TERZ 12.21 – KEIN VERGESSEN
Die karnevaleske Session, vulgo „Karneval“, ist ein empfindlich‘ Brauchtum-Geschöpf. Zugleich robust wie ein Clownskostüm nach sechs Tagen Straßenkarneval: stocksteif der Rock vom verkleckerten Altbier der vergangenen jecken Tage, der ein oder andere Makel am Hosenboden – Obacht, wo Du Dich hinsetzt, überall Pfützen und magensaure Spuren des Frohsinns. Das Kostüm ist Panzer und Maskerade, was Kamelle und Konfetti aushalten muss.
Ebenso widersprüchlich: Ist Karneval ein Event der Leichtigkeit, des Loslassens und der Brauchtumspflege mit Einhaken und Helau? Oder doch ein über alle Maßen eingeschraubtes Ritual, über das ein Bourdieu eine Studie schreiben und ein außerirdischer Besuch sich sehr wundern würde?
Der Düsseldorfer Karneval 2021/2022 offenbart das ganze Dilemma mit dem Brauchtum des rheinischen Frohsinns. Denn angesichts der galoppierenden Infektionslage zu COVID19 sah sich der Düsseldorfer Karnevals-Funktionärskreis, das Comitee Düsseldorfer Carneval (CC) im November genötigt, eine Verschiebung des Rosenmontagsumzugs vorzuschlagen. Statt am 28. Februar 2022 sollte „der Zoch“ am 8. Mai – im Wonnemonat – durch Düsseldorfs Altstadt und rundum laufen, fahren, rollen, marschieren, reiten, glockenspielen und fanfaren.
Eine bizarre Idee, geschichtsvergessen, ohne Blick für anderes als den eigenen Sinn. Wenig verwunderlich, dass sich nur Sekundenbruchteile nach Veröffentlichung des Alternativtermins für „Rosenmontag 2022“ etwa das Bündnis „Düsseldorf stellt sich quer“, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Bund der Antifaschist*innen (VVN BdA) oder die Ratsfraktion der LINKEn Düsseldorf zu Wort meldeten. Die Presse griff deren Stimmen auf, Vertreter*innen von Jüdischen Gemeinden meldeten sich zu Wort.
Denn der 8. Mai ist der Tag der Befreiung, er markiert das Ende des Zweiten Weltkriegs, die Kapitulation und Niederlage Nazi-Deutschlands 1945 vor den Alliierten – und damit auch den Augenblick, an dem in ganz Europa und darüber hinaus Gewaltherrschaft, Konzentrations- und Kriegsgefangenenlager, Folter, Verfolgung und Mord einen Moment ihres Endes fanden. Nazi-Täter*innen machten sich aus dem Staub, hinterließen Menschen in Mordlagern und auf Todesmärschen. Gefangene befreiten sich aus der Lagerhaft. Der 8. Mai ist auch ein Tag des Erinnerns: an diejenigen, die von Nazis und Faschist*innen umgebracht, verfolgt, verschleppt und zur Flucht gezwungen wurden.
Wie könne da der 8. Mai ein „Freudentag“ sein, fragte sich Karnevalswagenbauer Jaques Tilly, zitiert in der rheinländischen Presse. Ein Tag in ausgelassener Feierlaune? Ein Fest, das nichts mit der Erleichterung zu tun hat, dass der Nazi-Faschismus für einen kurzen Augenblick „nie wieder!“ sei? Ein Tag der Party, des Helau und des rauschhaften Vergessens wohl eher!
Karnevalsfreund*innen hielten dagegen: Ausgerechnet am 8. Mai, wo der Krieg doch seit 72 Jahren zu Ende sei, da sei gute Laune ein Stück Rückeroberung der Welt – ein Argument voller Bemühtheit, Naivität und Geschäftsinteressen. Karneval ist ein Besucher*innen-Magnet, ein Verkaufsschlager im Vergnügungskalender.
Neben den Protesten gegen die Planung, den 8. Mai zum neuen Rosenmontagsumzugs-Tag zu erklären, meldete sich aber auch „der Karneval“ selbst zu Wort. Seine Funktionäre in den Karnevals-Städten Köln und Aachen wiesen darauf hin, dass das Düsseldorfer Karnevals-Comitee sich einen schweren Fehlgriff erlaubt habe. „Bestürzt und beschämt“ sei man darüber im Bund Deutscher Karneval (BDK), wie dessen Präsident Klaus-Ludwig Fess am 26.11. mitteilte. „Bestürzt und beschämt“ – ... weil der CC mit seiner Entscheidung für den 8. Mai gegen die Satzung des BDK, damit gegen den Karneval schlechthin verstoße. Karneval, der habe stattzufinden vom 11.11. eines Jahres bis einschließlich Aschermittwoch im Jahr darauf – nicht jedoch danach. Ein „eklatanter Verstoß“ gegen die Regeln von König Karneval sei der Düsseldorfer Vorschlag. BDK-Vize Peter Krawietz bemerkte weitsichtig zudem, dass der 8. Mai als Termin für „karnevalistische Ersatzhandlungen“ (sic!) denkbar ungeeignet sei.
Oberbürgermeister Keller (CDU) will sich inzwischen für einen wiederum alternativen Termin umsehen. Ob es ihm um den Brauchtumskalender oder um den Respekt vor der Erinnerung an Überlebende und Getötete geht, ist zu Redaktionsschluss der TERZ noch unklar.
Esther Bejerano – Antifaschistin, Musikerin und Zeitzeugin ihrer Überlebensgeschichte im Konzentrations- und Mordlager „Auschwitz“ – forderte kurz vor ihrem Tod im Juli 2021, dass der 8. Mai ein offizieller Feiertag sei. Ihre Argumente wurden bisher nicht durchdringend gehört, nicht bundesweit umgesetzt. Es wäre Zeit dafür – um das Erinnern vor der unerträglichen Leichtigkeit des Seins zu bewahren.