Wenn nicht jetzt, dann erst recht!

Lesen in Zeiten der Cholera – die TERZ „in eigener Sache“

Für die Redaktion der TERZ, frei nach Umberto Eco: unserer Lieblings-Fachzeitung für „vergleichende Irrelevanz“ in und um Politik und Kultur in Düsseldorf, liegen zwischen der Veröffentlichung der Print-Ausgaben, wie gewöhnlich im Monatsrhythmus ihres Erscheinens, ganze vier Wochen. Aktuell sind es aber: Welten.

Mitte März, knapp zwei Wochen vor Redaktionsschluss, haben wir uns das erste Mal mit dem Gedanken beschäftigt, dass es wohl eine besondere Herausforderung sein dürfte, in Zeiten einer Virusinfektion pandemischen Ausmaßes eine TERZ zu machen. Ob die Druckmaschinen überhaupt laufen können, wenn die Aufträge für Druckereien ausbleiben oder Kurzarbeit droht? Ist es darum vielleicht sinnvoll, eine Online-Ausgabe zu planen, für den Fall, dass es keine ‚echte‘ Zeitung geben wird? Mögt und könnt Ihr die TERZ überhaupt digital lesen – so ungewohnt körperlos, dass Ihr uns kaum finden werdet im weltweiten Netz der Informationsfluten? Vor allem aber: Wie bringen wir die Printausgabe der Zeitung unter die Leute, jetzt, da alle Orte, an denen Ihr für gewöhnlich die TERZ einsammelt, geschlossen sind?

Kinos, Buchläden, große und kleine Orte alternativer Kultur, Kneipen und Cafés – Treffpunkte für Kopf und Herz sind verwaist. Das berühmte Rollgitter ist an all diesen Orten dermaßen unten, dass wir uns für alle, an die wir hier denken, die Frage stellen müssen: Wird es „danach“ überhaupt möglich sein, wieder aufzumachen? Gibt es dann noch das nötige „Kleingeld“, das wir bei allem Herzblut brauchen, um ‚unsere‘ Orte sozialen Austausches, der Kultur und des Leibeswohls überhaupt weiter am Leben halten zu können?

Viele der „TERZ in Town“-Orte, an denen Ihr bisher die frischgedruckten Ausgaben der Zeitung habt bekommen können, haben auf „Notbetrieb“ umgestellt. Die Buchhandlung BiBaBuZe verschickt Bestellungen und fährt Bücher und Vino zu Euch nach Hause. Im ZAKK könnt Ihr „auf die Zukunft wetten“ für kommende Veranstaltungen. Filmkunstkinos freuen sich über den Kartenkauf „für später“ und senden Kinoklassiker „on demand“ bis zu Eurem Sofa daheim. Die Pizza dazu bekommt Ihr bei Abholung in Eurem Lieblingsladen.

Klar, das sind alles Dinge, die wir uns leisten können müssen: Ein Buch kaufen, Filme für zuhause ‚mieten‘, Pizza statt Knäckebrot. Vielleicht ist solcherlei Findigkeit, mit der Einschränkung unseres Alltags umzugehen, nicht nur Luxus, sondern auch Eskapismus. Halten wir doch den Anschein des „Geht doch!“ aufrecht und freuen uns über unsere kreativen Problemlösungsideen im Kleinen.

Lange Linien, neu eskaliert

In welchem Verhältnis aber stehen diese Strategien des „Jetzt erst recht!“ zu den brennenden Fragen, die mit Ausbruch der „Krise“, hervorgeplatzt sind, als wären sie vor der einschneidenden Covid-19-Entwicklung nicht schon längst da gewesen: Wie etwa gehen wir jetzt und in Zukunft um mit Strukturen der Ausbeutung von Arbeitskraft und Lebenszeit in der Care-Arbeit und an prekarisierten Arbeitsplätzen, an denen Menschen für weniger als einen „Appel und ein Ei“ existentielle Versorgungsaufgaben übernehmen? Können wir mehr tun, als der autoritären Zurichtung von Gesellschaft tatenlos zuzusehen? Wie stehen wir zu Hauruck-Gesetzen knallhart dran am „Alles geht“ der Notstandsargumente von Orbán & Co., inklusive Einsatz von Streitkräften für polizeiliche Aufgaben im Inneren? Was sind ‚unsere‘ Antworten auf die jetzt rasende Entwicklung von Deliberalisierungsprozessen und auf die großen Schritte der Missachtung von Grund- und Freiheitsrechten? Jetzt, da alle Formen des Protestes nicht mehr stattfinden können dürfen, wenn daran mehr als zwei Menschen nah beieinander teilnehmen? Wie reagieren wir, wenn wir uns in Suchbewegungen und Aushandlungsprozessen linker Möglichkeiten und Antworten damit konfrontiert sehen, dass ein Aufbegehren als unsoziale Selbstsucht bezeichnet wird, selbst unter linken Denker*innen und Aktivist*innen? Was tun wir, um zu verhindern, dass Denunziation und „Ich bin mir selbst die Nächste“ zum Normalzustand werden, mehr noch, als dass sie es ohnehin schon waren? Nicht zuletzt, jenseits drängender identitätspolitischer Fragen: Wie können wir Druck aufbauen gegen Menschenrechtsverbrechen – dem Namen nach also gegen die andauernden Abschiebungen, gegen die Politik der Lager, in denen Zehntausende ohne Wasser und unter Rationierung von Lebensmitteln eingesperrt sind, weil die Festung Europa immer noch mehr Angst vor Menschen aus dem globalen Süden hat als davor, sich am Pandemie-Tod von Tausenden schuldig zu machen?

Handlungsräume

Hier braucht es ganz sicher schlaue, kritische Analysen, kluge Gedanken, Beobachtungen und Debatten. Darum ist Journalismus, sind Schreiben und Lesen wichtig. Auch alternative oder linke Medien- und Veröffentlichungsformate haben sich auf den Weg gemacht. In den einschlägigen Zeitungen und Online-Plattformen finden sich seit Beginn der „Krise“ zahlreiche Beispiele für treffende und weiterführende Diskussionsbeiträge. „Die Welt nach Corona wird jetzt ausgehandelt“, schreiben etwa Mario Neumann und Maximilian Pichl (der Freitag, 20.3.2020). Sie verweisen in ihrem Text dabei auch auf die Kraft, die in der Analyse der Verschiebungen zum Nachteil von Freiheit, Grundrechten, der Solidarität und der Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit liegt: Jetzt sind die Zeitschneisen offen, in denen Staat und Autoritäten sich durchzusetzen versuchen, weil es Umbrüche und freie Aktionsräume gibt. Es ist höchste Zeit für Arbeitskämpfe, Grenzöffnungen, Schulterschlüsse. Entwicklungen und Kämpfe werden international sein, linksradikale Praxen und Analysen werden voneinander lernen können. Zugleich werden wir uns mit den Widersprüchen innerhalb unserer eigenen, linken Perspektiven auseinanderzusetzen haben, deren Mosaike durchaus in Gefahr stehen, sich zu entsolidarisieren. Der lesenswerte Text der Autor*innen des „Laboratorio Occupato Morion“, einem Centro Sociale-Kollektiv aus Venedig, beschäftigt sich eingehend mit der Unbill eines solchen Auseinanderdriftens.

Die TERZ nimmt sich im intellektuellen, kritischen, linken Blätterwald und im Reigen der Veröffentlichungen linksradikaler Gesellschaftsanalyse-Plattformen oder -Kampagnen nur einen kleinen Platz. Anstatt uns in Theoriebildung zu üben, haben wir uns immer am Konkreten orientiert, an dem, was vor unserer Nase passiert. Dabei ist die TERZ seit den Tagen, als sich das Redaktionskollektiv dazu entschieden hat, die Zeitung kostenlos unter die Leute zu bringen, ohne Unterbrechung erschienen. Es gab seitdem keinen Monatsanfang, an dem die Zeitung nicht zur Stelle war.

Natürlich haben wir uns nun aber die Frage gestellt, ob es ausgerechnet jetzt und inmitten all dieser Widersprüche die bedruckten Seiten einer Zeitung überhaupt braucht, die sich mit der Politik und Kultur in Düsseldorf aus der Perspektive eines linksradikalen Stattzeitungs-Kollektivs beschäftigt. Noch dazu, da unklar ist, ob die Print-Ausgabe je zu Euch, unseren Leser*innen, findet.

Nach reiflicher Überlegung sind wir aber zu dem Schluss gekommen: Ja. Es braucht eine Notausgabe der TERZ. Denn all die Facetten, Abzweigungen, Fragen, Anwürfe, Einschränkungen, Ideen, Nachbarschaftshilfen, Kritiken, Proteste, Spannungen – sie stehen ohnehin nebeneinander. Auch in Düsseldorf. Ob sie jetzt Widersprüche im Großen, anstehende Lösungsstrategien gegen Vereinzelung im Kleinen oder Kämpfe für ein gutes Leben für alle betreffen. Ob sie die Arbeitskämpfe nebenan begleiten oder unsere Wut über Europas mörderisches Grenzregime zum Ausdruck bringen. Eine TERZ zu machen in Zeiten von „Corona“ ist also keine Realitätsverweigerung. Im Gegenteil.

Immer voran, nie zurück

Das Ergebnis dieser Entscheidung haltet Ihr jetzt in den – realen oder virtuellen – Händen. In der aktuellen Ausgabe schreiben Menschen, deren politische Anliegen aktuell ausgebremst sind oder die mit ihrer Kreativität in Vernetzung und Kultur jetzt neue Wege finden müssen. Wir erfahren etwas über vergangene Widersprüche radikal linker Praxis – bis zum Knast. Die Besprechung zu Ingrid Strobls autobiographischem Text über die späten 1980er Jahre in politischer Haft erzählt davon. Und nicht zuletzt sehen Rückblicke, wie etwa der vom Lama-Musik e.V., den es als „Verein für musikalische Vielfalt“ nun bereits schon zehn Jahre gibt, heute anders aus, als ursprünglich geplant. Trotzdem geht es weiter, anders, aber jetzt erst recht.

Anders muss es werden auch für viele, deren Lebensrealitäten wegen der Pandemie noch einmal mehr eingeschränkt oder marginalisiert sind, als sie es ohnehin stets waren. Denn der Lebensmittelpunkt Straße ist auch in Düsseldorf immer schon ein raues Pflaster gewesen. Für wohnungslose, drogengebrauchende oder suchtkranke Menschen bringen die Infektionsprävention und die Dimensionen einer potentiell tödlich verlaufenden Ansteckung jetzt noch einmal neue Hindernisse mit sich. Und wo #Stayfuckinghome in einem sicheren Zuhause nicht möglich ist, weil es gerade das Zuhause ist, in dem Gewalt und Gefahr drohen für Körper und Seele, stehen von häuslicher Gewalt betroffene Personen, klein und groß, noch einmal vor ganz anderen Problemen. Am Ende findet Ihr auf schmalen 16 Seiten „NotTERZ“ also einen Hauch von Gewohnheit, mit dem Bewusstsein, dass alles anders werden könnte. Werden kann. Wie auch immer.

Eure TERZ

Links zu den Artikeln

„Dalli all‘untore!“ - Packt den Giftsalber, von Laboratorio Occupato Morion (17.3.2020): https://barrikade.info/article/3278 Mario Neumann und Maximilian Pichl: Die Welt nach Corona wird jetzt ausgehandelt. In: der Freitag (20.3.2020): https://freitag.de/autoren/der-freitag/die-welt-nach-corona-wird-jetzt-ausgehandelt


down and out in untergerresheim

Es gibt in Gerresheim eine politisch-ideologische Auseinandersetzung um die Bezeichnung „Untergerresheim“. Insbesondere in SPD-Kreisen und konservativen Zirkeln wird statt von Untergerresheim lieber von „Gerresheim-Süd“ oder gar, wenn es um den Bereich zwischen Bahn und Stadtbezirksgrenze Richtung Vennhausen geht, von Gerresheim-Süd-Süd gesprochen. Der Grund: Der Terminus „Untergerresheim“ lasse an „Unterschicht“ denken und sei für die Bewohner*innen diskriminierend. Der soziale Spalt zwischen Ober- und Untergerresheim dürfe durch eine solche Wortwahl nicht vertieft werden.

Diese Spaltung existiert aber gleich im fünffachen Sinne:

Topografisch: Das Gelände fällt von Norden nach Süden ab. Von Obergerresheim nach Untergerresheim. Der tiefste Punkt ist das Ufer der Düssel. Und die fließt nun mal – wie das bei Wasser-Läufen so üblich ist – von oben nach unten durch Untergerresheim. Selbst der Pillebach macht da keine Ausnahme.
Sozial: Im Norden das Bürgertum (Bourgeoisie in Obergerresheim), das sich um St. Margareta schart. Im Süden die Arbeiterklasse der Glashütte. Das Proletariat in den Werkswohnungen zwischen Alter Insel, Neustadt und Glasbläserstraße.
Konfessionell: Obergerresheim katholisch. Untergerresheim protestantisch, atheistisch, italo-katholisch.
Politisch am Ende der Weimarer Republik: Obergerresheim: Zentrum, NSDAP. Untergerresheim: KPD, SPD.
Im Idiom: Obergerresheim: Hochdeutsch, Düsseldorfer Platt. Untergerresheim: Düsseldorfer Platt, Hötter Platt.
Ist „Unter“ für Gerresheim ein Makel? Fallen die Grundstückspreise für „Unter“? Sind die beiden Gerresheimer Gymnasien, die beiden Krankenhäuser, die Stadtbezirksbücherei zufällig nicht in Untergerresheim? Die „Freie Schule“ wurde in Untergerresheim abgeschafft. Ebenso die „Volkshochschule“ der Glashütte.
Die Anerkennung von „Unter“, die Identifizierung mit seiner Geschichte schafft und verlangt Klassenbewusstsein. Das ist nicht überall erwünscht.
Ein weiteres Untergerres­heim-Spezifikum gibt es mit dem „Neubau“, den Hüttenhäusern an Riga- und Baltenstraße. Die Straßennamen weisen auf die Herkunft vieler Glasbläser*innen hin. Mit diesen Bewohner*innen wollten die Bürger*innen von Obergerresheim partout nichts zu tun haben. Das ging so weit, dass selbst Ehe­schließungen ganz und gar unangebracht waren.
Und am Rande von Untergerresheim gibt es noch ein Viertel, dessen Nennung ebenfalls nicht mehr opportun erscheint: das „Jammertal“. Bis vor wenigen Jahren war damit die Bertastraße mit ihrem verzweigten Wege-Gewirr und ihren aufgehübschten Siedlungshäuschen gemeint. Inzwischen wurde das „Jammertal“ in Schweizer-Siedlung umbenannt. Diese Aufwertung verschlingt Sozialgeschichte. Standhafter sind dagegen zwei Orte im Oberharz. Sie heißen immer noch „Sorge“ und „Elend“.
Aber die neue Zeit bricht nach dem Ende der Glashütte auch in Untergerresheim an. Die Häuser der Arbeitersiedlung Altstadt in der Loitz-, Hörstel- und Tongasse sowie Wittekindstraße wurden entmietet und abgerissen, womit die Bewohner*innen, die Sprecherin­nen und Sprecher von Hötter Platt, ebenfalls verschwanden. Und auf dem ehemaligen Firmen-Gelände haben die Investoren ganz große Pläne. Gemunkelt wird von einer Gesamtinvestitionssumme vom einer Milliarde Euro. Das muss sich amortisieren, was nur über adäquate Miethöhen und Verkaufserlöse – und eine entsprechende Kundschaft – funktionieren kann.

Uwe Koopmann