Oberbilk spricht

Nach Aussage von Hans Schmitz (BiBaBuZe) ist das von Alexandra Wehrmann und Markus Luigs herausgegebene Buch „Oberbilk. Hinterm Bahnhof“ derzeit ein Renner, ein Bestseller. Der Weg, einen Stadtteil über die Geschichten von Personen und eindrückliche Bildern zu erschließen, über das, was Menschen zu erzählen haben, die dort wohnen, leben, arbeiten und/oder einen besonderen Bezug zu dem Ort haben, zeichnet die Publikation aus. Und bei denen, die den einen oder die andere der zu Wort kommenden Personen kennen, kommt sicher noch die (allzumenschliche) Neugier hinzu, vielleicht etwas zu erfahren, was man über diese Person noch nicht wusste.

Natürlich ersetzt das Buch nicht, was es an wissenschaftlichen Analysen, literarischen Beschreibungen (Dieter Forte!), künstlerischen Annäherungen und Auseinandersetzungen und auch an politischen Stellungnahmen und Kommentaren zu Oberbilk schon gibt. Aber das war auch gar nicht der Anspruch. Das Werk füllt eine Lücke, die die genannten Perspektiven auf den Stadtteil bisher nicht schließen konnten: Es gibt dem subjektiven Blick der Bewohner*innen im wörtlichen Sinn Raum. Darin sehe ich den wichtigen Beitrag des Bandes für die dringend nötige Debatte in der Stadtgesellschaft: „Wem gehört die Stadt?“ Und vor allem: „In welcher Stadt wollen wir leben?“

Für Oberbilk fällt die Antwort auf diese Fragen klar aus: Die Stadt gehört denen, die darin leben, arbeiten, die an ihr leiden, die sich darin aber auch wohl und zu Hause fühlen. Das Buch ist ein wundervolles Dokument der Lebendigkeit und Vielfalt an Lebenstilen, Kulturen und Herkünften, die diesen Stadtteil prägen. Damit dokumentiert es zugleich eindrücklich (ohne es explizit zu thematisieren), dass das friedliche Zusammenleben von Menschen aus 135 Ländern funktioniert. Gerade deswegen ist das ja auch meist keine Meldung wert. Das ist nicht die reine Harmonie (die es sowieso nicht gibt), es ist nicht immer einfach, es gibt natürlich auch Konflikte – aber, und das ist entscheidend: Es geht! Freilich geht es nicht ganz von selbst, dazu ist auch der Einsatz von vielen Engagierten nötig, von denen einige in dem Buch vorgestellt werden. Oberbilk könnte in dieser Hinsicht zu einem Modell und Vorbild für ähnliche Quartiere in anderen Städten werden.

Eine kritische Anmerkung am Rande: Die einfachen, normalen, durchschnittlichen (zugegeben alles schwierige Kategorien) Oberbilker*innen sind in der Auswahl der Interviewten etwas unterrepräsentiert. Es dominieren die „interessanten“ Personen, die sich durch ein besonderes Verhältnis zu bzw. ein besonderes Engagement für den Stadtteil auszeichnen. Dass die zu Wort kommen, ist gut und wichtig, überhaupt keine Frage! Die anderen hätten aber eventuell etwas stärker berücksichtigt werden können. Auch sie haben Geschichte(n) zu erzählen und ihre Sicht auf Oberbilk hätte dem Porträt sicher noch weitere Facetten hinzufügen können.

Insgesamt aber entsteht mit dem Buch das Bild einer liebenswerten, bunten, lebendigen, multikulturellen Vielfalt. Damit trägt es zu dem Ziel bei, das auch Initiativen wie der „Runde Tisch Oberbilk“ verfolgen: Die Wahrnehmung des Quartiers in der Stadtöffentlichkeit ins Positive zu wenden, weg von den üblichen Klischees und Negativzuschreibungen. Auf diesem Weg wurde durchaus schon einiges erreicht, und dieses Buch wird zweifellos einen weiteren Beitrag dazu leisten.

Das führt zu einem Punkt, der der weiteren kritischen Diskussion bedarf: Der Wandel des Stadtteils, von einigen erhofft, jedenfalls als nicht sonderlich bedrohlich wahrgenommen, wird von anderen (zu denen ich mich rechne) dagegen mit Sorge verfolgt. Ich spreche vom Prozess der Gentrifizierung, der baulichen Aufwertung, der Wertsteigerung von Immobilien und damit verbunden dem Anstieg der Wohnkosten und der drohenden Verdrängung von Mieter*innen. Wenn es nur um den Zuzug neuer Bevölkerungsgruppen ginge, hätte Oberbilk wohl kaum ein Problem damit, das ist ja Teil seiner historischen DNA. Es geht aber vor allem um den Zustrom von Immobilienkapital in einer bisher nicht gekannten Größenordnung (Hotelbauten, neue Wohnkomplexe, Spekulationsbrachen am Grand Central). Das treibt die Immobilienpreise im Viertel in die Höhe und es lässt auch die Bestandswohnungen nicht unberührt: Häuser werden verkauft, Mieter*innen herausgedrängt, Miet- in Eigentumswohnungen umgewandelt und teuer vermarktet. Ich teile deshalb den in dem Band in einigen Beiträgen vertretenen Optimismus nicht, dass die Gentrifzierung nur ein Mythos sei. Das ist leider nicht der Fall! Es ist harte und unsoziale Realität. Die Immobilieninvestoren haben Oberbilk für sich „entdeckt“, einen Stadtteil, der viele Standortvorteile bietet (vor allem Innenstadtnähe, gute Anbindung, ungenutzte Flächen), aber bisher aus ihrer Sicht „unter Wert“ vermarktet wurde. Das wollen sie ändern, und das empfinden viele – zu Recht! – als Bedrohung.

Ich sehe mit einiger Sorge, dass die ja durchaus nicht ganz erfolglosen Bemühungen, einen Imagewandel Oberbilks zu befördern, mit dazu beitragen könnten, dass der Stadtteil gerade für diejenigen noch interessanter wird, die die wirtschaftliche Macht haben, das, was den Stadtteil bisher ausmacht – Lebendigkeit und multikulturelle Vielfalt – zu zerstören. Das ist leider die Erfahrung mit solchen Aufwertungsprozessen überall auf der Welt. Die Künstler*innen haben in New York den Investoren den Weg geebnet, die sie schließlich aus ihren Ateliers geworfen haben, um daraus teure Stadtwohnungen zu machen. So geht Gentrifizierung.

Ist dieser Wandel zu stoppen? Kurzfristig wahrscheinlich nicht. Aber politisch regulieren und steuern könnte mensch ihn schon. Damit das gelingt, ist es wichtig, dass die Bewohner*innen des Stadtteils sich darüber klar werden, dass sie etwas gemeinsam haben, dass sich auch nur gemeinsam verteidigen lässt. In diesem Sinn ist zu hoffen, dass das Buch das Zusammengehörigkeitsgefühl im Stadtteil, über alle Verschiedenheiten hinweg, stärken wird!

Insgesamt ein lesenswertes, und wegen der tollen Fotos auch sehenswertes Buch! Sehr empfehlenswert!

Helmut Schneider
Runder Tisch Oberbilk / Bündnis für bezahlbaren Wohnraum

Alexandra Wehrmann, Markus Luigs (Hrsg.): „Oberbilk. Hinterm Bahnhof“
Düsseldorf 2021
Preis: 25 Euro