TERZ 02.20 – KEIN VERGESSEN
Als Miron Białoszewskis „Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand“ 1970 in Polen erschienen, ragten sie aus der Fülle der Memorabilien-Literatur heraus. Der Autor beteiligte sich nämlich nicht an den Mythen-Bildungen und schuf folglich auch kein Helden-Epos. „Nur das, was war“ wollte er berichten. Im letzten Jahr brachte der Suhrkamp-Verlag das Werk erstmals in der unzensierten Fassung heraus. Am 12. Februar stellt es seine Übersetzerin Ester Kinsky gemeinsam mit dem Białoszewski-Biografen Tadeusz Sobolewski im Gerhart-Hauptmann-Haus vor.
„Gedränge. Panik. Beten. Krachen. Dröhnen. Rattern der Bomben. Stöhnen und Angst. Wieder kommen sie im Tiefflug. Anscheinend hat es in unsere Fassade eingeschlagen, wir ducken uns. Neben mir klopft sich eine alte Nachbarin an die Brust: ‚Heiligstes Herz, Jesu, erbarme dich unser ...’“ – in diesem gehetzten Stakkato-Ton beschwört Miron Białoszewski die 63 Tage des Warschauer Aufstands wieder herauf, wie er sie als 22-Jähriger durchlebte. „Ich rede von mir – einem Laien. Und von anderen. Auch Laien. Falls es uns gestattet ist, etwas zu sagen, denn wir sind auch dort gewesen“, stellt er klar. Bisher waren dort im kollektiven Gedächtnis Polens nämlich nur Helden gewesen. Dementsprechend kürzte der Zensor diese Passage und legte vor dem Erscheinen des Buches im Jahr 1970 noch einige weitere Male Hand an.
Białoszewski geriet unvermittelt in die Erhebung, half beim Barrikaden-Bau, flüchtete vor den Flieger-Angriffen in immer andere Wohnungen und lebte schließlich fast nur noch in Kellern, „in diesem ewigen Abend des Luftschutzraums“. Er beschreibt die Abstumpfung angesichts der Leichenberge, die Anflüge von Egoismus („Wie leicht man jemanden abschreiben kann!“), aber auch die Akte der Solidarität. Mit der Zeit bildet sich eine ganz eigene Existenz-Weise heraus, ein Gehetzt-sein, das zu immer neuen Menschen – „Ganz egal in welcher Herde. Hauptsache Herde“ – und Orten treibt. „Woanders war besser. Und sogar, wenn es einem einfiel, dass es ja überall gleich ist, das half auch nicht“, hält der Schriftsteller fest.
Bei seinen seltenen Ausflügen ans Tageslicht inventarisiert er schon einmal die Bestände: „Vielleicht rede ich hier zu viel von diesen alten Baudenkmälern. Aber sie sind wichtig, denn sie sind mit uns untergegangen.“ An Pompeij gemahnt ihn das Inferno, das die Deutschen anrichteten. Die Vorhut bildeten dabei oft Überläufer-Truppen wie die sich aus Russen zusammensetzende SS-Einheit RONA oder ukrainische und andere aus Osteuropäern bestehende Verbände, die sich besonderer Grausamkeit bedienen durften. Noch schlimmer agierten die deutschen Straftäter oder die zu Bewährung verurteilten SS-Angehörigen des Regiments Dirlewanger, die den Befehl erhalten hatten, sämtliche Einwohner*innen zu erschießen.
Vor keiner Untat schreckten die Besatzungskräfte zurück. So ließ die Wehrmacht an einem Tag einen Panzer in die Hände der Polen fallen, der mit einer Zeitbombe bestückt war. Sie setzte darauf, dass die Warschauer*innen die Kaperung des Goliath-Tanks als gelungenen Beutezug feiern würden – und die Rechnung ging auf, wie Białoszewski schreibt: „Während die Euphorie ihren Gipfel erreichte und sich die Menschen auf den Balkonen drängten, kam es zur Katastrophe. Viele, die auf den Balkonen gestanden hatten, wurden von den Eisenstäben durchbohrt. Die meisten Leichen, Stücke von Beinen, Armen, Innereien, Kleidungsstücken lagen auf den Grünflächen in der Mitte.“ An die 300 Menschen starben an diesem 13. August in der Jan-Kiliński-Straße.
Mit ihrem möglichen eigenen Tod beschäftigten sich Białoszewski und seine Begleiter*innen zum ersten Mal rund zwei Wochen später. „[A]uf einmal kam die Rede darauf, ob wir überleben würden“, heißt es an einer Stelle lapidar. Und wirklich war der Warschauer Aufstand ein Himmelfahrtskommando. Die ursprünglichen Planungen begannen zwar schon 1940, aber die von London aus operierende Exil-Regierung und ihre „Heimatarmee“ vor Ort, die Armia Krajowa (AK), rechneten sich nur bei Unterstützung von Seiten der Alliierten Chancen aus.
Diese blieb jedoch mehr oder weniger aus. England, das 1940 fast allein gegen Deutschland kämpfte, lag hauptsächlich daran, die Sowjetunion als Bündnispartner zu gewinnen und überließ dem Land deshalb die polnische Frage, die mit dem Hitler/Stalin-Pakt allerdings schon so gut wie beantwortet war. In dem Streit um die von Stalin annektierten ostpolnischen Gebiete plädierte Churchill für eine Kompromiss-Lösung. Ganz unberechtigt erschienen ihm die sowjetischen Ansprüche auf das Land nämlich nicht, da es teilweise erst 1921 nach dem sowjetisch-polnischen Krieg an Warschau gegangen war. Aber Ministerpräsident Władysław Sikorski erklärte sich zu keinerlei Zugeständnissen bereit. Auf einen militärischen Sieg hatten er und seine Generäle es dann auch gar nicht abgesehen. Sie wollten vielmehr ein politisches Zeichen setzen und just den Moment abwarten, da die Nazis vor dem Rückzug und die Rotarmisten noch nicht vor den Toren Warschaus standen, um zuzuschlagen. So gedachte sich die Exil-Regierung, zu der Stalin mit dem „Polnischen Komitee der Nationalen Befreiung“ schon eine Gegenregierung aus der Taufe gehoben hatte, als Herr im Haus zu präsentieren und die Souveränität der Nation zu wahren.
Am 1. August zur „Stunde W“ um 17 Uhr begann dann trotz vieler interner Vorbehalte schließlich der Aufstand, „der sich militärisch gegen Deutschland, politisch gegen die Sowjetunion und moralisch gegen die Westallierten richtete“, wie Reinhard Lauterbach in der „jungen Welt“ schrieb. Für dieses Unterfangen konnte die Heimatarmee auf ca. 20.000 aktive Mitstreiter*innen zurückgreifen. An Waffen standen nur 39 schwere MGs, 2.400 Gewehre, 21 Panzerabwehr-Gewehre aus britischen Beständen und 36.000 Granaten zur Verfügung. Zusätzlich warfen die Alliierten im Laufe der zwei Monate 600 Tonnen Waffen über Warschau ab. Zum Vergleich: Der griechische Widerstand erhielt ungefähr das Zehnfache. Trotz dieser schlechten Voraussetzungen errangen die Heimatarmee und die anderen gegen die Nazis kämpfenden Verbände wie die kommunistische Armia Ludowa zunächst beeindruckende Erfolge. Bald schon aber zeichnete sich die Übermacht der braunen Truppen ab.
Neidvoll verfolgte Białoszewski mit einer Freundin deshalb die Meldungen aus dem Radio über die Geschehnisse in Westeuropa: „Dass diese andere Front vorwärtskam. Dass Paris sich erhob. Vier Tage. Und schon war Paris frei.“ Er fühlt sich nun so isoliert wie die Warschauer Juden und Jüdinnen ein Jahr vorher bei ihrem Ghetto-Aufstand, dem die restlichen Stadt-Bewohner*innen kaum Beistand leisteten. „So waren wir nun die Abgeschnittenen, Unbewunderten“, resümiert der Autor. Manche hatten damals sogar offen Sympathien für die Aktionen der Deutschen bekundet. Als „Schufte“ bezeichnet Miron Białoszewski in seinem Buch diejenigen seiner Landsleute, die den Nazis bei den Erschießungen Beifall klatschten. 1970 fielen diese Sätze der Zensur zum Opfer; leider hat der Suhrkamp-Verlag die – nicht allzu häufigen – damaligen Eingriffe weder markiert noch kommentiert.
In dieser aussichtslosen Situation blieb ihm und seinen Leidensgenoss*innen trotz allem nur noch die Hoffnung auf die sowjetischen Truppen. Diese rückten auch immer weiter vor, irgendwann aber ging es nicht weiter. Ein Veteran erinnerte sich später: „Bereits im Quartier in Łowicz fragten wir uns, ob wir schneller Verstärkung erhalten könnten, um vorrücken und den Partisanen helfen zu können. Dann schaltete sich unser Politruk (Polit-Offizier, Anm. Terz) ins Gespräch ein und begann zu erklären, dass diese Partisanen feindlich gegenüber der Roten Armee und der Sowjetunion eingestellt waren, dass sie eine Untergrund-Armee organisiert hatten (...), unsere Hilfe jedoch insgesamt ablehnten. Mit einem Wort: Politik.“
Lediglich ein polnischer Verband der Roten Armee versuchte später, die Weichsel zu überqueren. Der Zusammenschluss mit den Aufständischen misslang jedoch. Nicht einmal mittelbar leistete Stalin Unterstützung. So verweigerte er – bis auf eine einzige Ausnahme – den alliierten Flugzeugen, die Kurs auf Warschau nehmen wollten, Zwischenlandungen auf sowjetischem Terrain. Ob der Diktator sich bei einem Entgegenkommen der Polen in der Grenzfrage zu einer anderen Politik entschieden hätte, ist schwer zu sagen, auf jeden Fall jedoch zeigt das spätere Schicksal Osteuropas, wie berechtigt das Misstrauen der Exil-Regierung Stalin gegenüber war. Ohne die Hilfe von außen musste die Heimatarmee ihre Hoffnung bald aufgeben. Am 2. Oktober 1944 kapitulierte sie. „Schluss. Alles vorbei. Zweihunderttausend Menschen lagen unter den Trümmern. Zusammen mit Warschau“, resümiert Miron Białoszewski.
Für ihn begann dann eine Odyssee durch verschiedene Gefangenen-Lager. Nach Warschau kehrte er im Februar 1945 zurück. In den folgenden Jahren arbeitete Białoszewski zunächst als Journalist und bei der Post. Später gründete er ein Theater-Gruppe. Sein erster Gedichtband erschien 1955. Aber die 63 Tage im Spätsommer 1944 ließen ihn nie los. „Białoszewski sprach dauernd über den Aufstand. Dauernd hatte er Träume über den Aufstand. Ständig verglich er die wiedererbauten Teile Warschaus mit dem alten Warschau. Er nannte die früheren Namen der Straßen. Er sammelte alte Stadtpläne von Warschau“, erinnerte sich ein Freund. In Worte fassen vermochte Miron Białoszewski das alles jedoch lange nicht. „Zwanzig Jahre konnte ich nicht darüber schreiben. Obwohl ich so wollte“, heißt es in den „Erinnerungen“. Als sie 1970 erschienen, lösten sie eine Kontroverse aus. „Das, was war“, interessierte viele nicht. Sie wollten stattdessen Helden-Geschichten hören. Inzwischen aber gehört das Buch in Polen zur Schul-Lektüre.
Jan
Buchvorstellung
12.02.,19 h, Gerhart-Hauptmann-Haus, Bismarckstraße 19
Miron Bialoszewski - Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand
https://suhrkamp.de/buecher/erinnerungen_aus_dem_warschauer_aufstand-miron_bialoszewski_22508.html