Surrealer Kunstdiskurs

Beim Besuch der vom Hochwasser zerstörten Gebiete entlang der Erft und im Ahrtal sorgte Angela Merkel mit der Bemerkung, der Anblick sei „surreal“, für Schlagzeilen. Sind die Verwüstungen durchs Hochwasser wirklich „surreal“? Eine Begriffsklärung.

Gigantische Schaufelradbagger fräsen sich durch die Landschaft. In den von RWE dem Erdboden gleichgemachten Ebenen erscheinen die Ungetüme wie Monster, die in die endlosen Weiten der Ölbilder Salvador Dalís gesetzt sind. Der größte dieser Bagger ist 240 Meter lang und 96 Meter hoch und damit größer als jenes Transportfahrzeug, das in Cape Canaveral die Mondraketen zur Startrampe brachte. Dieser Gigant baggert täglich bis zu 204.000 Kubikmeter Abraum oder 240.000 Tonnen Kohle weg, eine Menge, die 2.400 Güterwagen füllt.

Ein surreales Monster

1921 schuf Max Ernst „Celebes“, ein Ölbild, das auch unter dem Titel „Der Elephant von Celebes“ in die Kunstgeschichte einging. Es entstand in Köln, kurz vor Ernsts Übersiedlung nach Paris. Heute befindet es sich in der Tate Modern in London. Es markiert Ernsts Übergang von Dada zum Surrealismus. Ein merkwürdiges stählernes Monstrum erhebt sich im Zentrum, füllt fast die gesamte Bildfläche aus. Im Wikipedia-Eintrag zu dem Werk heißt es: „Die Atmosphäre von Gewalt in Celebes und das mechanisch anmutende, elefantenähnliche Monster kann in Beziehung gesetzt werden zu Ernsts traumatischen Erlebnissen als Soldat im Ersten Weltkrieg, die er in seiner Autobiografie erwähnte.“ Erstmals waren zwischen 1914 und 1918 Panzer zum Einsatz gekommen. Das runde schwarze Loch im Stahlmantel des Monsters wirkt wie eine Schießscharte.

Assoziativ kommen mir da die aktuellen Bilder aus der Tagesschau in den Kopf. Der Westen hatte am Hindukusch bekanntlich nie Gutes im Schilde geführt. Als im Oktober 2001 US-Kampfjets das Bombardement begannen, leistete die BRD „dem großen Bruder“ in wahrer Nibelungentreue Gefolgschaft. Die NATO-Staaten haben die Situation weiter verschlimmert. Durch die Zusammenarbeit und direkte Unterstützung der Warlords konnten Korruption, Vetternwirtschaft und ethnische Fragmentierung dort prächtig gedeihen. Unzähligen Afghan*innen, die mit dem Westen in den letzten zwei Jahrzehnten kooperierten, wurde sozusagen ein Fadenkreuz auf die Brust gemalt und die, die jetzt nicht ausfliegen können, sind quasi zum Abschuss freigegeben.

Surrealistische Bilder sind nie eindimensional. „Celebes“ ist in der Tat verwirrend. Oben links sind Fische zu sehen. Gleichzeitig scheint das Bild aber keine Unterwasserlandschaft, vielmehr ein bewölkter Himmel zu sein, der sich hinter dem Ungetüm auffächert. Als Bildvorlage für das Ungeheuer diente, so ließ sich nachweisen, ein aus Lehm erbauter Getreidesilo aus dem südlichen Sudan, der dem Maler von einem Foto oder einer Holzstichreproduktion bekannt gewesen sein muss. Doch im Gemälde ist das Monstrum ganz offensichtlich nicht aus Lehm sondern Metall. „Celebes“ ist die ursprüngliche Bezeichnung für die indonesische Insel Sulawesi, deren Umriss an einen Elefanten erinnert.

Zu bedenken ist hier: Surrealistische Bilder sind kein naturalistisches Abbild der Realität. Sie entstehen vielmehr durch Kombination unterschiedlicher im Kopf abgespeicherter Bilder und Assoziationsfelder. Viele Surrealist*innen beriefen sich auf das Lautrémont-Zitat „Schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf dem Seziertisch.“ Max Ernst selbst sprach von der „systematischen Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu geeigneten Ebene“. Es handelt sich oft um ein Anknüpfen an Bilder, die bis in die Kindheit zurückreichen können. Selbst ein Spottvers kommt als Inspirationsquelle in Frage: „Der Elefant von Celebes / hat hinten etwas Gelebes / der Elefant von Borneo / der hat dasselbe vorneo.“ Der mächtige Saugrüssel ließe sich als sexuelles Symbol deuten.

Max Ernst wuchs in Brühl auf. Im Tagebau des Brühler Gruhlwerk kam 1907 – Max war da 16 Jahre alt – beim Kohleabbau der erste Schrämbagger zum Einsatz. Er bekam den Spitznamen „Eiserner Mann“ verpasst. 1909 waren es bereits vier Kohlebagger, die in den 29 Gruben im Tagebau eingesetzt wurden. 1913 hatten nur drei Gruben keine Bagger. In rasendem Tempo verdreifachte sich die Förderung, stieg von fünf Millionen Tonnen 1905 auf 17,4 Millionen Tonnen im Jahre 1913. Dass er beim Malen des Bildes tatsächlich den „Eisernen Mann“ mitassoziierte, dafür spricht, dass er dem Monstrum aus nacktem Stahl eine nackte Frau beigesellte. Die zum Teil hunderte Meter tiefen Gruben, die durch den Tagebau ins Erdreich gefräst werden, erscheinen unwirklich. Die an der Abbruchkante sichtbaren Sedimentschichten ähneln jenen Linien, die ein Wasserspiegel mit wechselnder Höhe am Ufer hinterlässt. In der Natur füllen sich derartige Gruben – z. B. eingestürzte Vulkankrater – bald wieder mit Wasser, verwandeln sich in Seen. Dies würde erklären, warum Ernst Fische hinzu imaginierte. Unabhängig davon, ob wir in dem metallenen Körper nun einen Panzer oder einen Schrämbagger symbolisiert sehen wollen, scheint hier die systematische Zerstörung von Natur Thema zu sein. Dies wird auch durch die Ebene, auf der das Monstrum steht, untermauert. Sie ist bis zum Horizont vermessen und katastermäßig in Segmente eingeteilt.

Die surreale Flut

Angela Merkels Bemerkung beim Besuch der vom Hochwasser zerstörten Gebiete – der Anblick sei „surreal“ – sorgte für Schlagzeilen. Die Kanzlerin wurde bekanntlich in der DDR sozialisiert. „Surrealismus“ galt da als dekadenter Kunststil des Westen. Das Etikett „surreal“ wurde allem aufgepappt, dem angeblich der Realitätsbezug fehlte, also Werken, die den Propagandist*innen des Sozialistischen Realismus als absurd, widersinnig und unwirklich erschienen. Doch die Verwüstungen durchs Hochwasser sind real. „Surreal“ im merkelschen Sinne war allenfalls das Medienecho. Landräte wurden zu Sündenböcken gemacht, weil die Sirenen zu spät oder gar nicht erschallten. In der Inkompetenz dieser „kleinen Fische“ spiegelt sich aber nur die der Großen, die 40 Jahre lang durch Untätigkeit brillierten.

In der „Jungen Welt“ wurde unter der Headline „Geschäfte mit der Flut“ konstatiert: „Das privatwirtschaftliche, profitorientierte Versicherungswesen scheitert an seiner eigenen Logik.“ Gerade dort, wo Zerstörungen durch Hochwasser, Erdbeben, Hitzewellen und dergleichen besonders wahrscheinlich seien, „sind die entsprechenden Policen besonders teuer.“ (jW, 20.08.2021). Aber das ist nun einmal die Logik von Versicherungen: Je höher die Wahrscheinlichkeit eines Schadenfalls, desto höher die Police. Denn auf dem Konto der Versicherung muss im Falle von mehreren Schadensfällen ausreichend Geld vorhanden sein.

Wer nach einer historisch-materialistischen Erklärung für dieses Phänomen suchte, wurde kurioserweise im Archiv des erzkonservativen „Münchener Merkur“ fündig. Am 16. November 2009 (!) erschien dort unter der Headline „Munich Re warnt vor Kosten-Explosion durch Klimawandel“ ein aufschlussreicher Beitrag. „Beim bevorstehenden Klimagipfel in Kopenhagen [der fand 2009, also sechs Jahre vor dem Pariser statt] müssten sich die Staaten zumindest auf Eckpfeiler für ein striktes Klimaschutzabkommen festlegen, appellierte das Unternehmen am Donnerstag in München“, heißt es da. „Falls nichts getan werde, müsse auch mit kräftig steigenden Preisen für Versicherungsschutz gerechnet werden, der so für immer weniger Menschen finanzierbar werde, sagte Munich-Re Vorstand Torsten Jeworrek.“ Unter der Zwischenüberschrift: „1,6 Billionen Dollar Schaden wegen Naturkatastrophen“ wird aufgelistet: „Bereits zwischen 1980 und 2008 summierten sich die volkswirtschaftlichen Schäden aus wetterbedingten Naturkatastrophen wie Wirbelstürmen, Hagel, Überschwemmungen oder Waldbränden auf rund 1,6 Billionen US-Dollar.“ Am stärksten betroffen seien die Entwicklungsländer. Mahnend heißt es da, schon jetzt (also 2009) könne der Klimawandel nicht mehr gestoppt, sondern nur noch gedämpft werden. „Aber auch dafür ist es höchste Zeit.“ Angefügt ist noch: „Erst kürzlich hatte Europas größter Versicherungskonzern Allianz und die Umweltorganisation WWF vor schwerwiegenden unumkehrbaren Folgen des Klimawandels schon vor 2050 gewarnt. Die Munich RE (früher: Münchener Rück) weist auf das Problem bereits seit den 70er Jahren hin, anfangs sei man dafür noch belächelt worden, sagte Vorstandsmitglied Jeworrek.“ Mittlerweile pfeifen es sogar die Spatzen von den Dächern.

Und nicht nur die. Schüler*innen sind bekanntlich 2018 weltweit in einen kollektiven wöchentlichen Schulstreik getreten. Schon wenige Wochen später trugen am 15. März 2019 in über 110 Ländern auf allen Kontinenten (auch in der Antarktis) Menschen ihren Protest auf die Straße. Im Aufruf zu diesem globalen „Fridays for Future“-Aktionstag hieß es: „Gemeinsam fordern wir von den Regierungen unserer Länder und der internationalen Staatengemeinschaft unsere Zukunft nicht weiter kurzfristigen Interessen zu opfern.“

Die Filmemacherin Susanne Fasbender dokumentierte an dem Aktionstag Redebeiträge bei der Kundgebung vor dem Düsseldorfer NRW-Landtag. Einer sagte, er habe Angst, „und zwar – verdammte Scheiße! – ziemlich viel Angst, dass wir hier in zwanzig, dreißig Jahren nicht mehr stehen können.“ Er empörte sich: „Aufgewachsen in einer Zeit, in der wir unsere Ärsche hoch bekommen, drückte man uns zurück auf unsere Stühle und sagte uns, lasst das mal die Profis machen.“ Dass die „Profis“ es nicht können, bekamen diese kürzlich sogar schriftlich. Zwischen den Zeilen ist aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil der Vorwurf fortgesetzter Untätigkeit herauszulesen.

Dagegen hatte eine Schülerin auf der Kundgebung im März 2019 den globalen Zusammenhang hergestellt: „Große Teile der Erde bekommen diese verheerenden Folgen bereits heute zu spüren. Das sind zwar nicht wir, aber auch hier merken wir zunehmende Wetterextreme. Beispielweise der Tornado, der vor wenigen Tagen in der Eifel viele Häuser zerstörte.“ Eine andere Schülerin warnte, wir dürften den Klimawandel nicht als Generationenfrage stellen, sondern müssten ihn als soziale Frage stellen. „Denn wer kann nicht einfach vor Überschwemmungen davonfliegen und sich auf seinen zweiten Wohnsitz zurückziehen? Diejenigen, die sich eine Reise schlichtweg nicht leisten können. Wer wird unter Dürreperioden leiden, wenn die Ernte ausbleibt? Diejenigen, die sich die teure Nahrung dann nicht leisten können.“ (Zitate aus: Susanne Fasbender: „Ich hatte Glück“ Fridays for Future Düsseldorf – 15.03.2019 – Die starken Reden der Jugend; im Internet abrufbar unter https://brandfilme.org).

Vielen Menschen an Erft und Ahr hat die Flut in diesem Sommer buchstäblich die Existenz unterm Arsch weggespült. Und nur die wenigsten dürften dort das nötige Kleingeld besitzen, um zu ihrem Zweitwohnsitz auszufliegen und dort sorgenfrei von ihren Aktienderivaten zu leben ... Alles surreal? Nein, Handeln ist gefragt!

Thomas Giese