Systemkritischer geht gar nicht

Ein garantiert virenfreier Cocktail aus Gedankensplittern zu Kultur, Medien und der ganz großen Geschichte. Salud!

„Es gärt und kocht in meiner Brust, es glüht in meinem bisweilen besoffenen Kopfe ganz ausnehmend.“ Corona-Symptome? Nein. Das schrieb Friedrich Engels eine Woche vor seinem 19. Geburtstag einem Schulfreund. Im November ist sein 200. Geburtstag. Der Unternehmersohn hatte ihm großspurig angekündigt, er wolle „die modernen Ahnungen, die sich im Mittelalter zeigten, zur Anschauung bringen“, die „Geister aufdecken“, die „vergraben unter den Fundamenten der Kirchen und Verliese“ lägen. Er hatte schon eine Artikelserie über Volksbücher veröffentlicht. 1839 waren vom „Eulenspiegel“ jedoch nur „mit preußischem Zensurstempel versehene Ausgaben“ erhältlich, „gleich im Anfang fehlt ein derber Witz“, fiel Engels auf. Das Original war 1515 – sieben Jahre vor Luthers erster Bibelübersetzung – auf dem Markt. Decamerone ist auch ein „Volksbuch“. Giovanni Boccaio erzählt darin, wie zur Zeit der Pest zehn Personen sich in einem Haus in der Toscana einschließen und die Zeit mit Geschichtenerzählen vertreiben. Für sowas bekämen heute alle zehn „ein Knöllchen“ in Höhe von 200 Euro.

Duell im Reich der Mikroben

„Ach nur noch Kinder von Menschen in systemkritischen Berufen werden betreut?“, empörte sich Birte Schneider. „Hallo? Ich kritisiere unser System seit Jahren! Systemkritischer als ich geht gar nicht!“ Am 20.März war sie aus ihrem „homeoffice“ der „heuteshow“ zugeschaltet. Vier Tage später in der „Anstalt“ auch alle im homeoffice-Modus. Kein Newton, der nach einem Sherry schreit. Es ist ein ernstes Symptom, wenn Kabarettist*innen ihren Witz verlieren. Ich eiere hier rum. Ursprünglich wollte ich über „Picasso. Kriegsjahre 1933 bis 1945“ schreiben. Die Kunstsammlung NRW ist aber bis mindestens 19. April dicht. Wegen Corona wurde auch der Düsseldorfer Loveparade-Prozess auf den 6. April vertagt (Stand 28. März). „Ermittlungsakte Love Parade. Die amtlich genehmigte Katastrophe“, heißt die SPIEGEL-TV-Doku von 2011, die noch online ist. Der WDR hat zu jener Katastrophe und zum Prozess eine informative homepage: https://blog.wdr.de/loveparade-prozess.

Am 27. März setzte die heute-show mal wieder eine klasse Pointe: „Die Volksrepublik Heinsberg“. Nachdem der CDU-Landrat bei Land und Bund auf taube Ohren gestoßen war, wandte er sich direkt an die chinesische Regierung, die sofort die Lieferung von Schutzkleidung und Masken zusagte. Hendrick Streek, Virologe an der Universität Bonn, zeigte sich gegenüber dem WDR verwundert, dass das Robert-Koch-Institut nur mal zwei Forscher*innen zwei Tage in Heinsberg vorbeischauen ließ. (Aktuelle Stunde, 24.03.2020). Über Robert Koch und dessen Konkurrenz mit dem französischen Biologen und Chemiker Louis Pasteur brachte arte kürzlich eine Doku („Koch und Pasteur – Duell im Reich der Mikroben“, F 2017). Auf der Homepage der weiterhin in der arte-Mediathek abrufbaren Doku heißt es: „Die Tragödie des Preußisch-Französischen Kriegs von 1870 hatte bei dem zunächst deutschlandfreundlich gesinnten Louis Pasteur starke Ressentiments gegenüber dem Erbfeind hinterlassen. Vor dem Hintergrund der deutsch-französischen Beziehungen, die zu dieser Zeit einen historischen Tiefpunkt erreicht hatten, war auch die Rivalität zwischen Pasteur und dem jungen Koch von nationalistischen Untertönen geprägt.“

Atelierraummangel

Die Diskussion über fehlenden Atelierraum für Künstler*innen, die am 4. Januar 2020 im „Salon des Amateurs“ stattfand, erscheint heute gefühlte x Lichtjahre entfernt. Die zwei Filme, die damals Premiere hatten, sind jetzt auf eiskellerberg.tv online. In „Quirl“ erzählt Stephen Reader, ein schweizerisch-britischer Düsseldorfer, wie er in den 1980ern maßgeblich an der Umwandlung eines Teils des Salzmannbaus in Atelierraum beteiligt war. Der Film macht bewusst, wie weit jene, deren Ziel es ist, den Staat zu zerschlagen und alles Gemein- in Privateigentum zu verwandeln, bereits gekommen sind. Eine Landesentwicklungsgesellschaft erscheint heute fast utopisch! In „Coincidence“ erzählt Kenneth Keen – ein wahrer Eulenspiegel – seine Geschichte. In Irland war Arbeit Mangelware, er kam nach Düsseldorf – nicht wegen der Akademie, sondern weil der Flug fünf Pfund billiger war als nach Kölle. Im Zelt gelebt, in der Maoam-Fabrik gearbeitet, Krankheit, Umzug in die Kiefern. „Geh doch zur Akademie! Die suchen immer Leute“ riet ihm einer. Nam June Paik war von seinen Arbeiten begeistert. Arbeitsplätze wählte er weiter „nach Gefühl“, Kunst passiert nebenbei. Erich Kästner wurde einst gefragt: „Wo bleibt das Positive?“ Der Lichtblick: Schon vor der Bußgeldandrohung hielten sich viele an die Vorsichtsratschläge. Einigen scheint an ihrem Leben und der Zukunft doch etwas zu liegen. Da ließe sich doch dran anknüpfen. Auch beim Klima. Theoretisch zumindest...

Thomas Giese