Shingal

– ein Comic über den Genozid an den Jesid*innen

Die Geschichte der beiden Brüder Mazlum und Asmail erzählt den Angriff auf die Jesid*innen und die folgende Flucht.

Es ist der 3. August 2014. An diesem Tag greift der IS (Islamische Staat) das Siedlungsgebiet der Jesid*innen (auch Yezid*innen) im Nord-Irak an. Die Jesid*innen sind eine religiöse Minderheit, die – abgesehen von der größten Diaspora in Deutschland mit 200.000 Menschen – hauptsächlich im und rund um das Shingal (auch Sindschar)-Gebirge lebt. Ihre Religion besteht aus verschiedenen Versatzstücken der jüdischen, christlichen, muslimischen und vor-islamischen Religion. Von anderen muslimischen Gruppen werden sie als Teufelsanbeter*innen seit Jahrhunderten verfolgt. Die Jesid*innen bezeichnen die folgenden Ereignisse als den 74. Genozid an ihnen: In der Nacht vor dem Angriff haben die irakisch-kurdischen Einheiten der Peshmerga, die u.a. von Deutschland aufgerüstet und ausgebildet wurden, fluchtartig das Gebiet verlassen, trotzdem sie eigentlich die Jesid*innen schützen sollten. Sie nahmen nicht nur alle Waffen mit, sondern entwaffneten teilweise auch die zurückbleibenden Jesid*innen. Nur wenige Einheiten der kurdischen PKK erreichten rechtzeitig das Gebiet und leisteten Widerstand zusammen mit den schlecht bewaffneten Jesid*innen, um ihren Familien die Flucht ins Gebirge zu ermöglichen. Insgesamt wurden etwa 400.000 Menschen vertrieben. Allein in den ersten Tagen wurden etwa 5.000 Jesid*innen von den Jihadisten des IS ermordet, schätzungsweise 5.000-7.000 Frauen und Kinder wurden vom IS entführt und als Sexsklavinnen vermarktet. Von den geflüchteten Menschen im Gebirge starben viele an den Folgend der Strapazen, der Hitze und des Wassermangels. Die Alliierten unter Führung der USA retteten nur wenige Menschen, leisteten nur unzureichende humanitäre Hilfe und griffen militärisch nicht ein. Es waren Kämpfer und Kämpferinnen der Arbeiterpartei Kurdistans PKK und der kurdisch-syrischen Volksverteidigungseinheiten YPG/YPJ, die kurz darauf von Syrien aus für 20 Tage einen Korridor durch das vom IS besetzte Gebiet freikämpften, durch den 50.000 Menschen fliehen konnten. Nur zur Erinnerung: Es ist die gleiche PKK, die in Deutschland immer noch verboten ist und deren Anhänger*innen verfolgt werden.

Im Comic geht es um die Tage vor dem Angriff, den Angriff selbst, den Verrat der muslimischen Nachbar*innen, die folgende Flucht und das Leben und Sterben – aber es geht auch um Mut, Mitgefühl und Überlebenswillen. Die Dänen Tore Rørbæk (u.a. Journalist) und Mikkel Sommer (Illustrator) haben aus unzähligen Berichten und Interviews von Überlebenden einen eindrucksvollen Comic gestaltet, in denen die Geschichte anhand der beiden Brüder Mazlum und Ismail und ihrer Familie lebendig wird. In kraftvollen Farben und einem kräftigen Strich wird ein eindringliches Bild des Geschehens dargestellt, das eine*n sehr bewegt. Mit vielen weiteren Informationen zum Jesidentum und dem Genozid ergänzt das Nachwort von Thomas Schmidinger die Handlung und erinnert daran, dass die damaligen Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten dürfen.

Aktuell sind die verbliebenen bzw. zurückgekehrten Jesid*innen erneut bedroht. Nach dem Genozid haben sie eigene Verteidigungseinheiten aufgestellt, die nicht nur der irakischen Zentralregierung, die Anspruch auf die Gebietshoheit stellt, sondern auch der nordirakisch-kurdischen Regierung ein Dorn im Auge sind. Noch größer ist jedoch die Bedrohung aus der angrenzenden Türkei, deren Regierung unter Erdoğan nicht nur immer wieder das Gebiet bombardiert, sondern offen mit einem Einmarsch droht. Das würde eine weitere Vertreibung der Jesid*innen bedeuten.

Shingal
Tore Rørbæk, Mikkel Sommer
Aus dem Dänischen von Alexander Sitzmann
102 Seiten | Euro 18,00
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