Dem einen und der anderen werden sie (hoffentlich) aufgefallen sein: mit einer Plakataktion machen die Fortuna Dissidenti Ultras auf die durch die Anti-Corona-Pandemie-Maßnahmen noch deutlicher zu Tage tretenden sozialen Verwerfungen aufmerksam. Neben zahlreichen Fotos erreichte uns dazu folgender Text:

Erst überwinden wir den Kapitalismus, dann holen wir uns den Fußball zurück!

Hallo Fußballfans,

noch immer ist unser Alltag geprägt durch Hygiene- und AHA-Regeln, Social Distancing und Quarantäne. Mittlerweile kennen die meisten von uns Herrn Drosten und das RKI, kennen die Unterschiede zwischen einer Behelfs- und einer FFP2-Maske und wissen, wie eine gründliche Handdesinfektion ablaufen sollte.

Ein großer Teil unseres Lebens findet nur noch auf Online-Plattformen statt. Damit können wir unseren liebsten Menschen zumindest ein wenig nahe sein, unserer Arbeit nachgehen oder unsere Schulaufgaben erledigen oder an Seminaren der Uni teilnehmen. Hier wird bereits ein Teil der Problematik sichtbar. Menschen, die ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung haben, im Besitz eines Smartphones, Tablets oder PCs sind, können sich diesen Luxus der digitalen Nähe leisten, alle anderen bleiben, wie viel zu häufig, auf der Strecke.

Die Corona-Pandemie stellt die Dinge auf den Kopf, grundlegende Probleme in diesem System werden jeden Tag sichtbarer und der Kapitalismus zeigt sein ungeschöntes Gesicht.

In allen Bereichen, auch im Profifußball, wird deutlich, dass es so nicht weitergehen kann und darf. Es ist kein Geheimnis, dass uns Fußballfans immer wieder Hürden in den Weg gestellt werden, wir ständiger Repression ausgesetzt sind oder uns andere Probleme vor die Füße geworfen werden. Schon immer haben wir versucht, klarzukommen, kritisch hinterfragt, Missstände aufgezeigt und gegen das bestehende System gekämpft. Ein bitterer, unermüdlicher Kampf nicht nur von uns, sondern von unzähligen Fanszenen weltweit.

Mittlerweile scheint es, als würden selbst die systemtreuesten Kapitalismusliebhaber*innen merken, dass die Probleme des Fußballs auf ein und dasselbe Thema zurückzuführen sind. Plötzlich wird über eine „gerechtere“ Verteilung von Fernsehgeldern diskutiert. Transfersummen und Gehälter werden in Frage gestellt. Kann es also wirklich sein, dass den Funktionär*innen, Vorständen, Manager*innen, dem System Profifußball klar geworden ist, dass sich etwas verändern muss? Die Antwort ist leider ernüchternd und leicht vorhersehbar: Nein.

Wir möchten hiermit nicht das Engagement, die Arbeit und den Willen der vielen Menschen kleinreden, welche sich immer wieder an einen „Runden Tisch“ nach dem nächsten setzen, um die Dinge positiv zu verändern. Wir begrüßen die aktuelle Entwicklung und Initiativen wie z. B. „Unser Fußball“ inklusive ihrer Reformbemühungen. Uns allen sollte jedoch bewusst sein, dass zwar eine Handvoll Symptome des Kapitalismus, nicht aber die Ursachen bekämpft werden. Der Kapitalismus wird in seine Schranken gewiesen, er setzt zeitweise eine vermeintlich gerechtere Maske auf, die Wogen werden geglättet, damit Fans zukünftig wieder ins Stadion gehen, anstatt sich komplett abzuwenden, und dann ist wieder alles im Lot.

Mitnichten, denn die Ursachen, die grundlegende Problematik, ist dadurch nicht verschwunden sondern bleibt besteen. Was hinter dem großen Begriff „Kapitalismus“ steckt möchten wir mit folgender, kurzer Definition erläutern: Beim Kapitalismus handelt es sich um ein Wirtschaftssystem. In diesem System ist der größte Anteil des Arbeitens/Wirtschaftens auf Profit ausgerichtet. Wichtig zu erwähnen ist jedoch, dass in diesem System nicht für die Bedürfnisse von Menschen produziert wird, produziert wird ausschließlich für Zahlungsfähige.

Fabriken, Grundstücke, Rohstoffe etc. sind Produktionsmittel, welche sich fast ausschließlich in Privatbesitz befinden, wodurch der Großteil der Bevölkerung kein Mitspracherecht hat bzw. nicht mitentscheiden darf, was und wie produziert wird. Der Großteil der Bevölkerung hat somit nur die eigene Arbeitskraft zur Verfügung und ist gezwungen, diese zu verkaufen, um überleben zu können. Die Menschen sind von ihrem Lohn abhängig und dem Arbeitsmarkt vollständig ausgeliefert.

Mithilfe der Definition möchten wir nun anhand einiger Beispiele deutlich machen, wie dieses Wirtschaftssystem den Fußball, uns einzelne Fans, aber auch die gesamte Fanszene betrifft. Laut Definition sind wir alle durchweg Teil des kapitalistischen Systems und haben kaum eine Chance, der Verwertungslogik im Fußball zu entkommen. Verwertungslogik ist für den kapitalistischen, profitorientierten Fußball das absolute Zauberwort. Es wird alles verwertet, um daraus Profit zu erzielen oder das angebotene Produkt „Profifußball“ noch attraktiver zu gestalten, um – wer hätte es anders erwartet – erfolgreicher verkaufen zu können. Wenn wir sagen alles wird verwertet, dann meinen wir auch alles.

Auf den ersten Blick offensichtlich sind die überteuerten Ticketpreise und das Merchandise in allen Variationen. Du willst nicht nur dich selbst, sondern auch deinen gesamten Haushalt mit deinem Vereinswappen ausstatten? Kein Problem, denn der Verein deines Vertrauens ist für dich da. Bettwäsche, Handtücher, Badelatschen, Quietsche-Ente, Duschgel, Zahnputzbecher und passende Zahnbürsten, Gläser, Tassen, Besteck, Müslischalen, Salzstreuer, Brotdosen, Aschenbecher, Fußmatten, Zimmerlampen … Wir könnten ewig so weiter machen, aber es ist sicher deutlich geworden, worauf wir hinaus wollen.

An diesem Punkt ist es wichtig, genau hinzuschauen, wer oder was kritisiert werden sollte. Es ist nicht der Verein oder die Merchandise-Abteilung, denn diese sind im Kapitalismus ebenso gefangen und haben keine andere Wahl, als alles zu versuchen, um Profit zu generieren. Wie soll Verein XY sonst auch – ohne das nötige Kleingeld – neue Spieler*innen verpflichten und den Verein am Laufen halten?

Natürlich wäre es wünschenswert, wenn unsere Fortuna bei alldem nicht mitmachen würde, doch dann können wir direkt wieder Kreisliga spielen oder den Laden gleich komplett dichtmachen. Das Problem ist leider nicht Person oder Vorstand XY, denn dann wäre die Lösung ganz einfach. Wir tauschen im Profifußball die komplette Führungsebene aus und alles wird besser. Kleine positive Veränderungen sind natürlich möglich, doch wie bereits zuvor erklärt: Symptome werden bekämpft, nicht die Ursache. An Symptomen mangelt es definitiv nicht. Digitale Bandenwerbung, die Eckball-Präsentation, der Torjubel, Zuschauer*innenzahlen präsentiert von …, die Zerstückelung der Spieltage, Fernsehrechte und Fernsehgelder, Transfersummen, Fans und Ultras.

Ja, ihr habt richtig gelesen. Auch wir gehören in diese Auflistung. Wir sind Teil des Systems und halten es am Leben, egal ob wir das wollen oder nicht. Wir sind die Menschen, die Emotionen ins Stadion tragen. Wir sind voller Leidenschaft, schreien uns die Seele aus dem Leib. Wir reisen hunderte Kilometer und ganz egal, wie viele Niederlagen wir einstecken müssen, wir würden es immer wieder tun. Wir verbringen unzählige Stunden kniend auf dem Boden, um Fahnen zu malen und Choreos vorzubereiten. All das machen wir aus Liebe zu unserem Verein und nicht wegen des Profits.

Doch unsere Arbeitskraft produziert, der Profifußball verwertet. Wir sind nämlich die Menschen, die das „Stadionerlebnis“ zu dem machen, was es ist. Es sind unsere Stimmen, die Sky bei Geisterspielen verwertet, wenn Du Stadiongesänge per Knopfdruck bestellst. Mit uns wird an jedem verdammten Spieltag Profit generiert und trotzdem heißt es am Ende des Tages, wir seien nur unverbesserliche Chaot*innen, sogenannte Fußballfans.

Die Vereine dieser Welt müssten uns allen den roten Teppich ausrollen, denn ohne uns wären sie – wäre der Fußball – nichts. Bei all der berechtigten Wut und Frustration möchten wir euch jedoch sagen, dass auch wir das kapitalistische System für uns nutzen. Wir alle leben im Hier und Jetzt und leider finanzieren sich Fahnen, Choreos und Co. nicht von alleine. Auch wir vermarkten uns, produzieren Waren, für die ihr Geld zahlt, überlegen, was euch gefallen könnte. Wir möchten nicht den Anschein erwecken, besser als andere zu sein oder alles perfekt zu machen. Auch für uns ist es lediglich der Versuch, in diesem beschissenen System irgendwie klarzukommen, während wir gleichzeitig versuchen, Dinge positiv zu verändern, um unserer Vorstellung eines besseren Lebens Stück für Stück näherzukommen.

Wir haben keinen geheimen Plan zur Lösung im Gepäck. Doch was wir ganz sicher wissen, ist, dass Fußball, so wie wir ihn uns wünschen, im Bestehenden nicht existieren kann. Wir müssen den Kapitalismus überwinden und das schaffen wir nur durch eine gemeinschaftlich entwickelte Lösung und die gemeinsame Umsetzung.

Lasst uns anfangen zu diskutieren. Lasst uns aufhören, lediglich die Symptome zu bekämpfen. Lasst uns gemeinsam den Kapitalismus überwinden. Organisiert euch und bildet Banden oder Bündnisse. Unterstützt die Menschen vor Ort in ihren Arbeitskämpfen, startet Solidaritätsaktionen für Streikbündnisse, schließt euch den feministischen Kämpfen in eurer Stadt an, verbündet euch und lasst uns gemeinsam dieses dreckige System zu Fall bringen.

Fight The Game - Not The Players!
Für eine bessere Welt und einen Fußball der uns allen gehört!

Dissidenti Ultra
https://dissidenti-ultra.de