No Lager

war das Motto der Aktionswoche Ende Juni, die die Antira-Vernetzung NRW organisiert hat. Mit verschiedenen Veranstaltungen und Aktionen in NRW wurden die unhaltbaren Zustände der Lager-Unterbringung von Geflüchteten und Asylsuchenden und die Kontinuität von Entrechtung, Isolation und Abschiebung in die Öffentlichkeit gebracht und skandalisiert.

Flucht und Asyl – kein Themain der Pandemie?

Die Situation von Geflüchteten und Asylsuchenden ist in den letzten Monaten aus den Schlagzeilen verschwunden. Die öffentliche Debatte dreht sich seit mehr als einem Jahr fast ausschließlich um das Pandemie-Geschehen und dessen wirtschaftliche Folgen für Deutschland.

Und wenn im Verlauf des letzten Jahres die Situation von Geflüchteten mal thematisiert wurde, ging es vor allem um die unmenschlichen Bedingungen in den Lagern an den EU-Außengrenzen wie Moria (Griechenland) oder Lipa (Bosnien). Die mediale Berichterstattung zeigt Bilder von überfüllten Lagern, brennenden Zelten und verzweifelten Menschen. Immer wieder weisen Personen, die vor Ort unterstützen, auf diese katastrophalen Zustände hin. Dennoch passiert nichts, was den notleidenden Menschen helfen würde. Ganz im Gegenteil, die Umstände verschärfen sich. Immer mehr Lager werden zu geschlossenen Lagern, die mit Mauern und Zäunen gesichert sind. Die EU verweigert politische Entscheidungen und begründet ihre Untätigkeit mit dem Fehlen einer europäischen Einigung in der Migrations- und Asylpolitik. Gleichzeitig wird der Etat von Frontex aufgestockt, illegale Pushbacks durch griechische, kroatische und litauische Grenzschützer*innen und Frontex-Beamte werden toleriert und Abkommen mit der Türkei und dem libyschen Regime werden geschlossen. So treibt die EU ihre Abschottung öffentlich und ohne Skrupel voran.

Isolation und Entrechtung finden auch in NRW statt

Von den katastrophalen Zuständen in der bundesdeutschen Lagerunterbringung wurde fast nur zu Beginn der Pandemie berichtet. Dabei gehören fehlende Möglichkeiten, hygienische Standards einzuhalten, die Aufrechterhaltung der Unterbringung in Mehrbettzimmern, Kettenquarantäne sowie Ausgangs- und Kontaktverbote nach wie vor zum Alltag von Geflüchteten. Monatelang wurde die kommunale Zuweisung ausgesetzt, so dass Geflüchtete deutlich länger als vorgesehen in den zentralen Unterbringungen bleiben mussten. Mittlerweile gibt es zwar Impfangebote und die Menschen in den Lagern wurden aufgrund der Enge und der mangelnden hygienischen Zustände der Priorisierungsgruppe 2 zugeordnet, doch es fehlt nach wie vor an mehrsprachigen und zielgruppenspezifischen Informationen und Aufklärungsangeboten.

Schon im Zuge der Asylrechtsverschärfungen in den Jahren 2016 und 2019 durch die Bundesregierung verschlechterte sich die Unterbringungssituation für Geflüchtete massiv. Den Menschen in den Lagern werden seitdem systematisch fundamentale Rechte u. a. auf Privatsphäre, Beschulung, medizinische Regelversorgung, unabhängige Asylverfahrensberatung oder Arbeitsmöglichkeiten vorenthalten.

Wer wann und wie lange in welcher Art von Lager untergebracht wird, regelt das deutschen Asylsystem detailliert. In Nordrhein-Westfalen stellen die Asylsuchenden ihren Antrag in der Landes­erstaufnahme (LEA) in Bochum. Von dort aus werden sie in eine Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) in Bielefeld, Köln, Bonn, Essen, Mönchengladbach oder Unna gebracht. Hier findet die Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) statt, auf deren Grundlage dann eine Entscheidung über das Asylgesuch gefällt wird. Anschließend werden die geflüchteten Menschen auf die Zentralen Unterbringungseinrichtungen des Landes (ZUEs) verteilt.

Eigentlich sollte die Verweildauer in EAEs nur wenige Wochen dauern. Realität ist aber, dass ein großer Teil der Bewohner*innen über ein Jahr dort bleiben muss.

Durften Asylsuchende bis 2019 maximal sechs Monate in einer ZUE untergebracht werden, sind seit dem Inkrafttreten des sogenannten „Geordnete-Rückkehr-Gesetzes“ – in Horst Seehofers Bundesinnenministerium entworfen und vom Bundestag mit deutlicher Mehrheit verabschiedet – nun bis zu 18 Monate möglich (§47 AsylG). Der NRW-Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration Joachim Stamp hat durch den ‚Asyl-Stufenplan‘ eine Regelung geschaffen, die es sogar ermöglicht, die Menschen 24 Monate und länger in den ZUEs festzuhalten. Davon sind oft Personen betroffen, bei denen ein Dublin-Verfahren anhängig ist (sie sollen in das Land zurückkehren, wo sie als erstes europäischen Boden betreten haben), Geflüchtete aus sogenannten „sicheren Herkunftsländern“ (Balkanländer, Senegal und Ghana) und aus Aserbaidschan und Armenien.

Auch Menschen, deren Kinder oder Ehepartner*in­nen bereits in Deutschland außerhalb der Lager leben, müssen in ZUEs bleiben. In der Praxis ist aus der maximalen Wohnverpflichtung in den Lagern eine Mindestaufenthaltszeit geworden. Menschen, über deren Asylgesuch noch nicht abschließend oder negativ entschieden wurde, werden in dem gesamten Zeitraum systematisch ausgegrenzt, isoliert und entrechtet. Sie sind bis zu zwei Jahre unerträglicher Enge, permanenten Kontrollen, Monotonie, Angst vor Abschiebung und Gewalt ausgesetzt. In den häufig abgelegenen Lagern wird ihnen der Kontakt zur übrigen Bevölkerung faktisch unmöglich gemacht und die politische und soziale Vernetzung mit anderen Geflüchteten erschwert.

Ihre Isolation ist politisch gewollt: Sie soll den reibungslosen Ablauf von Abschiebungen ermöglichen – die schwerpunktmäßig aus NRW-Landesunterkünften stattfinden – und zugleich eine öffentliche Debatte über die Zustände und Funktion von Lagerunterbringung verhindern.

Zusammen gegen Lager und Entrechtung

2018 hat sich die ‚Antirassistische Vernetzung NRW‘ als ein Zusammenschluss von Gruppen und Einzelpersonen gegründet. Im Juni diesen Jahres organisierte sie eine ‚NoLager-Aktionswoche‘, in der diese alltägliche Praxis von Entrechtung, systematischer Ungleichbehandlung und Isolation geflüchteter Menschen in Lagern in die Öffentlichkeit gebracht wurde. Es ging sowohl um Lager in NRW als auch an den EU-Außengrenzen und um das Zusammenspiel nationaler und europäischer Abschottungs- und Abschiebepolitik.

In den Städten Aachen, Bonn, Düsseldorf, Köln, Münster, Siegen und Wuppertal gab es vom 19. bis 27. Juni 2021 vielfältige dezentrale Veranstaltungen und Protestaktionen gegen die Lagerunterbringung von Geflüchteten, ihre unmenschliche Behandlung und die unhaltbaren Zustände. Den Menschen in den Lagern wurden solidarische Zeichen gesendet und mit ihnen zusammen wurde gegen dieses System der Entrechtung protestiert.

Die zentrale Aktion war eine NRW-weite Demonstration am Freitag, den 25. Juni 2021. Unter dem Motto „Close the camps – break isolation!“ zogen rund 150 Menschen durch die Düsseldorfer Innenstadt, um mit Reden, Transparenten und lautstarken Parolen auf die Situation in den Massenunterkünften aufmerksam zu machen. Unter den Demonstrant*innen befanden sich viele (ehemalige) ZUE-Bewohner*innen, die in Redebeiträgen und am offenen Mikrofon auf der Abschlusskundgebung an der Reuterkaserne von ihren Erfahrungen aus dem Lageralltag berichteten.

Alltag heißt hier Repression

Mamadou aus Westafrika, der in der ZUE Ratingen untergebracht ist, beschrieb das Lebensgefühl folgendermaßen:

„Was mich am meisten bedrückt: für mich stellt sich das so dar, dass man kein Recht hat zu bestimmen, wie man hier lebt. Was mich sehr stört ist, dass man uns die Zeiten und die Art des Essens vorschreibt. Sie fragen uns in keinster Weise, was wir essen wollen.

Sie geben uns keine Chance zu arbeiten. Wenn man sagt „das möchte ich“, sagen sie bei allem ‚dazu hast du kein Recht‘. Haben wir kein Recht auf Leben? Das ist nicht normal.

Wir haben kein Recht mit den Leuten zu leben, mit denen wir leben wollen. Das tut weh.“

Das Leben in einer ZUE ist stark reglementiert und Verstöße gegen die Hausordnung werden sanktioniert. So berichtete Ahmad, dass nach einem Fehl-Feueralarm die gesamte Bewohner*innenschaft mit einem mehrstündigen Hausverbot belegt wurde. Längere Abwesenheiten aus dem Lager werden mit Geld-Kürzungen bestraft. Z. T. finden täglich Zimmerkontrollen statt und persönliche Besitztümer werden durchsucht.

Außer in den Büros der Verwaltung ist das WLAN in den Unterkünften grundsätzlich so schlecht, dass es für die Bewohner*innen unmöglich ist, Kontakte zu Familie, Freund*innen, Anwält*innen zu halten oder gar an einem online Sprachkurs teilzunehmen. Besuche sind in den Lagern grundsätzlich nicht erlaubt. Räume für Sport, Fernsehen oder andere Gruppenaktivitäten sind spätestens seit Beginn der Covid-19-Pandemie geschlossen.

Immer wieder wird das Essen kritisiert, das von einer Großküche gestellt und nur zu vorgegebenen Zeiten in der Kantine eingenommen werden darf. Die Menschen haben keine Möglichkeit, sich selbstbestimmt zu ernähren, weder was den Zeitpunkt noch die Auswahl der Nahrungsmittel betrifft. Frühstück und Abendbrot sind täglich gleich: Toastbrot, selten Brötchen, Butter, Marmelade, Schokocreme und mit Glück ein paar Scheiben Gurke oder Tomate. Das Kochen in den eignen Zimmern ist strengstens verboten. Nicht einmal ein Wasserkocher zur Zubereitung von Kaffee, Tee oder Babynahrung ist gestattet.

Mavis erzählt von der EAE Mönchengladbach:

„Das Essen, das sie geben, ist morgens Brot, Marmelade, Butter, Tee. Mittags - und wir wissen, dass ihr dann gut esst – gibt es Essen, das überhaupt nicht gut ist.

Vor allem für schwangere Frauen. Ich erlebte mehrfach schwangere Frauen, die geweint haben wegen dem Essen. Sie geben dir Essen, die Frauen freuen sich auf Essen, und wenn sie vor dem Essen sitzen und es sehen, weinen sie. Sie weinen! Weil das Essen überhaupt nicht gut ist.

In Mönchengladbach ist es weit bis zur Straße. Du läufst 25 Minuten bis zur Haltestelle für den Bus in die Stadt. Die schwangeren Frauen können nicht in die Stadt fahren, um etwas anderes zu essen zu kaufen. Mehrfach bin ich selbst in die Mönchengladbacher Innenstadt gefahren, um ihnen etwas zu essen zu kaufen. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, es ist ein sehr ernstes Problem. Wenn du alleine bist, kannst du dich um dich selbst kümmern. Aber schwangere Frauen und Kinder ... ?“

Die Gemeinschaftsverpflegung bedeutet, dass es den Bewohner*innen nicht möglich ist, ihre Ernährungsgewohnheiten beizubehalten. Viele von ihnen mögen und vertragen das angebotene, ungewohnte Essen nicht. Oft wird die Verpflegung als ungenießbar beschrieben.

Viele Menschen leiden unter Magen- und Verdauungsbeschwerden, manche zeigen Anzeichen von Mangelernährung, weil sie nicht, zu wenig oder unausgewogen essen.

Den Bewohner*innen steht per Gesetz nur ein Taschengeld von 135,00 Euro monatlich zur Verfügung. Von diesem Betrag müssen alle persönlichen Bedarfe (Handyguthaben, Bus-/Bahn-Tickets, Kleidung, individuelle Pflegemittel, Essen …) gedeckt werden.

Ein anderes belastendes Thema ist die Enge der Zimmer. Vier bis acht Erwachsene müssen in einem Zimmer mit Doppelstockbetten ohne jegliche Privatsphäre leben. Mavis erläutert:

„Es gibt Leute, die jeden Morgen und Abend Insulin spritzen müssen. Sie müssen sich in Anwesenheit der Zimmernachbar*innen spritzen. Es gibt Medikamente, die müssen vor dem Gebrauch im Kühlschrank aufbewahrt werden. Du kannst es nicht ohne Kühlschrank aufbewahren. Aber die Leute müssen für lange Zeit im Camp sein und können die Medikamente nicht nehmen, weil sie keinen Kühlschrank im Zimmer haben. Das ist sehr ernst.“

Mamadou ergänzt:

„Hier im Camp kannst du nicht mit den Leuten deiner Wahl in einem Zimmer leben. Wenn du hier hin kommst, bringen sie dich in ein Zimmer. Du bleibst dort oder man bringt dich in ein anderes Zimmer. Du hast keine Chance zu wählen, mit welchen Leuten du zusammen wohnst.“

Innerhalb der EAEs und ZUEs kommt es immer wieder zu Diskriminierung und Gewalt. Viele Bewohner*innen haben Angst, dass sie aufgrund der eigenen ethnischen oder religiösen Zugehörigkeiten angegriffen werden. Auch wenn sie lesbisch, schwul, trans*, nicht-binär leben (wollen) und das ihr Flucht- und Asylgrund ist, befürchten sie gewalttätige Übergriffe. Frauen, Kinder und LGBTIQ*s haben zudem häufig Angst vor sexualisierter Gewalt durch männliche ZUE-Bewohner, Securities oder andere Beschäftigte der ZUE. Und oftmals kommt es allein schon wegen der räumlichen Enge und der zermürbenden Warterei auf Entscheidungen deutscher Behörden zu persönlichen Krisen und zwischenmenschlichen Konflikten.

Die Ausstattung der EAEs und ZUEs und die Versorgungssituation signalisieren den Geflüchteten deutlich, dass es ihnen hier nicht gut gehen soll. Jegliche Rückzugsmöglichkeit und Intimsphäre werden ihnen verwehrt. Die räumliche Enge und Fremdbestimmung führen zu enormem Stress. Je länger der Aufenthalt für die asylsuchenden Menschen dauert, desto belastender ist die Situation. Depressionen und Suizidalität verstärken sich signifikant mit zunehmender Dauer des Aufenthaltes.

So wie es ist, kann es nicht bleiben!

So offensiv und öffentlich die Festung Europa gegen Flucht und Migration aufrüstet, so abgeschottet sind geflüchtete Menschen in Deutschland von der Öffentlichkeit untergebracht. Fast alle ZUEs liegen isoliert außerhalb der Ortschaften oder am Ortsrand. Häufig sind es ehemalige Kasernen oder Gewerberäume. Dadurch sind Einkäufe, Behördenbesuche und die Inanspruchnahme von Beratungs- und ehrenamtlichen Angeboten sowie anwaltlicher Hilfe für die Bewohner*innen deutlich erschwert.

Die Gelände sind alle mit hohen, oft mit Stacheldraht bestückten Zäunen abgeriegelt und werden von uniformierten Sicherheitsdiensten bewacht. Für viele Geflüchtete ist diese Art der Kasernierung retraumatisierend, weil sie an oft massive Gewalterfahrungen in Gefängnissen und Lagern in ihren Heimatländern oder auf der Flucht erinnert.

Die Abgeschiedenheit erleichtert den Behörden zudem, Abschiebungen unbemerkt und ohne Proteste durchzuführen. Sie verhindert die öffentliche Beobachtung des Abschiebeverfahrens, das meistens nachts und oft gewaltsam stattfindet. So werden systematisch öffentlicher Protest und Unterstützung verhindert.

Die Isolation ist gewollt und hat die Funktion, dass möglichst wenig Menschen Einblick in die Zustände in den Unterkünften erhalten. Die Organisation von Protest gegen die schlechten Lebensbedingungen ist dadurch so gut wie unmöglich.

Besonders zynisch ist in NRW die Errichtung eines Lagers für Asylbewerber*innen auf dem Gelände der Nazi-Kaderschule Burg Vogelsang in der Eifel. Auf dem Gelände, auf dem im Nationalsozialismus die „Elite-Schüler“ zur „Vernichtung unwerten Lebens“ ausgebildet wurden, werden heute Menschen kaserniert, die Schutz vor Verfolgung suchen. Auf dem Gelände kommt es immer wieder zu Versammlungen von Nazis und die Angst vor rassistischen Angriffen ist groß.

Lager schließen, Geflüchtete dezentral unterbringen!

Diese Forderung wurde während der No Lager Woche vielerorts laut und deutlich formuliert. Es geht konkret um die sofortige Auflösung der EAEs und ZUEs und die direkte Zuweisung der Menschen in die Kommunen. Und auch dort muss gelten, dass sie nicht in Sammelunterkünfte verbracht werden, sondern dass ihnen ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht wird.

Durch die Aktionen der No Lager Woche sind Kontakte entstanden, die über eine kurze Begegnung hinaus reichen. Es sind Kontakte entstanden zwischen den Bewohner*innen der ZUEs, die sich trotz aller Schwierigkeiten Gehör verschafft haben und sich organisieren und Kontakte mit und zwischen Unterstützer*innen.

Die bisherige Selbstverständlichkeit von Entrechtung, Abschiebung und Isolation geflüchteter Menschen wird nicht länger schweigend hingenommen. Lagerbesuche müssen antirassistische Praxis werden.

Die Forderung bleibt kämpferisch und laut:
Close the Camps – Break Isolation! In NRW und überall!

Autor*innen der Antirassistische Vernetzung NRW

Bericht von den Aktivitäten der NoLager-Aktionswoche und weitergehende Informationen unter https://no-lager.eu