TERZ 01.21 – RECHTER RAND
Mitte Januar 2021 wird vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe eine weitere Entscheidung im Strafverfahren zum Anschlag am Düsseldorfer S-Bahnhof „Wehrhahn“ fallen. Es steht zu befürchten, dass es die letzte sein wird. Verwirft der BGH den Revisionsantrag der Oberstaatsanwaltschaft aus Düsseldorf, wird der Anschlag vom 27. Juli 2000 einundzwanzig Jahre nach der Tat strafrechtlich unaufgeklärt bleiben.
Im Sommer letzten Jahres, am 27. Juli 2020, machte Ekaterina Pyzova, Überlebende des Sprengstoffanschlages am Düsseldorfer S-Bahnhof „Wehrhahn“, in ihrem Redebeitrag zur Einweihung einer Gedenktafel für sich persönlich klar: Von der strafrechtlichen Aufklärung der Tat erwarte sie heute nichts mehr. Die Gedenktafel erinnert seit dem zwanzigsten Jahrestag des gezielten Angriffs auf sie und weitere 11 Menschen einer Gruppe Sprachschüler*innen eines Deutschkurses für Menschen aus den ehemaligen GUS-Staaten an den Anschlag. Der Strafprozess gegen Ralf Spies, gegen den die Oberstaatsanwaltschaft zum Jahreswechsel 2017/18 vor dem Landgericht Düsseldorf Anklage wegen 12-fachen versuchten Mordes und Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion erhoben hatte, sei für Ekaterina Pyzova zu spät gekommen – ebenso wie das im Sommer 2020 bedrückend überfällige Bemühen um ein würdiges Erinnern an die rassistische und antisemitische Tat. Die Anteilnahme der Teilnehmenden der Gedenkveranstaltung, die tue ihr heute gut. Das lange Schweigen in der Zeit bis dahin allerdings nicht. Es seien zu viele Jahre ins Land gegangenen, in denen sie nicht hatte abschließen können. Lange Jahre mit Bildern im Kopf. Lange Jahre der immer wieder neuen Versuche, beruflich Fuß zu fassen, trotz aller Verletzungen und weiterhin schmerzhaften „Schäden“, wie es im Opferentschädigungsrecht in aller Sprachkühle heißt. Lange Jahre, in denen sie um jede Heilbehandlung hatte kämpfen müssen.
Ekaterina Pyzova könne darum, wie sie am 27. Juli 2020 bei der Gedenkveranstaltung sagte, nur „bittere, bittere Grüße“ an die Verantwortlichen der Politik wie der Ermittlungsbehörden senden. Dass Ralf Spies im Juli 2018, beinahe auf den Tag genau 18 Jahre nach der Tat, für die er angeklagt war, vor dem Landgericht Düsseldorf freigesprochen worden ist, hatte sie nicht länger, aber auch nicht mehr erschüttern können.
Nichts zu erwarten kann vielleicht auch ein Schutz sein. Eine kraftvolle Resilienz, die sich nicht (länger) darauf stützt, dass sich Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden korrekt und verantwortungsbewusst ihrer Aufgabe widmen: rechte, rassistische und antisemitische Gewalt und rechten Terror zu erkennen und sie in ihre Ermittlungshypothesen aufzunehmen – ohne besondere Einladung oder durch den Druck kritischer Berichterstattung von außen. Zeitnah jeder Spur, die in diese Richtung führt, nachzugehen (und es gab viele davon im Fall des Anschlages vom 27. Juli 2000). Sich den Überlebenden zuzuwenden. Ihnen nicht in Täter*innen-Opfer-Umkehr als Verdächtigen zu begegnen, blind für die Hintergründe rechter, antisemitischer und rassistischer Gewalt. Nicht zu verleugnen, dass ein vermeintlicher „Einzeltäter“ in Düsseldorf am Rande der zu Beginn der 2000er Jahre virulenten Neonazi-Szene stand und darum durchaus als Teil und Akteur einer zu Gewalt und Mord bereiten Struktur extrem rechter Kameradschaftskreise zu sehen ist. Nicht so zu tun, als traue man ihm als scheinbar Einzelnem die Tat nicht zu. Zu fragen, wer von der Tat gewusst hat, sie gestützt oder mitbegangen hat. Den Hinweisen auf Informationen vehement nachgehen, die auf die Existenz von Staatsschutz-Spitzeln oder V-Personen der Geheimdienste hatten schließen lassen. Nachzufragen: Was wusste der Verfassungsschutz vom Anschlag und möglichen Täter*innen? Schließlich: Nicht Jahrzehnte verstreichen zu lassen, bis wichtige Zeug*innen nicht mehr aussagen können, weil sie zu alt sind, sich an das Gesicht desjenigen zu erinnern, der am 27. Juli 2000 mit Blick auf den Tatort die Bombe ferngesteuert zündete, bei seiner Tat beobachtet vom Fenster einer Wohnung aus.
Aber all dies ist nicht geschehen. Im Ermittlungsverfahren lief es anders, mit Unterbrechungen über 18 Jahre lang. Nach dem Freispruch im Prozess gegen Ralf Spies hat die Oberstaatsanwaltschaft nun im Sommer 2018 Revision gegen die Entscheidung der Strafkammer um Richter Rainer Drees eingelegt. Die Nebenklage hat sich angeschlossen in ihrem Zweifel daran, dass dem Freispruch eine korrekte und die Gesamtheit der Indizien berücksichtigende Würdigung aller Beweismittel vorausgegangen war. Nun muss der Bundesgerichtshof in Karlsruhe prüfen, ob der erste Strafprozess zum „Wehrhahn-Anschlag“ regelkonform durchgeführt worden ist, ob es Formfehler gab in der Prozessführung oder ob die Strafkammer die Beweismittelwürdigung nicht richtig vorgenommen hat. Er prüft also nicht die Beweise, fragt keine Zeug*innen zum Anschlag und hört sich auch nicht an, was die Überlebenden erinnern oder zu sagen haben. Es zählt allein die formale Richtigkeit des Urteils.
Wie die Rheinische Post im November 2020 berichtete, hat ein erster Verhandlungstermin des BGH bereits stattgefunden. Demnach habe sich die Bundesanwaltschaft, die vor dem Bundesgerichtshof die Rolle der höchsten Staatsanwaltschaft einnimmt, der Revision der Düsseldorfer Oberstaatsanwaltschaft nicht angeschlossen. Der 3. Strafsenat des BGH hat eine Entscheidung aber noch nicht getroffen. Für den 14. Januar 2021 ist nun ein zweiter Verhandlungstermin in Karlsruhe angesetzt – dann ist mit der Verkündung im Revisionsverfahren zu rechnen. Für den Fall, dass der Bundesgerichtshof das Urteil der Düsseldorfer Richter*innen bestätigt, bleibt Ralf Spies freigesprochen. Die Strafjustiz hat ihn dann nicht überführt. Es sind aber auch keine anderen Täter*innen ermittelt.
Dabei hatte die Justiz, hatte Oberstaatsanwalt Ralf Herrenbrück als Vertreter der Anklagebehörde im ersten Prozess gegen Spies Hoffnungen geweckt. Wenn der BGH sich nun gegen eine neue Bewertung der Beweise ausspricht, wartet auf Aufklärung niemand mehr. Wichtige Fragen (zur Rolle der hiesigen Neonaziszene um das Jahr 2000, zu den VS-und Staatsschutz-Spitzeln, die den Behörden seinerzeit von ihren Nazi-Kamerad*innen berichteten, zur Herkunft des Sprengzünders und zur Verantwortung der Bundeswehr im Fall „Soldat Spies“) werden unbeantwortet sein. Auch die Narben, die Zweifel und die Bitterkeit werden am Ende bleiben.
Über den Anschlag vom S-Bahnhof Wehrhahn vom 27. Juli 2000 hat die TERZ immer wieder berichtet, viele Texte sind zuletzt zum Prozess (Februar bis Juli 2018) erschienen. Kompakt und mit einer Bewertung der Möglichkeiten eines Revisionsverfahrens im „Wehrhahn-Prozess“ (im Interview mit Rechtsanwalt Alexander Hoffmann) fasst die Zeitschrift „LOTTA“ („Über 18 Jahre Nichtaufklärung. Der Düsseldorfer Wehrhahn-Bombenanschlag“) Geschichte und Gegenwart des Anschlages im Themenschwerpunkt ihrer Ausgabe #72 vom Herbst 2018 zusammen: https://lotta-magazin.de/ausgabe/72. Eine Printausgabe kann bestellt werden unter: lotta-vertrieb[at]nadir[dot]org