Andere Perspektiven aus der Krise

Suchthilfe im Krisenmodus

Innerhalb weniger Wochen hat sich das Leben von uns allen drastisch verändert. Die meisten Läden sind geschlossen, Kitas und Schulen zu, Kontaktsperre, kein Klopapier mehr und niemand weiß, wie es weitergeht. Das Corona-Virus betrifft uns alle – weltweit. Aber einige Menschen sind von den Maßnahmen in der Krise mehr betroffen als andere. Wir werfen in einer mehrteiligen Serie einen Blick auf Menschen, die schon vor Corona gesellschaftlich wenig sichtbar waren.

In Düsseldorf leben etwa 3.000 Menschen, die Kokain, Heroin oder anderen Opiate nutzen und von verschiedenen Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe Unterstützung erfahren. Was bedeutet es jetzt – zu einer Zeit von Kontaktverboten und zahlreichen anderen Einschränkungen – abhängig von Drogen und auf bestimmte Hilfe angewiesen zu sein? Und wie geht es den Mitarbeiter*innen in den Einrichtungen?

Kontakt-Alltag

Alex arbeitet als Streetworker für einen Düsseldorfer Hilfsdienst und bekommt im Alltag mit, was das Kontaktverbot für die Szene bedeutet: „Unser Klientel hat ja seinen Lebensmittelpunkt großteils auf der Straße und macht ,Platte‘, das heißt sie treffen sich an öffentlichen Orten wie dem Worringer Platz oder dem Oberbilker Markt. Dort zusammen zu sein ist ihr Alltag. Ihre Alternative ist es, den ganzen Tag allein irgendwo draußen zu sitzen oder herum zu laufen.“ Seit Inkrafttreten des Bußgeld-Kataloges des Landes NRW werden diese Szenetreffpunkte mehrmals am Tag von Polizei und Ordnungsamt kontrolliert, Gruppen werden aufgelöst, der Abstand von zwei Metern eingefordert. Die Polizei tritt dabei besonders rigoros auf und hat bisher nach ignorierten Platzverweisen sogar schon Strafverfahren eingeleitet. Der Sozialpädagoge kann diese Maßnahmen nicht nachvollziehen: „Natürlich schützt das Kontaktverbot vor einer Ausbreitung der Pandemie und ist vollkommen sinnvoll. Allerdings scheint es so manchem Polizeibeamten an Verständnis für eine Suchtkrankheit komplett zu fehlen. Unsere Klientel steht nun mal den Großteil des Tages unter dem Einfluss von Drogen und kann oft einfach nicht richtig erfassen, worum es geht oder ist nicht in der Lage eine Alternative umzusetzen. Was es bringt, den Justizapparat mit so einem Verfahren zu belasten, weiß ich nicht.“

Vervielfältige Schwierigkeiten

Dazu kommt, dass enge Kontakte oft nicht zu vermeiden sind. Etwa 1.600 Suchtkranke in Düsseldorf nehmen an einem sogenannten Substitutionsprogramm teil, das bedeutet, sie bekommen jeden Morgen von spezialisierten Ärzt*innen eine Ersatzdroge wie Polamidon. Vor den wenigen Praxen, die diese Leistung anbieten, ballen sich morgendlich unzählige Betroffene, die sich kaum aus dem Weg gehen können. Manche Ärzt*innen betreiben mehrere Praxen und haben nun den Betrieb zusammengelegt – hier treffen sich zur Vergabezeit zwangsläufig hunderte Menschen.

Einige Hilfseinrichtungen sind Teil der sogenannten kritischen Infrastruktur, also jenem Teil etwa der Organisationen und Einrichtungen, die mit ihrer Arbeit sicherstellen, dass die Gesellschaft keinen Schaden nimmt. Für manche Anlaufpunkte für Drogengebrauchende ist dieser Status, weiter ‚geöffnet‘ sein zu dürfen, unklar oder noch zu beantragen. Sicher aber ist: Viele dieser Einrichtungen können nur noch eingeschränkt arbeiten. Wichtige Beratungsangebote fallen bereits weg und auch im Notbetrieb lässt sich Kontakt – anders als in anderen Bereichen – nicht vermeiden. Alex erzählt: „Klar kann ich noch draußen auf der Straße unterwegs sein. Suchthilfe ist eben Kontaktarbeit. Viele unserer Betreuten sind nicht anders zu erreichen, ich kann keine Beratungs-Videokonferenz mit wohnungslosen Suchtkranken via Skype machen.“ Dazu kommt, dass sich weiterführende Hilfen, wie Entgiftungs- und Entzugsmöglichkeiten ebenfalls reduzieren und Aufnahmen in Rehabilitationskliniken kaum noch möglich sind.

Allen Einrichtungen fehlt es an Schutzausrüstung für die Mitarbeiter*innen, Filtermasken oder Schutzbrillen sind auch hier Fehlanzeige, überall wird nach kreativen Lösungen gesucht. Bestände von Desinfektionsmitteln sind mittlerweile aufgebraucht und können kaum aufgestockt werden. Die entsprechende Schutzausrüstung ist dringend notwendig, denn Kontakte zu vermeiden ist aus den beschriebenen Gründen schwierig.

Alle Ämter und Einrichtungen arbeiten unter Hochdruck an Ideen zur Lösung der täglichen Probleme – trotzdem dauert manches für die Kolleg*innen in der täglichen Arbeit natürlich zu lang, da sie jeden Tag aufs Neue mit diesen Problemen konfrontiert sind und auf Abhilfe warten. Dies führt zu Überforderungen und Unsicherheiten. „Man sieht, dass jetzt schon viel geleistet wird, um unsere Arbeit zu ermöglichen! Schutzausrüstung, die nicht da ist, kann auch nicht verteilt werden, dass verstehen wir – nur brauchen wir sie!“ räumt Alex ein.

Drogengebrauchende und suchtkranke Menschen gehören oftmals aufgrund unzähliger Vorerkrankungen und des allgemein schlechten Gesundheitszustandes zur Risikogruppe. Da viele suchtkranke Menschen auch wohnungslos sind, vervielfachen sich Schwierigkeiten und Risiken. Schon Mitte März wies fiftyfifty darauf hin, dass wohnungslose Menschen noch mehr als vor der Corona-Pandemie von Vorbeigehenden gemieden werden. Es fallen also auch die kleinen, aber enorm wichtigen Einkünfte durch den Verkauf eines Straßenmagazins oder durch Spenden weg. Und nicht nur die Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe können nur noch eingeschränkt arbeiten, auch Anlaufstellen für wohnungslose Menschen sind geschlossen oder arbeiten eingeschränkt. Den allgemeinen Ratschlag, sich regelmäßig zur Vorbeugung einer Ansteckung die Hände zu waschen, ist für Menschen auf der Straße kaum umzusetzen und auch die Versorgung mit Lebensmitteln ist knapp.

Konkret dringend

Schwer absehbar ist die Entwicklung in den kommenden Wochen: In welchem Umfang wird der Import von Drogen von der Pandemie durch Grenzschließungen etc. betroffen sein? Wird es hier zu einer Verknappung und Verteuerung kommen? Alex weiß: „Aus anderen Städten hören wir schon, dass die Versorgung mit Drogen knapp wird. Entsprechend steigt die Nachfrage nach Substitutionsplätzen. Es wäre hilfreich, wenn großzügig Take Home[1] ermöglicht würde, dann müssen die Betroffenen nicht täglich zur Praxis. Und für die Kokainisten wurde vorgeschlagen, über die Verschreibung von zumindest ähnlich wirkenden Medikamenten wie z.B. Ritalin nachzudenken. Ich fände das gut – alles was hilft ist derzeit willkommen.“

Es wird also deutlich: Wer suchtkrank ist und seinen*ihren Lebensmittelpunkt vielleicht auch auf der Straße hat, ist durch die Einschränkungen und Veränderungen, die sich durch die Corona-Pandemie ergeben haben, besonders stark betroffen: Das Infektionsrisiko ist groß, rechtliche Konsequenzen durch das verständnislose Agieren der Ordnungsbehörden sind unausweichlich, Unterstützungsangebote fallen weg oder sind eingeschränkt und auch die Versorgung mit Stoff könnte in Zukunft enger werden. Solidarität und Wertschätzung ist auch hier, sowohl für die suchtkranken Menschen also auch für die Personen, die wie Alex in diesem Bereich arbeiten, weiterhin mehr als angebracht. Doch reicht das nicht aus. Konkrete Maßnahmen müssen geplant und umgesetzt werden. Dabei scheint die Bereitstellung von ausreichend Schutz- und Hygieneartikeln für Suchtkranke und Mitarbeiter*innen in den Einrichtungen, die Anpassung der Substitutionsprogramme und das Schaffen alternativer Unterkünfte unverzichtbar.

[1]  Take-Home bedeutet, dass die Substituierten ein Rezept für eine Wochendosis bekommen und das Medikament mit nach Hause nehmen können. Dies ist „stabilen“ Patient*innen vorbehalten, es wird aber angeregt, diese Regelung zur Reduzierung der Ansteckungsgefahr großzügiger auszulegen.


Andere Perspektiven aus der Krise

Wenn zuhause kein sicherer Ort ist …

Social Distancing ist das Zauberwort. Möglichst zu Hause bleiben, wo es sicher ist, sicher vor Ansteckung. Möglichst wenige Kontakte nach außen, um das Virus nicht weiter zu verbreiten und sich selber und seine Liebsten nicht zu gefährden. Alle sprechen von Solidarität untereinander, um sich und andere zu schützen.

Was aber ist mit den Menschen, für die das zuhause oder die Familie nicht der sichere Ort ist, sondern der, von dem die Gefährdung ausgeht? Was ist mit all jenen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind und ihr immer weniger entfliehen können, da das öffentliche Leben immer mehr lahmgelegt wird? Was ist mit den Kindern, die nicht mehr wie in ihrer Zeit in Schule, Kindergarten oder Jugendzentrum Ansprechpersonen haben, denen sie von der Situation zuhause erzählen können? Personen, die sich kümmern und einschreiten können, wenn Kinder physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt sind? Was ist, wenn die Enge zusammen unerträglich wird und eine Spirale der Gewalt beginnt, sei sie psychisch, emotional oder körperlich.

Viele von uns arbeiten im sozialen Bereich, in Beratungsstellen oder an anderen Orten. Deshalb wissen wir, dass oft schon nach wenigen Tagen Eingeschlossen-Sein der Ausnahmezustand zur Gefahr wird.

Für alle von Gewalt Betroffenen ist die derzeitige Situation eine Katastrophe – nicht nur ist es schwieriger, nun Hilfe von außen zu bekommen, sondern es ist zusätzlich auch so, dass sich Konflikte in permanenter Enge, wenn man sich immer sieht, zuspitzen. Schon jetzt gibt es Studien aus China, nach denen die häusliche Gewalt in Corona-Zeiten massiv zugenommen hat.

Auch in Deutschland warnen Frauenhäuser, Erziehungsberatungsstellen, aber auch Polizei und andere vor einem starken Anstieg häuslicher Gewalt.

Selbst ohne Ausnahmezustand sind die Zahlen erschreckend. Jede dritte Frau hat in ihrem Leben bereits die Erfahrung von häuslicher Gewalt machen müssen. Zuallermeist geht die Gewalt von Partner*in oder Expartner*in aus. Der gefährlichste Ort für Frauen und Kinder war schon vor Corona oft das eigene Zuhause. Jetzt herrscht der Ausnahmezustand. Es herrscht Unsicherheit und Beunruhigung. Darüber, was in den nächsten Wochen und Monaten passiert. Wie es weitergeht. Mit der eigenen Gesundheit und der der Liebsten, mit der Schule und mit dem Job.

Alle Aktivitäten verdichten sich zuhause. Arbeit, Kindererziehung und die Familie. Da sind Konflikte und Überforderung vorprogrammiert. Und in vielen Familien sind Konflikte mit Gewalt verbunden.

Der Blick auf die Entwicklung in China zeigt, dass in diesen Zeiten die Polizeieinsätze wegen Gewalt in Beziehungen um 30 Prozent gestiegen sind. Auch in Österreich wird bereits nach Lösungen gesucht, um Frauen aktuell weiterhin bestmöglich unterstützen zu können. So werden beispielsweise jetzt leerstehende Hotels in die Hilfeplanung miteinbezogen.

Schon im Normalzustand ist die Situation oft dramatisch. Es gibt nicht ausreichende Plätze in Frauenhäusern. Im Gegenteil, viele Frauen mussten im vergangenen Jahr abgewiesen werden, da in den Düsseldorfer Frauenhäusern, aber auch in der näheren Umgebung und oft in ganz NRW einfach kein freier Platz zu finden war. 100 Frauen und ihre Kinder musste allein ein einzelnes Frauenhaus in Düsseldorf 2018 ablehnen, weil es permanent ausgelastet war.

Die finanzielle Situation von Frauenhäusern und Beratungsstellen ist seit Jahren schlecht. Es wird nur von Jahr zu Jahr Geld bewilligt. Viele Frauen, die dort Sicherheit suchen, können ihren Aufenthalt dort nicht selbst bezahlen, was sie aber eigentlich müssten. Schon allein das ist eine Unverschämtheit. Denn Frauen und Kinder, die im Frauenhaus Schutz suchen, sind oft die mit wenig eigenem Einkommen und sozialen Ressourcen.

Auf mehr Gewaltvorfälle nicht vorbereitet

Nicht auszudenken, was passiert, wenn in den nächsten Wochen die Zahlen der Gewaltvorfälle sprunghaft ansteigen. Auch in Deutschland arbeiten die Unterstützungseinrichtungen fieberhaft an Lösungen für betroffene Frauen. Der Bundesverband Frauenhäuser und Frauennotrufe warnt davor, dass es in Zeiten der Kontaktverbote und des Social Distancing sowohl für Betroffene schwieriger werden wird, Hilfe zu suchen, als auch für helfende Menschen problematisch, Gewalt überhaupt zu erkennen.

Auch für Kinder, die von Gewalt betroffen sind, wird es schwieriger und fast unmöglich, sich Hilfe zu holen. An wen sollen sie sich wenden? Lehrer*innen, Freund*innen, Erzieher*innen in der Kita oder die Sozialpädagog*innen in Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen fallen weg. Oft sind es aber genau diese, die zuerst merken, dass ein Kind misshandelt wird, psychisch oder physisch. Sie sind Kontakt- und Ansprechpersonen, die versuchen, genauer hinzuschauen. Sie sind die, denen als Erstes der blaue Fleck oder die Verhaltensveränderung auffällt. Sie sind häufig eine Anlaufstelle, bei der Kinder sich offenbaren und Hilfe suchen – oder auch nur die Möglichkeit nutzen, einen Teil des Tages außerhalb des häuslichen Umfeldes zu verbringen, das kein Schutz sondern eine Gefahr darstellt. Je jünger Kinder sie sind, desto gravierender wird die Schutzlosigkeit, sie können oft nicht einfach irgendwo anrufen, wenn sie in Gefahr sind. Kinder sind darauf angewiesen, dass jemand nachfragt, wenn sie noch nicht sprechen können. Dass jemand nachsieht, dass das Umfeld aufmerksam ist.

Was tun?

Deshalb ist es immer und besonders gerade jetzt wichtig, ein offenes Ohr zu haben. Solidarität endet nicht bei Einkäufen für die Nachbarschaft und Applaus für Care-Arbeiter*innen am Abend.

Schaut hin, hört hin und sprecht miteinander, wenn ihr euch Sorgen macht. Fragt nach, wenn ihr merkt: In eurer Nachbarwohnung stimmt etwas nicht. Unterstützt diejenigen in eurem Umfeld, die eventuell gerade nicht in der Lage sind, selbst zum Telefon zu greifen.

Die angegebenen Telefonnummern sind auch jederzeit für Unterstützer*innen zu sprechen und beraten Euch, wie ihr helfen könnt.

Was ihr darüber hinaus tun könnt, ohne euch zu gefährden:

i furiosi

Notfall-Telefonnummern Flingern Mobil / Kontaktcafé Mobilé
Angebot für drogengebrauchende Menschen mit Lebensmittelpunkt Straße (mit offener Sprechstunde)
Charlottenstraße 31, 0211/1306898

Düsseldorfer Drogenhilfe
Erkrather Straße 18
Telefonsprechstunden: Mo-Do 14-17 Uhr & Freitag 10-14 Uhr
Telefonkontakt außerdem: Mo-Fr 9-14 Uhr 0211/301446-0

komm-pass
Drogenberatungsstelle der caritas
0211/17520880
Charlottenstraße 30 – vorbeigehen und nach den aktuellen Sprechstunden schauen, normalerweise:
Mo-Mi 9-13 Uhr
Mo-Do 14-17 Uhr

frauenberatungsstelle düsseldorf e.V
0211/686854, Mo-So von 10-22 Uhr
Im Akut-Fall kann eine Unterbringung der betroffenen Frauen und ihrer Kinder ermöglicht werden.

ProMädchen
0211/487675
Mo & Do 8-13 Uhr
Di & Mi 14-17 Uhr

Hilfetelefon - Gewalt gegen Frauen
08000/116016
24 Stunden erreichbar

Zuflucht für Mädchen und junge Frauen
zwischen 14 und 21 Jahren
0211/31192960
zuflucht[at]promaedchen[dot]de

Bezirkssozialdienst
Der Bezirkssozialdienst ist eine erste Anlaufstelle für Beratungen und kann weitere Hilfen vermitteln.
https://duesseldorf.de/jugendamt/fuer-familien-da-sein/bsd/schutzauftrag.html

Städtisches Kinderhilfezentrum
Notaufnahme für Mädchen und Jungen in Düsseldorf, die sich in akuten Krisen oder Konfliktsituationen befinden und um Inobhutnahme bitten (Aufnahme jederzeit)

- von 0 bis 13 Jahren
Telefon: 0211/8998177
Städtisches Kinderhilfezentrum
Eulerstraße 46, 40477 Düsseldorf

- Mädchen von 14 bis 17 Jahren
Telefon: 0211/8998637
Mädchenschutzgruppe im städtischen Kinderhilfezentrum
Kuthsweg 43, 40231 Düsseldorf

- Jungen von 14 bis 17 Jahren
Telefon: 0211/8928951
Jungenschutzgruppe im städtischen Kinderhilfezentrum
Aschaffenburger Straße 8, 40599 Düsseldorf