausschusse/untersuchungsausschuss-3/terminplan-1.html