TERZ 06.20 – SOLIDARITÄT
Mit dem Beginn der Corona-Pandemie offenbarten sich die Folgen von neoliberaler Marktlogik im Gesundheitsbereich vor allem in den Epizentren der ersten Infektionswelle: Ein eklatanter Mangel an medizinischer Infrastruktur und Fachkräften, aber auch ein internationaler Engpass an medizinischen Geräten und an Schutzausrüstung für Mediziner*innen und Pflegende.
Während etliche Kommentator*innen schon ein komplettes Versagen des Markts und der Nationalstaaten prognostizierten, entstand im Schatten der Krise eine soziale Bewegung, die der Pandemie mit Methoden wie Hacking und Selbstorganisation begegnet.
Die dramatischen Bilder aus den Krankenhäusern Norditaliens oder Spaniens mit provisorisch eingerichteten Intensivstationen und Fluren voller Patient*innen mit Beatmungsgeräten gingen um die Welt. Mangel an Betten, Pflegekräften, Schutzausrüstung - und selbst Beatmungsgeräte waren zu wenige vorhanden. In der norditalienischen Stadt Bergamo, die besonders stark von den Auswirkungen des Virus betroffen war, entstand in einem Startup die Idee, diesem Mangel mit einem Hack zu begegnen. Kurzerhand wurde eine konventionelle Tauchmaske mit speziell in 3D-Druckern gefertigten Teilen versehen und konnte so als Notfall-Beatmungsmaske in Krankenhäusern eingesetzt werden. Das Modell dafür stellten sie kostenlos als Open Source anderen Menschen mit 3D-Druckern zur nichtkommerziellen Verwendung zur Verfügung.
Für den persönlichen Schutz eines großen Teils der Bevölkerung produzierten viele Menschen Mund-Nasen-Masken aus Textil in Heimarbeit, das erschien vielen sinnvoller, als auf das Angebot des Marktes oder der Politik zu warten. So entstanden Initiativen, die das Tragen von Stoffmasken als Schutzmaßnahme propagierten, und Produktionsnetzwerke, die versuchten, Produktionskapazitäten in Heimarbeit zu koordinieren.
Neben diesen Mund-Nasen-Masken waren Schutzbrillen und Faceshields (durchsichtige Gesichtsschilde aus Plastik) ein sinnvoller Schutz und eine gute Ergänzung. Diese wurden jedoch kaum produziert. So kam es, dass am Abend des 24. März das „Hammertime Kassel“, ein Makerspace, zu einer bundesweiten Aktion aufrief. Ein Makerspace oder auch FabLab, ist eine offene Werkstatt mit dem Ziel, Privatpersonen und einzelnen Gewerbetreibenden den Zugang zu modernen Fertigungsverfahren für Einzelstücke und eine gemeinsame Nutzung von Geräten, etwa 3D-Druckern, zu ermöglichen.
Sie suchten Freiwillige, Menschen mit 3D-Druckern (sog. „Maker“), die Produktionskapazitäten für die Herstellung von Komponenten für Faceshields haben. Im gesamten deutschsprachigen Raum war die Resonanz enorm. Innerhalb weniger Tage fanden sich über 6.900 Unterstützer*innen.
Dezentral werkelt dieser Maker-Schwarm in privaten Hobbykellern oder in FabLabs und Makerspaces. Auch Schulprojekte, Universitäten und professionelle Dienstleister mit verfügbaren Kapazitäten schließen sich der Aktion an. Von kleinen Spulen wird Plastik im 3D-Drucker Schicht für Schicht für die Kopfteile aufgetragen. Folien werden in Lasercuttern und Schneideplottern, teilweise auch von Hand, geschnitten und zur Montage passend gelocht. Die Bedarfserhebung erfolgt dezentral über sogenannte „Hubs“, Kontaktstellen, die diesen dann an verschiedene Sammelstellen weiterleiten, an denen wiederum viele Maker angeschlossen sind und die Produktion und Verteilung organisieren. Im „Hub Düsseldorf-Köln“ sind so rund 280 Menschen involviert, die an Kliniken, Pflegeheime und Arztpraxen Faceshields kostenlos oder gegen Spende auslieferten.
Online-Kollaborationstools ermöglichen die zentrale Infrastruktur, um so dezentral und selbstorganisiert vorzugehen. Hier wird die Menge auch sichtbar, weil es für alle Beteiligten transparent dargestellt wird: Mittlerweile hat die Initiative deutschlandweit über 35.000 Faceshields produziert.
Auch international entstehen zahlreiche ähnliche Initiativen unter ganz ähnlichen Bedingungen: In den USA, Kanada, Mexiko, Argentinien, Japan produzieren Makerspaces Faceshields ehrenamtlich, dezentral und ohne Profit. In Indien etwa organisierte das Team von „Maker’s Asylum“, einem Makerspace in Bombay, die Produktion und Verteilung von sage und schreibe über einer halbe Millionen Faceshields.
In Deutschland entwickelten einzelne Firmen im Lauf der Zeit andere Fertigungsverfahren für die Faceshields und produzieren beispielsweise im Spritzgussverfahren größere Stückzahlen. Industriekonzerne wie Siemens produzieren nun Faceshields und decken so nun einen Teil des Bedarfs.
Trotz dieser „Konkurrenz“ auf dem Markt ist die Initiative MakerVsVirus mit ihrem Engagement noch nicht am Ende – zum einen gäbe es immer noch großen Bedarf, so die Maker, zum anderen diskutieren sie über die Zukunft ihres Netzwerkes, die Ausweitung auf andere gesellschaftlich sinnvolle Produktionen und ihre internationale Vernetzung.
Interessant ist die dezentrale Organisationsform dieser für alle offenen Bewegung, die auf Beitragen statt Tauschen und auf Selbstorganisation statt Fremdbestimmung setzt, die auf gesellschaftlich notwendigen Bedarf hin spontan in der Lage ist, regional zu produzieren und zu distribut ieren. Und das ohne Profit und bei tendenzieller Vernachlässigung der Warenförmigkeit des Produzierten. Ein kleiner Lichtstreif am Horizont dieser düsteren Zeit, wo das große gesellschaftlich Andere auf einmal deutlich sichtbar wird.
Thomas Reucher
Mehr Informationen zu der Initiative unter: https://makervsvirus.org