Realpolitik im Spagat – Care und Klima, mehr als skurrile Minderheiteninteressen

Gabriele Winker denkt in ihrem neuen Buch zwei der drängendsten Probleme der Gegenwart zusammen, die ökologische Krise und die Krise der (bezahlten und unbezahlten) Sorgearbeit.

Die ökologische Krise, Stichwort: Klima, ist schon länger ein politisches und mediales Thema, die kommerzielle und private Sorgearbeit ist durch „Corona“ endlich auch noch einmal stärker in den Fokus geraten. Die Freiburger Soziologin, die sich mit ihrem Blick auf (arbeits-)soziologische Analysen gesellschaftlicher Bedingungen zugleich immer auch mit politischen Handlungsoptionen beschäftigt, widmet ihr aktuelles Buch der Verschränkung beider Themenfelder. Sie trennt weniger als wir meinen. Im Gegenteil, die Strukturen von Entfremdungs- und (Wieder-)Aneignungsprozessen in Balance von Sorge-Arbeit mit und für eine solidarische Umweltpolitik und kritische Ökonomie liegen nah zueinander und stehen für ihre Verschränkung gewissermaßen bereit. Das haben nicht zuletzt die aktuellen Entwicklungen mehr und mehr gezeigt.

Im Bereich der privaten Sorgearbeit etwa war in den Monaten der Pandemie das Phänomen der Erschöpfung vorherrschend. Während Auto- und Flugzeugkonzerne selbstredend großzügig unterstützt wurden, gab es für Menschen mit Kindern und Familien wenig und für in der Pflege oder im Krankenhaus lohnarbeitende Menschen noch weniger. Care wird – ebenso wie die Klimakrise – ignoriert, und als Tätigkeit auch abgewertet. Die Überlastung im privaten und beruflichen Bereich ist enorm und wird Folgen weit über das „Ende der Pandemie“ hinaus haben. Es ist kein Zufall, dass der Großteil der beruflichen und der privaten Erziehungs- und Pflegearbeit von Frauen geleistet wird, bei seit Jahren – für beide Geschlechter – durchschnittlich fallenden Reallöhnen oder auch der fundierten Wahrnehmung, am Ende eines jeden Monats zu wenig Geld in der Tasche zu haben für die Arbeit, die wir geleistet haben.

Mehr freie Zeit

Die Menschen, so eine von Gabriele Winkers zentralen Forderungen, die sie auch immer wieder mit Zahlen untermauert, brauchen mehr (freie) Zeit. Mehr Zeit für sich, für Entspannung, Familie – und auch für Politik. Dazu muss es zuallererst eine Arbeitszeitverkürzung geben. Zweitens müssen endlich der Wohlstandsbegriff und die Lebensqualität vom immerwährenden Wachstum der materiellen Produktion entkoppelt werden, da nicht zuletzt die berühmten Rebound-Effekte alle ökologischen Innovationen auffressen würden. Ein System Change hin zu einer solidarischen Gesellschaft, und eine, in Anlehnung an Rosa Luxemburg formulierte „revolutionäre Realpolitik“ sei dringendst nötig.

Gabriele Winkers Schlussfolgerung ist eindeutig. Für eine Lösung der von ihr diskutierten Probleme in Richtung einer Care Revolution muss der Kapitalismus überwunden werden. 2014 bereits gründete Winker nicht nur deswegen zusammen mit vielen anderen das Netzwerk „Care Revolution“ (https://care-revolution.org). Von 2003 bis vor kurzem arbeitete die 1956 geborene als Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der TU Hamburg.

Mit dem knapp 200 Seiten starken Band „Solidarische Care-Ökonomie“ hat Winker ein insgesamt kluges, aber letztendlich auch ernüchterndes Buch vorgelegt. Denn sie beschreibt gut, was viele tagtäglich erleben, und was auch in vielen emanzipatorischen Kreisen längst bekannt ist. Bei der Frage der Aktion und der nach den Akteur*innen bleiben Winkers Beschreibungen, Analysen und Argumente aber unterkomplex. Wer genau ist es, die*der die Änderungen mit welcher Motivation erkämpfen sollen und wollen? Die von Gabriele Winker vorgebrachten Lösungen wie „politischer Streik“ oder auch „konkrete solidarökonomische Projekte als Modelle aufbauen“ wirken doch angesichts des Zeitdruckes eher hilflos. Und was ist eigentlich mit den Gewerkschaften? Trotz einiger Kritik aber ein in seiner Analyse sehr lesenswertes und trotz seiner sozialwissenschaftlichen Sprache noch verständliches Buch.

Bernd Hüttner

Gabriele Winker: Solidarische Care-Ökonomie. Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima
transcript Verlag
Bielefeld 2021
212 Seiten
15 EUR