Interview mit fiftyfifty-Streetworker Johannes Dörrenbächer

„Das sind eigentlich Tode, die verhinderbar wären“

Anfang Dezember starben in Düsseldorf zwei Obdachlose den Kältetod. Über diese Fälle und über die Situation der Wohnungslosen im Winter allgemein sprach die TERZ mit dem fiftyfifty-Streetworker Johannes Dörrenbächer.

TERZ Im Dezember ist ein Obdachloser an Unterkühlung gestorben. Bei einem zweiten war die Unterkühlung ein wesentlicher Faktor für seinen Tod. Gibt es jeden Winter solche Fälle?
Johannes Dörrenbächer So etwas gab es in den letzten Jahren immer wieder. Meistens steht im Obduktionsbericht dann „Multiples Organ-Versagen“. Aber natürlich spielen dabei die Temperaturen, die draußen herrschen, eine große Rolle. Von daher sprechen wir da von Kälten-Toten. Im letzten Jahr, zur Hauptzeit der Pandemie, sind in Düsseldorf aber keine Menschen erfroren. Nach unserer Einschätzung lag das daran, dass die Stadt wegen der Pandemie Hotel-Unterbringungen in Einzelzimmern ermöglicht hat, was von den Wohnungslosen sehr gut angenommen wurde, so dass fast niemand mehr draußen geschlafen hat.

TERZ Und das würde die Stadt jetzt nicht noch mal machen?
Johannes Dörrenbächer Das ist im Moment nicht geplant. Aber es ist schon so, dass die Stadt gerade Gespräche mit uns führt und uns gefragt hat, welche Verbesserungsvorschläge wir hätten. Und davon war einer eben auch, dass die Unterbringungsmöglichkeiten in den Notschlafstellen verbessert werden müssen, so dass die Leute diese Angebote auch wirklich annehmen.

TERZ Die Stadt sagt ja immer, dass Plätze dort in ausreichendem Maß vorhanden sind.
Johannes Dörrenbächer Ja, aber die Leute möchten da in der Regel nicht reingehen. Es sind meistens Massenunterkünfte, wo viele Menschen mit multiplen Problem-Lagen zusammentreffen und es häufig mal zu Gewalt oder Diebstählen kommt. Und für viele bedeutet es Stress, sich damit immer auseinandersetzen zu müssen. Deshalb bleiben dann viele eben draußen – und dann eben auch alleine draußen, was ja bei den gegenwärtigen Temperaturen besonders gefährlich ist. Zudem kann man in den Notunterkünften keinen Alkohol und keine harten Drogen konsumieren, was an der Lebensrealität dieser Menschen vorbeigeht. Sie sind nun mal abhängig. Und das ist dann auch ein Grund, warum die Leute das Angebot nicht annehmen. Wir sagen: Dann sind eben die Angebote das Problem und nicht die Menschen.

TERZ Du sagtest, dass momentan viele Obdachlose alleine unterwegs sind. Liegt das an den zunehmenden Vertreibungen, an der Pandemie oder woran sonst?
Johannes Dörrenbächer Das Ordnungsamt geht massiv gegen wohnungslose Menschen vor, vor allem in den Innenstädten. Es ist auch so, dass Plätze einfach umgestaltet worden sind und die Leute dort nicht mehr schlafen oder sich dort nicht mehr gerne aufhalten. D. h. wir haben momentan den Zustand, dass die Leute sich über das ganze Stadtgebiet verteilen, weil es jetzt nicht mehr diese großen Platten gibt. Vor ein paar Jahren war es noch so, dass es in der Innenstadt noch mehr solche Platten gab. Das war für uns Streetworker*innen immer einfacher, weil wir wussten, wo die Leute sind und wir sie auch ansprechen konnten. Durch die verstärkte Vertreibung jetzt sind die Leute schlechter aufzufinden und auch weiter weg. Und dann fällt eben nicht mehr so auf, wenn es jemand bei kalten Temperaturen plötzlich schlecht geht.

TERZ Du erwähntest eben, dass die Obdachlosen von der Hotel-Unterbringung während der 2. Corona-Welle profitiert hätten. Ich hätte eher gedacht, dass die Pandemie ihre Lage verschlimmert, weil sie z. B. wegen der 3G-Regeln nicht mehr in die U-Bahnhöfe können.
Johannes Dörrenbächer Wir haben in Düsseldorf eh’ das Problem, dass die Leute nachts nicht in den U-Bahnhöfen schlafen oder sich auch nur aufhalten dürfen, wenn sie keinen Fahrschein haben. Da ist die Rheinbahn relativ hart. Erst wenn der öffentliche Druck groß war und wenn es sehr, sehr kalt war – Minus-Grade im zweistelligen Bereich – dann hat die Rheinbahn gesagt: „OK, wir öffnen jetzt den U-Bahnhof Heinrich-Heine-Allee, da dürfen die Leute sich nun auch nachts aufhalten.“ Aber in der Regel ist das nicht gestattet ohne Fahrschein. Von daher haben wir das Problem auch in nicht-pandemischen Zeiten.

TERZ Und tagsüber ist das Verweilen dort auch nicht gestattet?
Johannes Dörrenbächer Nein, ohne Fahr-Absicht darf man sich in U-Bahnhöfen nicht aufhalten und an Bushaltestellen ebenfalls nicht. Das sagt auch das Ordnungsamt, und deshalb haben wir immer wieder Platzverweise erlebt in den vorherigen Jahren.

TERZ Die Stadt Köln stellt Wärme-Zelte für Obdachlose auf. Könnte das zur Lösung des Problems beitragen?
Johannes Dörrenbächer Man kann das natürlich alles machen, um in dem Moment wirklich die Lebensgefahr zu senken. Ziel muss aber immer sein, dass die Menschen gar nicht erst auf so etwas angewiesen sind. Wir brauchen bezahlbaren Wohnraum und wir brauchen auch eine Möglichkeit für diese Menschen, direkt von der Straße in eine reguläre Wohnung reinzukommen. Wir als fiftyfifty machen das vor mit „Housing first“, wo wir Leuten von der Straße einen ganz normalen regulären Mietvertrag geben. Das müsste es eigentlich im großen Stil geben und nicht nur von einer Initiative wie fiftyfifty aus. Wir müssten eigentlich langfristig von städtischen Obdächern, Notschlafstellen und solchen Übergangslösungen komplett weg hin zu regulärem normalem Wohnraum. Das ist es, was die Leute sich am meisten wünschen: ganz normalen regulären Wohnraum. Und dann hätten wir auch solche Situationen wahrscheinlich gar nicht mehr, dass sich die Leute bei solchen Temperaturen draußen aufhalten. Dass Leute draußen erfrieren, ist ja schon der aktuellen Wohnungssituation geschuldet. Die Spekulation und die immer höher steigenden Mieten führen dazu, dass Leute dann irgendwann kein Zuhause mehr haben. Niemand ist ja freiwillig wohnungslos. Das ist immer noch so ein Vorurteil. Die Obdachlosigkeit ist vielmehr ein Resultat des kapitalistischen Systems und der Verwertung der Ware „Wohnung“. Und das kann am Ende dann tödlich werden. Das sind eigentlich Tode, die verhinderbar wären.

TERZ Was habt ihr der Stadt sonst noch für Vorschläge gemacht, um die konkrete Situation zu verbessern?
Johannes Dörrenbächer Wir haben gesagt: Die Vertreibung muss beendet werden, und wir brauchen regulären Wohnraum. Solange es den nicht gibt, muss es eine Einzel-Unterbringung geben. D. h., das Menschen, wenn sie Angst vor Corona haben, trotzdem in eine Unterkunft können, weil sie wissen, dass sie alleine untergebracht werden. Und dann müssten die Notunterkünfte so gestaltet sein, dass die Menschen sie auch annehmen und sich dort nicht unwohl fühlen. Und übergangsweise wäre es jetzt natürlich sinnvoll, wenn die Rheinbahn die U-Bahnhöfe öffnen würde.

TERZ Wie sollte man reagieren, wenn man an einem kalten Winterabend irgendwo einen Obdachlosen liegen sieht?
Johannes Dörrenbächer Wir appellieren immer wieder an die Bevölkerung, notfalls die 112 zu wählen, wenn die Situation nicht ganz klar ist. Erst einmal sollte man aber mit den Menschen sprechen, die man im Winter draußen sieht. Und das müssen nicht gleich Minusgrade sein. Auch etwas mildere Temperaturen können schon lebensgefährlich sein. Es ist wichtig, dass dafür alle einen Sinn entwickeln und auf die Menschen achten. Schauen, ob die Person atmet, ob es ihr gut geht und wie sie mit warmen Sachen ausgestattet ist. Wenn die Person schläft, lieber einmal wecken und sie ansprechen. Und wenn sie nicht wach wird und man unsicher ist, lieber einmal zu oft die 112 wählen als einmal zu wenig. Es kann manchmal sein, dass die Feuerwehr nicht unbedingt direkt gleich kommen möchte. Da muss man dann vielleicht schon mit etwas Nachdruck sagen: „Das ist aber wichtig, das sieht hier nicht gut aus“, und dann kommen die auch.