TERZ 12.21 – GESCHICHTSSTUNDE
Der Stadtteil Oberbilk, hinter dem Hauptbahnhof gelegen und von Bahngleisen eingerahmt, hatte seit seiner Entstehung Mitte des 19. Jahrhunderts – jedenfalls aus der Sicht von außen - einen schlechten Ruf. Und bis heute hat sich daran nur wenig geändert. Das erste Industrie- und Arbeiterviertel Düsseldorfs galt als der „Hinterhof“ der Stadt, als das „Viertel hinter den Gleisen“. Es war sozusagen das „Schmuddelkind“ unter den städtischen Quartieren. Auf die proletarische Bevölkerung des Stadtteils, die sich vor allem aus zugewanderten Arbeitskräften aus verschiedenen Teilen Deutschlands, aber auch aus europäischen Ländern, zusammensetzte, blickte das bürgerliche Düsseldorf mit einer Mischung aus naserümpfender Ignoranz und Verachtung herab.
Es war eine „vielsprachige, fremdartige, künstlich geschaffene neue Welt aus vielerlei Kulturen“. So hat es der in Oberbilk geborene und 2019 in Basel im Alter von 83 Jahren verstorbene Schriftsteller Dieter Forte in seinem Roman „Das Muster“ beschrieben („Das Muster“ ist der erste Teil von Fortes vierbändiger „Tetralogie der Erinnerung“. Zur Einführung in Fortes Werk eignet sich das von Karl Heinz Bonny herausgegebene Lesebuch „Ich schwimme gegen den Strom“, Düsseldorf 2020). Für die einen war es, um nochmals Forte zu zitieren, „ein unbekanntes Gebiet voller Gefahren, wo man seines Lebens nicht sicher war“, für die, die hier lebten, war Oberbilk dagegen „der einzige Ort in der Welt, an dem man sich sicher fühlte“ – vorausgesetzt, mensch kannte die ungeschriebenen Gesetze, die hier galten.
Blickt man auf das heutige Oberbilk, fällt als erstes auf, dass die Industrie fast vollständig verschwunden ist. Aber es gibt auch einige Kontinuitäten, die sich sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Stadtteils ziehen. So klaffen die Außenwahrnehmung und das Lebensgefühl der meisten Bewohner*innen wie in der Zeit vor dem II. Weltkrieg auch heute weit auseinander. Und auch heute sind Zuwanderung und kulturelle Vielfalt prägende Elemente des Quartiers. Rund 56 Prozent der gegenwärtig über 30.000 Bewohner*innen haben eine Migrationsgeschichte, sie und ihre Familien stammen aus weit über einhundert Ländern. Oberbilk liegt damit deutlich über dem städtischen Durchschnitt (knapp 42 Prozent, Stand 2019). Obwohl in der migrantischen Bevölkerung selbst nur eine Minderheit, spielen dabei Zuwander*innen aus Marokko eine besondere Rolle. Sie sind mit ihren Geschäften und Restaurants auch stadtbildprägend geworden. Wie viele andere kamen sie in den 1960er Jahren im Zuge der Anwerbung von Arbeitskräften als „Gastarbeiter“, um in den damals noch florierenden Fabriken in Oberbilk zu arbeiten. Viele sind geblieben und sind zu einem Teil des multikulturellen Quartieres geworden.
Oft werden sie aber auch zum Objekt von gezielten oder auch nur gedankenlosen Negativzuschreibungen von außen, in denen die Wahrnehmung als „fremd“ und eine pauschal unterstellte Neigung zu Kriminalität eine gefährliche Verbindung eingehen. Manche Bewohner*innen empfinden das zu Recht als direkte Bedrohung. Dazu gehört auch die abwertende und stigmatisierende Bezeichnung eines kleinen Teils des Quartiers um die untere Ellerstraße als „Klein-Marokko“ oder „Maghreb-Viertel“. Solche Zuschreibungen, die wiederum die Außenwahrnehmung beeinflussen, werden durch Kontrollpraktiken und durch den Sprachgebrauch staatlicher Ordnungskräfte verstärkt. So hatte sich zum Beispiel die Polizei im Jahr 2016 für eine Reihe von Razzien in Oberbilk wenig sensibel den Codenamen „Casablanca“ ausgedacht. Noch gravierender ist eine eigentlich vertrauliche, im Jahr 2020 aber bekannt gewordene polizeiliche Einstufung von 14 Straßen und Plätzen in Düsseldorf als „gefährlich und verrufen“ zu bewerten, von denen allein acht in Oberbilk lagen. Diese Einstufung ist inzwischen zwar überholt, und der diskriminierende polizeiinterne Sprachgebrauch wurde nach öffentlichem Protest korrigiert, anlasslose Personenkontrollen werden aber weiterhin vorgenommen. Ins Visier der Polizei geraten dabei vor allem die „kleinen Fische“ der Straßenkriminalität sowie Personen, bei denen die Ordnungskräfte vermuten, sie könnten gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen haben. Wer als fremd und gesellschaftlich randständig eingestuft wird, gilt rasch als verdächtig oder gefährlich. Daran hat sich im Laufe der Geschichte nicht viel verändert.
Die skizzierten Klischees und Negativzuschreibungen entsprechen heute so wenig wie damals weder der historischen Entwicklung noch der gelebten Wirklichkeit im Stadtteil sowie der Selbstwahrnehmung seiner Bewohner*innen. Die Ende 2019 entstandene Oberbilker Geschichtsinitiative und ihr Trägerverein „Aktion Oberbilker Geschichte(n) e. V.“ haben sich deshalb zum Ziel gesetzt, die Geschichte des Stadtteils an ausgewählten „historischen Orten“ im Quartier erfahrbar und erlebbar zu machen.
Nach unserem Verständnis ist Stadtteilgeschichte weitaus mehr als Industriegeschichte. Auf jeden Fall gehört die neue Welt aus vielerlei Kulturen dazu, die im 19. Jahrhundert mit der durch die Industrialisierung ausgelösten Zuwanderung entstanden ist und den Stadtteil in neuer und veränderter Form bis heute prägt. Historische Ereignisse und Fakten werden zudem von den Menschen je nach Lebenslage und Interessen sehr unterschiedlich wahrgenommen und interpretiert. Deswegen existiert nach unserem Verständnis Geschichte auch nur im Plural: Unbestreitbare Fakten wie etwa die Existenz eines Stahlwerks auf dem Areal hinter dem Hauptbahnhof oder die Barrikaden während der sogenannten „Spartakistenunruhen“ im April 1919 auf dem Oberbilker Markt spiegeln sich immer in einer Vielzahl von persönlichen Wahrnehmungen und erlebten Geschichten wider. Diese Geschichten wollen wir über Gespräche und Interviews mit Zeitzeug*innen, die aufgezeichnet und digital zugänglich gemacht werden sollen, lebendig werden lassen. Aber auch historische Quellen, in denen Zeitzeug*innen zu Wort kommen, sollen dazu herangezogen und ausgewertet werden. Ein wichtiges Anliegen dabei ist es, dass auch die Zuwanderer*innen, die Menschen mit Migrationsgeschichte, die heute in Oberbilk die Mehrheit der Einwohner *innen ausmachen, mit ihren Geschichten einbezogen werden.
Wie das Sichtbarmachen von Geschichte im Stadtraum aussehen könnte, haben wir am 12. September 2021 anlässlich des bundesweiten „Tag des offenen Denkmals“ der Stiftung Denkmalschutz mit einer „historischen Spurensuche in Oberbilk“ versucht zu zeigen. Der Rundgang führte uns über das sogenannte Maghreb-Viertel zum Bertha-von-Suttner-Platz hinter dem Hauptbahnhof, bis in die 1970er Jahre der Standort des Oberbilker Stahlwerks, schließlich zum Oberbilker Markt, dem gesellschaftlichen und politischen Zentrum des Stadtteils. Über 90 Anmeldungen, die wir nur zum Teil berücksichtigen konnten, zeigen, dass unser Angebot auf reges Interesse gestoßen ist. Eine Wiederholung ist geplant. Der Oberbilker Markt, das Oberbilker Stahlwerk und die zugehörige Weiterverarbeitung sowie das von marokkanisch-stämmigen Zuwanderer*innen geprägte „Maghreb-Viertel“ sollen in loser Folge an dieser Stelle eingehender als „historische Orte“ im Stadtteil vorgestellt werden.
Nach unserem Verständnis ist Geschichte nicht etwas, was sich nur in ferner Vergangenheit abgespielt hat. Geschichte reicht bis in die Gegenwart, und sie wird jeden Tag neu gemacht. Dabei bewegen sich die heute Lebenden zudem immer in einem gesellschaftlichen, aber auch (städte)baulichen Kontext, den die Generationen vor ihnen geschaffen haben. Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber sie machen sie unter den jeweils vorgefundenen Umständen. Das historische Gewordensein dieser Umstände zu verstehen, ist deshalb aus unserer Sicht für das Handeln der heutigen Bewohner*innen Oberbilks von großer Bedeutung.
Exemplarisch lässt sich das an der hochaktuellen Frage aufzeigen, wie das einstige „Schmuddelkind“ unter den Quartieren der Stadt heute in den Fokus von Immobilien-Investor*inn en geraten ist und mit Superlativen wie „Trendquartier“ oder „Wohnstandort im Herzen der Stadt“ beworben wird.
Oberbilk wurde wie andere Industriestandorte in Deutschland schon in den 1960er, dann verstärkt in den 1970er Jahren von einem massiven wirtschaftlichen Strukturwandel erfasst, der im Stadtteil zum vollständigen Verschwinden der Industrie geführt hat. Da, wo Fabriken standen, entstanden nun Industriebrachen. Vom parallelen Aufstieg einer neuen Dienstleistungsökonomie hat Oberbilk zunächst wenig, die Stadt Düsseldorf aber sehr stark profitiert. Düsseldorf gehört im deutschen Städtesystem zu den führenden Standorten mit hochrangigen Funktionen für die globalisierte Weltwirtschaft (u. a. Messe, Wirtschaftsprüfer*innen, spezialisierte Anwaltskanzleien, Werbewirtschaft, Einbindung in die überregionale Verkehrsinfrastruktur). Diese Städte boomen und verzeichnen Wanderungsgewinne. Mit München, Berlin, Frankfurt und Hamburg gehört Düsseldorf deshalb auch zu den fünf führenden Standorten für Immobilieninvestitionen in Deutschland. Allein im Jahr 2018 wurden in Düsseldorf knapp 4,8 Mrd. in Immobilien investiert. Nach der Finanzkrise von 2008 und der damit zusammenhängenden Niedrigzinspolitik der Zentralbanken stand die Finanzwirtschaft unter erheblichem Druck, rentierliche Anlagemöglichkeiten für überschüssiges Kapital zu finden. Für Investor*innen wurde der Immobilienmarkt nun zum Retter aus dem „Anlagenotstand“. Die Folge der Immobilienspekulation waren dramatische Preissteigerungen: Seit 2008 haben sich in Düsseldorf die Preise für Grundstücke, Gebäude und Eigentumswohnungen um 60 Prozent bis 70 Prozent erhöht. Davon ist auch der Mietwohnungsmarkt durch steigende und für viele Menschen nicht mehr bezahlbare Mieten betroffen. Oberbilk macht davon keine Ausnahme.
Für Investor*innen sind im städtischen Raum gerade die Standorte besonders interessant, die aus ihrer Sicht untergenutzt sind. Mit der erwarteten weiteren Stadtexpansion könnte mensch dort aus ihrer Sicht, gemessen an der aktuellen Nutzung, deutlich höhere Renditen erzielen. Die innenstadtnahen Quartiere bieten für das künftige Bevölkerungswachstum sowie für den erhofften weiteren Bedeutungsgewinn der Dienstleistungswirtschaft den benötigten Raum.
Hier kommt Oberbilk ins Spiel. Gemessen an den enormen Standortvorteilen des Quartiers hat der Stadtteil ein aus Investorensicht ein großes Renditepotenzial, das bisher unzureichend genutzt wurde: Oberbilk ist innenstadtnah gelegen und ist mit U-Bahn, S-Bahn und Stadtbahnen hervorragend in das städtische Verkehrsnetz eingebunden. Mit dem Hauptbahnhof besteht ein direkter Zugang zum Fernbahnnetz sowie eine schnelle Verbindung zum Flughafen. Im Zuge der Deindustrialisierung waren die ausgedehnten Industrieflächen des Stadtteils zu Industriebrachen geworden. Und das erweist sich jetzt als Standortvorteil! Mit dem schon über 10 Jahre andauernden Immobilienboom sind diese Flächen nun zu begehrten Objekten für Investoren und Spekulanten geworden, die hier die Chance für lukrative neue Nutzungen sehen oder für spekulative Wetten auf weiter steigende Preise. Das Grand Central Projekt auf dem ehemaligen Postgelände (davor befand sich hier die Maschinenbaufabrik Schiess-Defries) nördlich des Hauptbahnhofs ist ein besonders skandalöses Beispiel für eine Spekulationsbrache. Auf dem größten Teil des Geländes, das seit 2015 brachliegt und inzwischen dem Immobilienunternehmen Adler Group gehört, ist von einer Bautätigkeit bis heute nichts zu sehen.
Der spekulative Erwartungshorizont, der in Düsseldorf durch den anhaltenden Zustrom von Investitionskapital in den Immobiliensektor entstanden ist, betrifft aber nicht nur die ehemaligen Industriebrachen. Die Auswirkungen sind auch bei den Bestandswohnungen spürbar. Private Hauseigentümer*innen erhalten zunehmend Kaufangebote von Investoren, die sie kaum ablehnen können. In der Folge von Hausverkäufen kommt es meist zu Modernisierungen und Mieterhöhungen, oft auch zur Einrichtung von Eigentumswohnungen, die sich zu lukrativen Preisen verkaufen lassen.
Bisherige Mieter*innen werden verdrängt. Sie können vielfach die höheren Mieten nicht mehr zahlen und sind oft zum Aus- und Wegzug gezwungen. Und damit gerät die sozial und kulturell gemischte Bevölkerungszusammensetzung Oberbilks verstärkt unter Druck. Würde sie verschwinden, wäre das nicht nur ein Verlust für Oberbilk, es wäre ein Verlust für ganz Düsseldorf. Denn es ginge der lebendige und kreative Charakter eines Stadtteils verloren, in dem das Zusammenleben einer multikulturell gemischten Bevölkerung auch historisch nicht immer einfach war, aber bis heute ohne größere Konflikte gelungen ist. Oberbilk könnte in dieser Hinsicht sogar ein Vorbild für andere Quartiere und Städte sein.
Dieses Beispiel zeigt, wie das industrielle Erbe des Stadtteils (Industriebrachen), aber auch die historisch weit zurückreichenden Negeativzuschreibungen von außen, die - anders als z.B. in Unterbilk oder Flingern-Nord - Gentrifizierungsprozesse in Oberbilk lange behindert haben, heute aus Investorensicht zu Standortvorteilen geworden sind. Sie betrachten den Stadtteil als unterbewertet und sehen gerade darin die Chance, hohe Renditen zu erzielen. An den Bewohner*innen des Stadtteils liegt es, ihnen das so schwer wie möglich zu machen.
Dr. Helmut Schneider
Oberbilker Geschichtsinitiative
Aktion Oberbilker Geschichte(n) e.V.