Zu spät aufgewacht?

Das Schulfach „Wirtschaft“ ist bereits eingeführt – gegen den deutlichen Willen von Gewerkschaften und Verbänden. Nun geht die NRW-Landesregierung einen Schritt weiter und möchte auch noch der sozialwissenschaftlichen Lehrer*innenausbildung an den Kragen. Doch es regt sich Protest gegen diese Pläne der NRW-Bildungspolitik, mit dem Schulfach gleich auch die Lehrer*innenausbildung auf marktgerecht zu trimmen.

Dass Schüler*innen in Nordrhein-Westfalen (NRW) künftig vor allem lernen sollen, was Wirtschaft, nicht aber was politische Beteiligung und das Leben in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen bedeuten, hat im letzten Jahr kaum für Bewegung gesorgt. Das ändert sich jetzt – wohl aber zu spät. Denn die Landesregierung aus CDU und FDP zieht mit einer neuen Verordnung für die Lehrer*innen-Ausbildung nach. Trotz Protesten. Schule wird also – von Euskirchen bis Hamm, von Paderborn bis Mönchengladbach: Lernort für Marktlogiken, Kapitalwirtschaft und Gewinnorientierung. Und Düsseldorfs Landesregierung mittendrin, als große Entscheiderin mit Lobby-Weitblick.

Plötzliche Aufregung?

Als im Dezember 2020 die letzten Verordnungs-Entwürfe der CDU-FDP-Regierungskoalition im Düsseldorfer Landtag öffentlich wurden, war der Aufschrei groß. Denn Viele werden von den neuen Entwicklungen betroffen sein, wenn es nun um die Veränderung der Lehrer*innenausbildung in NRW geht. Für die hiesige Schulpolitik aber ist diese Ausbildungskorrektur vermeintlich notwendig geworden. Schließlich ist auf Druck der FDP zum Schuljahr 2020 das Fach „Wirtschaft“ in den Regelschulen eingeführt worden und wird nun Schritt für Schritt in die Lehrpläne an NRW-Schulen aufgenommen.

Bereits im Koalitionsvertrag der CDU-FDP-Landesregierung von 2017 wurde der Plan vereinbart, das Fach „Wirtschaft“ in den Schulen zu etablieren. Und schon damals war klar: Befürworter*innen für diese Lehrplanveränderung werden sich sicher viele finden. Die Vermittlung von Wissen über ökonomische Zusammenhänge, Prozesse und Strukturen in den weiterführenden Schulen steht scheinbar hoch im Kurs, viele Stimmen fordern ihre Ausweitung.

So weit, so unproblematisch?

Das denken sich vielleicht einige. Doch die Kritiker*innen warnen vor der Entkopplung der ökonomischen Bildung von der politischen Bildung und sehen an deren Ende die Gefahr einer Ökonomisierung der Lerninhalte wie der Bildungsstrukturen. Diese Schwerpunktverschiebung wird sogar vom als konservativ geltenden Philologenverband abgelehnt.

Wenn man sich zusätzlich anschaut, wer in der Vergangenheit wiederholt die Einführung eines eigenen Faches „Wirtschaft“ gefordert hat, scheint der Gedanke an Lobbyismus durchaus naheliegend. Wirtschaftsverbände, Kammern, unternehmensnahe Stiftungen und Wirtschaftsredaktionen sind diejenigen, die mit der Einführung des neuen Schulfaches ihr Ziel erreicht sehen.

Die Kritikpunkte der Elternverbände wiederum zielen genau in diese Richtung. Denn es ist lange Zeit unklar geblieben, welche Lerninhalte der neuen ökonomischen Fokussierung zum Opfer fallen würden. Anders gefragt: Was wollen wir den Jugendlichen am Ende ihrer Schullaufbahn mitgegeben haben? Welches Wissen wollen wir vermitteln? Wollen wir, dass sie einsatzbereit für den Arbeitsmarkt sind? Dass sie Gelerntes schlicht reproduzieren können? Oder wäre es uns lieber, dass junge Erwachsene die Kompetenzen dafür erlangen, Situationen und Problemstellungen aus mehreren Perspektiven mit eigener Schwerpunktsetzung analysieren und bewerten zu können? Ohne Verengung auf Wertschöpfungslogiken und Marktmacht-Strukturen?

Abschaffung der Sozialwissenschaften?

Auch wenn zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser allgemeinen Ideen das gesamte Ausmaß der Veränderungen noch nicht erkennbar war, deuteten sich doch spätestens 2019 bereits genauere Pläne der FDP-Bildungsministerin Yvonne Gebauer an. Im Interview mit dem Handelsblatt benannte sie damals ein Lehramtsstudium für Wirtschaft als eines der Ziele der Landesregierung von NRW, um das Studienfach dem neu installierten Unterrichtsfach anzupassen. Also eine De-facto-Abschaffung des Studienfaches Sozialwissenschaften.

Und allerspätestens nach der Veröffentlichung der Kernlehrpläne Anfang 2019, als mehrere Verbände, darunter die Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft, die Gesellschaft für sozioökonomische Bildung und Wissenschaft und die Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung, im Rahmen der Verbändebeteiligung ihre Kritik an den Plänen der Landesregierung äußerten, hätte es klar sein sollen:

FDP und CDU wollen die Dominanz der wirtschaftswissenschaftlichen Perspektiven in der Ausbildung von Jugendlichen durchsetzen und verstoßen damit gegen den integrativen Charakter des Faches.

Genau gegen diese Entwicklung wandte sich die damalige Kritik der Verbände unter Betonung der bewährten Interdisziplinarität. Das Unterrichtsfach Sozialwissenschaften zeichnet sich seit seiner Einführung durch eine Verbindung der drei Teildisziplinen Politikwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Soziologie aus. Die Schüler*innen lernen durch die Auseinandersetzung mit diesen genannten Teildisziplinen, sich mit komplexen Themen und Fragestellungen aus verschiedenen Perspektiven und mit deren wechselseitigen Abhängigkeiten zu befassen und die Folgen zu bedenken. So kann es beispielsweise darum gehen, die Konsequenzen aus einer neu einzuführenden politischen Maßnahme für die Gesellschaft, für das Funktionieren, die Finanzierung und den Fortbestand des Sozialstaates und gleichzeitig auch für den Wohlstand der Bevölkerung in Deutschland unter Berücksichtigung von Gerechtigkeitsüberlegungen multiperspektivisch einzuschätzen und abzuwägen.

Die Verbände sprachen sich insbesondere gegen eine „Privilegierung spezifischer ökonomischer Lehrinhalte und Perspektiven zulasten der politischen Bildung“ aus. Denn was für eine Gesellschaft würde entstehen, wenn der Wirtschaft ohne Rücksicht auf soziale Folgen bei politischen Entscheidungen der Vorrang gegeben würde? Diese Kritik kommt dem einen oder der anderen sicher mit Blick auf die aktuellen Diskussionen der Corona-Maßnahmen, die Wirtschaftsstrukturen, Werkhallen und Büros vom Infektionsschutz ausklammern, nur allzu bekannt vor ...

Infolgedessen bestand die einhellige Forderung der Verbände darin, die Stärke pluraler Sichtweisen im Unterricht beizubehalten und zu sichern. Allerdings natürlich nicht ohne auf die Qualitätskriterien, die maßgeblich sind für den sozialwissenschaftlichen Unterricht, zu verweisen: den sogenannten Beutelsbacher Konsens mit den Grundregeln des Kontroversitätsgebots, des Überwältigungsverbots und der Schüler*innenorientierung.

Verspäteter Protest

Leider blieben diese Kritikpunkte in der breiten Öffentlichkeit viel zu lange Zeit ungehört und fanden auch in den Schulen keine größere Resonanz.

Ein wahrnehmbarer Protest formierte sich erst Ende des Jahres 2020, nachdem ein Entwurf zur Änderung der Lehrer*innenausbildung öffentlich wurde. Darin enthalten sind die Pläne von Ministerin Gebauer, wie genau die bereits beschriebene Idee der Abschaffung des Faches „Sozialwissenschaften“ als Studienfach zugunsten des Faches „Wirtschaft-Politik“ umgesetzt werden soll.

Die daran geäußerte Kritik ist nicht neu, so betonen beispielsweise die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) sowie Fachschaften unterschiedlicher Universitäten ebenfalls die Komplexität gesellschaftlicher Probleme und die damit einhergehende Notwendigkeit einer interdisziplinären Sichtweise bei deren Analyse.

Neu hingegen waren die Pläne, dass Lehrkräfte, die bislang das Fach Sozialwissenschaften unterrichtet haben, dies zunächst nur vertretungsweise würden tun dürfen und vor ihrem vollwertigen Unterrichtseinsatz erst einen einjährigen Qualifikationskurs absolvieren müssen. Ähnliche Unsicherheiten wären für die derzeitigen Studierenden des Faches „Sozialwissenschaften“ entstanden.

Dem Statement der schulpolitischen Sprecherin der FDP, Franziska Müller-Rech, vom 22. Februar 2021 ist zu entnehmen, dass zumindest diese Pläne nicht mehr verfolgt werden, dass also die Abschlüsse weiterhin ihre Gültigkeit behalten. Außerdem betont sie, dass auch im Fach „Wirtschaft“ eine „interdisziplinäre Ausrichtung verfolgt“ werde.

So scheint die von der FDP-Politikerin als „Stimmungsmache“ diffamierte Kritik von unterschiedlichen Seiten zumindest in diesen Punkten gewirkt zu haben, auch wenn die Einführung des Faches „Wirtschaft“ mit all seinen Konsequenzen nicht mehr abzuwenden ist.

Was bleibt, ist der Vorwurf der Klientelpolitik gegenüber der Koalition und insbesondere ihrer FDP-Bildungsministerin Yvonne Gebauer.

Katrin

39.360 Menschen haben bis Redaktionsschluss zur März-Ausgabe der TERZ am 18. Februar 2021 die change-org-Petition „#Sowi bleibt!“ unterzeichnet. Auf der Petitions-Homepage kommentiert auch Sigrid Beer, Mitglied des Landtags und bildungspolitische Sprecherin der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen am 26. Januar 2021, dass der Versuch, den Studiengang Sozialwissenschaften abzuschaffen, als „ideologisch motiviertes Manöver“ der NRW-Landesregierung zu interpretieren sei. Sie bekräftigt, dass ihre Fraktion im Landtag „den Widerstand der Hochschulen und Fachverbänd[e]“ unterstützen wird.

Die Petition ist noch offen und erreichbar unter: https://change.org/p/bundesministerium-nrw-das-fach-sozialwissenschaften-darf-nicht-abgeschafft-werden-sowibleibt [Stand: 21.02.2021].