TERZ 12.20 – BOOKS
Mit der Oktoberrevolution 1917 in Russland war für Kommunist*innen in aller Welt ein neues Zeitalter angebrochen. Die Jahrtausende währende Unterdrückung und Ausbeutung der Masse der Menschheit durch eine kleine Ausbeuterklasse schien beendet zu sein. Wie ein Lauffeuer erwartete man die Ausbreitung der Revolution über die ganze Welt. In wenigen Jahren sollte der Spuk des Kapitalismus und des Feudalismus überall beendet sein.
Bekanntlich kam es anders. Zwar gab es einige kommunistische Aufstände, die aber nach wenigen Wochen von der Reaktion niedergeschlagen wurden. Und in Russland, der späteren Sowjetunion, entwickelte sich eine von der Kommunistischen Partei beherrschte Staatsmacht, die es einerseits zuließ, dass sich die kleinen Bäuerinnen und Bauern zu Kleinkapitalist*innen entwickelten, und andererseits als Staatskapitalist*innen eine Arbeiter*innenschaft zu einer riesigen Lohnarbeiter*innenmannschaft zusammenfasste, die für die Staatszwecke ihre Arbeitskraft abliefern durfte. Der Kerngedanke einer sozialistischen Revolution – die Selbstverwaltung der Ökonomie durch die Arbeiter*innen und die Schaffung von Räten (Sowjets) – wurde immer weiter in den Hintergrund gedrängt. Stattdessen entwickelte sich schon unter Lenin ein riesiger Staatsapparat, der mit allen Formen der Gewalt das gemeine Volk kontrollierte und oppositionelle Standpunkte bekämpfte. Anstelle der Planung der Weltrevolution beschränkte die damalige Sowjetunion die auswärtigen kommunistischen Parteien auf eine Rolle als Auslandsvertretung, die die Interessen der Sowjetunion im diplomatischen Spiel mit den Weltmächten vertreten sollten.
Diese Perversion des kommunistischen Gedankens wurde Vorbild für „sozialistische“ Revolutionen überall in der Welt. Ende des 20. Jahrhunderts fand diese Form des Sozialismus sein Ende. Unter den sogenannten Realsozialist*innen setzte sich die Anschauung durch, dass ein richtiger Kapitalismus mit richtigem Privateigentum die herrschende Klasse und ihre betreuende Staatsmacht erheblich glücklicher machen könne als ihre merkwürdige Konstruktion einer sozialistischen Gesellschaft.
Kritische Stimmen gegen diese Art der „sozialistischen“ Betreuung von Menschen und Ökonomie gab es unmittelbar nach der Übernahme der Herrschaft in Russland durch die Bolschewiki. In Deutschland spaltete sich schon bald – aufgrund des Verhaltens der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) während des Kapp-Putsches und unterschiedlicher Auffassungen über die bürgerliche Demokratie und den leninistischen Parteiaufbau – die Kommunistische Arbeiterpartei (KAPD) von der KPD ab. Später gab es noch die Kommunistische Arbeiterunion bzw. die Allgemeine Arbeiterunion mit ähnlicher Stoßrichtung. Interessant zu bemerken ist, dass die KAPD zeitweise mehr Mitglieder hatte als die bekannte KPD. Gemeinsam war diesen Parteien und Unionen die Kritik an den oben beschriebenen Entwicklungen in der Sowjetunion. Dagegen setzten sie ihr Konzept der Organisation der sozialistischen Gesellschaft, die Rätegesellschaft. In ihr sollen die Menschen frei von jeder Staatsgewalt über ihre gemeinsamen Anliegen bestimmen können. Dabei berufen sich die Rätekommunist*innen auf die Urväter des wissenschaftlichen Sozialismus, Karl Marx und Friedrich Engels. Sie schrieben bereits im Kommunistischen Manifest von 1848: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für freie Entwicklung aller ist.“
In den Niederlanden gründeten Kommunist*inen die Kommunistische Arbeiterpartei Hollands, die eng mit der deutschen KAP zusammenarbeitete. Da die holländischen Kommunist*innen die Parteistruktur der KAP kritisierten, weil sie der Meinung waren, dass eine Partei dem Geiste des Rätekommunismus widerspreche, entstand 1927 die Gruppe Internationale Kommunisten (GIK). Nach dem Zerfall der KAPD spätestens 1933 mit der Machtübernahme Hitlers erlangte die GIK eine herausragende Bedeutung in der internationalen Rätebewegung; bedeutende Rätekommunisten wie Anton Pannekoek, Paul Mattick, Helmut Wagner oder Henk Canne Meijer veröffentlichten in den Presseorganen der GIK theoretische Grundlagen der Rätebewegung, beschrieben die praktischen Auswirkungen auf den Kampf der Arbeiter*innenklasse und entwarfen ein Bild einer kommunistischen Gesellschaft auf Grundlage des Rätekommunismus.
In den Jahren 1934 bis 1937 gab die GIK eine unregelmäßig erscheinende deutschsprachige Zeitschrift, die „Internationale Rätekorrespondenz“ heraus, die in 22 Ausgaben die gesamte Weltsicht der Rätekommunist*innen dokumentierte. In dem Buch „Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland): Internationale Pressekorrespondenz“ werden sämtliche Ausgaben der Internationalen Rätekorrespondenz dem/der Interessierten zur Lektüre überlassen. Die Herausgeber*innen haben in Zusammenarbeit mit der Association Archives Antonie Pannekoek (a.a.a.p.) in Brüssel und dem International Institute for Social History in Amsterdam (IISG) die zum Teil kaum noch lesbaren Reproduktionen der Zeitschrift transkribiert und korrigiert sowie mit Vor- und Nachwort versehen.
Das Studium der schon fast 90 Jahre alten Schriften kann eine theoretische Grundlage für aktuelle soziale Bewegungen sein. Hierzu ein Zitat aus dem Nachwort: „Aktuell sind dezentrale Bewegungen zu beobachten, die ganz bewusst die Regeln der demokratischen erlaubten Meinungsäußerung verletzen, indem sie nach ihrer Diagnose von menschenunfreundlichen Umständen zur Tat schreiten. Aktionen gegen die kapitalistische Benutzung und Zerstörung von Natur und Umwelt oder gegen die profitorientierte Wohnraumbewirtschaftung werden von Betroffenen gemeinsam und eigenständig organisiert, wobei sie sich gegenüber politischen Einrichtungen, die den Protest vereinnahmen wollen, äußerst misstrauisch verhalten. Sie weigern sich, Spielball oder Wahlkampfmunition von herrschenden Parteien und Institutionen zu sein, die ihrer Ansicht nach die beklagten Verhältnisse zu verantworten haben. Eine große Rolle für die Vernetzung der rebellischen Gruppen spielen alternative lokale Zeitungen, die die Aktivitäten unterstützen und publizieren.
Natürlich gibt es immer noch gewerkschaftlich organisierte Lohnkämpfe, die sich aber weniger durch eine kompromisslose Strategie der Durchsetzung von Forderungen auszeichnen. Hingegen will die Gewerkschaft in den Auseinandersetzungen mit den Arbeitgebern ihre Rolle als anerkannter Partner in der Betreuung sozialpolitischer Konflikte bestätigt sehen.
Aus rätekommunistischer Sicht gibt es auch heute keine guten Gründe, Kompromisse mit Staat und Kapital zu schließen. Sie führen alle auf die Unterwerfung unter die Berechnungen kapitalistischer Kalkulationen oder die Gewalt des Staatsapparates hinaus. Dagegen fordern Rätekommunisten eine neue, selbst gestaltete Gesellschaft, deren Attraktivität nicht zu verleugnen ist.“
HENRICI
Hans-Peter Jacobitz und Thomas Königshofen (Hrsg.):
„Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland): Internationale Pressekorrespondenz“
504 Seiten
Dezember 2020
EUR 13,12
ISBN 9798551636052