TERZ 02.22 – GESCHICHTSSTUNDE
Lächelnd steht Khalifa Zariouh vor dem Haus Ellerstraße 66, in dem sich ein kleiner marokkanischer Lebensmittelmarkt befindet. Frisches Obst, Gemüse und natürlich gebündelte Pfefferminzpflanzen für den obligatorischen Tee. Herr Zariouh zeigt auf die Tür daneben: „Hier geht’s zur Lagerhalle, hier haben wir vor vierzig Jahren gebetet, hier war der erste marokkanische Gebetsraum im Ellerstraßenquartier“. Lagerhalle ist ein Euphemismus, denn der Lagerraum wirkt eng, gedrungen und ist schlecht beleuchtet. Voll mit Kisten und Kästen. „Es ging wirklich eng zu hier, und die Möglichkeiten, die rituelle Waschung vor dem Gebet vorzunehmen, war äußerst beschränkt. Wir mussten bescheiden sein damals.“ Und es wurde immer enger in dem Lagerraum, denn mit den Jahren sind immer mehr „Gastarbeiter“ aus Marokko gekommen, nachdem die Bundesregierung mit dem Anwerbeabkommen am 21.05.1963 die Werbetrommel für Arbeiter*innen aus Marokko rührte. Zehn Jahre lang, bis zum Anwerbestopp 1973, als die Ölkrise zuschlug und für autofreie Sonntage sorgte. Insgesamt sind 22.400 Arbeitskräfte aus Marokko nach Deutschland gekommen – die meisten nach Hessen und Nordrhein-Westfalen. Viele sind in Düsseldorf gelandet. Und sind geblieben, viele für immer. Die Familien sind später nachgezogen. Man hat sich hier eingerichtet, in Düsseldorf, in Oberbilk, auf der Ellerstraße und den anliegenden Straßen – aber auch in anderen Stadtteilen. Die Menschen haben ihre Kultur und ihre Religion mitgebracht. In den ersten Jahren wurde in den beengten Unterkünften, nicht selten waren es kleine Zimmer für vier und mehr Personen, gebetet. „Zur Not ging das“, betont Herr Zariouh, „für einen gewissen Zeitraum, aber als klar wurde, dass viele von uns bleiben werden, kam die Sehnsucht nach einem Gebetsraum auf, in dem das Freitagsgebet in größerer Gemeinschaft verrichtet werden konnte.“ Diese Sehnsucht konnte für eine gewisse Zeit in dem Lagerraum auf der Ellerstraße 66 befriedigt werden. Aber auch der Gebetsraum platzte recht bald aus allen Nähten, der Umzug in einen größeren war unausweichlich. Die Moschee ist seitdem auf der Ronsdorfer Straße beheimatet und bietet dort Platz für gut 800 Betende. An hohen muslimischen Feiertagen finden unter Ausnutzung aller Nebenräume auch schon mal bis zu 1.500 Betende Platz.
Trotz des Niedergangs der Schwerindustrie in den 1970er Jahren blieben viele der angeworbenen Zuwanderer*innen aus Marokko und deren Familien im Viertel, Arbeit fanden sie nicht selten im Handel und in Dienstleistungsunternehmen. Viele haben sich mittlerweile selbständig gemacht, sind Unternehmer*innen geworden. Manche auch Hausbesitzer*innen.
Das Quartier ist entgegen mancher Zuschreibung von außen kein „rein marokkanisches Viertel“. Im Gegenteil, hier leben Menschen aus bis zu 150 Nationen, zugezogen aus Polen, den ehemaligen GUS-Staaten, Menschen aus der Türkei und und und … So beherbergt der Stadtteil, fast am Ende der Ellerstraße, kurz vor der Einmündung zur Kölner Straße, seit vielen Jahren auch eine große russisch-orthodoxe Gemeinde, Anlaufpunkt für viele Russisch-Orthodoxe nicht nur aus Düsseldorf.
Hier gab es, an der Kölner Straße gegenüber der alten Paketpost, einen großen spanischen „Supermercado“. Warum gerade hier? Ganz einfach, weil von den bis zu 1.200 Beschäftigen bei der damaligen Paketpost teilweise bis zu 60 Prozent aus Spanien stammten: Einkäufe von Produkten für Paella und Bocadillo vor und nach der Schicht waren damit bequem möglich. Mit der Paketpost ist dann auch der spanische Supermarkt gegangen.
Zurück zu Khalifa Zariouh. Er ist ein Urgestein der Zuwanderung. Er hat viele Jahre als Eismeister bei der DEG im Stadion an der Brehmstraße gearbeitet – und nicht selten auch aufgärende Konflikte im Quartier geglättet. Nun ist er in Rente. Und blickt zurück, in die Vergangenheit. Er zeigt auf ein Ladenlokal an der Einmündung Ellerstraße/Linienstraße. „Hier hat mein Bruder, auch in den 1970er Jahren, die erste marokkanische Bäckerei eröffnet“. Nahrung für die Seele und für den Körper. Es war damals ganz wichtig, mit typisch marokkanischer Kost, mit dem nach Marokko duftendem Brot, eine kulinarische Brücke zur alten Heimat zu haben. Heute ist das Warenangebot eine Brücke in und aus dem Stadtteil: Nicht nur das frische Brot, sondern besonders auch der täglich frische Fisch wird von Käufer*innen weit über die Stadtgrenzen Düsseldorfs hinaus begehrt.
Die alte Heimat, das war in erster Linie die Provinz Nador in der Region Oriental, am östlichen Rand des Rif-Gebirges, nicht weit von der algerischen Grenze entfernt. Die Provinz Nador ist heute ein aufstrebendes Gebiet mit starkem wirtschaftlichem Zuwachs. Das war in den sechziger Jahren anders, die Arbeitslosigkeit hoch, die Infrastruktur schwach. Ein Grund, anderswo Arbeit zu suchen. Und diese Arbeit in Deutschland, in Düsseldorf zu finden.
Nador, der Namen der Provinz und der gleichnamigen Provinzhauptstadt ist im Bereich Ellerstraße/Linienstraße allgegenwärtig. Gefühlt heißt hier nahezu jeder Markt und jede Bäckerei „Nadormarkt“ oder „Patisserie Nador“. Oder „Bistro Rif“, eine Reminiszenz an das Rif-Gebirge. Da wir gerade bei den Namen sind – Khalifa Zariouh betont, dass das überschaubare Quartier rund um die Ellerstraße auch so heißt: „Ellerstraßenquartier oder Ellerstraßenviertel. Von Anfang an. Das kennt jeder in Marokko – wenn du sagst, du kommst von der Ellerstraße oder kennst sie zumindest, ist dir eine Einladung zum Tee sicher!“ Andere Bezeichnungen (wie z. B. „Magreb-Viertel“ oder „Klein-Marokko“) sind Zuschreibungen von außen, „von Leuten, die wenig Ahnung haben“, sagt Herr Zariouh mit einem Augenzwinkern.
Szenenwechsel, wenige Meter weiter nördlich, von der Ellerstraße zur Eisenstraße. Schräg gegenüber der Stadtverwaltung liegt das Reisebüro von Herrn Fannoua. Herr Fannoua ist 1960 nach Deutschland gekommen, mein Geburtsjahr. Mit dem Reisebüro hat er eine Brücke nach Nador gebaut. Eine Brücke für Menschen, Güter – und Geld. „Das meiste Geld haben die Leute damals doch nach Hause, in die Heimat geschickt – und hier äußerst sparsam gelebt.“ Eine Brücke war auch die Linienbusverbindung nach Oujda, die Industrie- und Wirtschaftsmetropole der Region Orientale, kurz vor der Grenze Algeriens. Von Oujda sind es gut 100 Kilometer nach Nador. Die Linienbusverbindung gibt es immer noch, Abfahrt mittwochs und samstags ab Ellerstraße, Ankunft zwei Tage später, die Tickets sind meist teurer als die für den Flug, dafür hat man aber auch das Abenteuer der Fahrt gratis dazu – und man kann mehr Gepäck mitnehmen. Im Reisebüro teilt mir ein Endfünfziger spontan mit: „Ich habe Oberbilk mit auf- und umgebaut. Das ist auch unser Stadtteil!“
Oberbilk ist ohne Zuwanderung gar nicht denkbar. Und: Oberbilk kann Integration! Das kommt nicht von ungefähr. Es begann vor gut 160 Jahren. Um 1850 herum haben sich erste belgische Unternehmen der Metallindustrie in Düsseldorf angesiedelt: Die brachten gleich ihre eigenen Leute mit, denn die konnten das, was die Düsseldorfer in diesen Jahren gar nicht konnten: Metall verarbeiten. Und sie sprachen Französisch, so wie man das in Wallonien eben tut. Und sind damit im napoleonisch geprägten Rheinland ganz gut zurechtgekommen.
Und es ging weiter mit der Zuwanderung. Nur wenige Jahre später, genau am 27.4.1860, verlegte der Unternehmer und Industrielle Albert Poensgen aus logistischen Gründen sein Stahlwerk von Gemünd nach Düsseldorf: Es mangelte in der Eifel einfach an ausreichenden Transportwegen, um Anschluss an das industrielle Eisenbahnnetz zu finden (vgl. zum Oberbilker Stahlwerk Teil 2 dieser Reihe in der TERZ 01/2022).
Poensgen wollte eigentlich eine „eigene“ Bahnstrecke nach Gemünd, fand aber bei den Behörden kein Gehör. So hat er nach einem neuen, verkehrsgünstigeren Standort gesucht – und wurde letztendlich in Düsseldorf fündig. Die Eifeler Straße, Verbindungsstraße von der Kölner Straße zur Ludwig-Erhard-Allee, bezeugt diese Facette der Industrialisierung Oberbilks: Denn mit der Fabrik zogen auch zahlreiche seiner Arbeiter und deren Familien aus der Eifel mit nach Düsseldorf. Wallon*innen und Eifeler*innen sind sozusagen die ersten Einwohner*innen Oberbilks.
Straßennamen als Zeitzeugen: Wann wird es eine Nadorstraße geben? Oder einen Oujdaplatz? Womöglich mit arabischem Untertitel, so wie es seit Dezember letzten Jahres ein Straßenschild „Immermannstraße“ mit japanischem Untertitel gibt. Die Zeit wäre reif dafür!
Im Ellerstraßenquartier ist vieles im Wandel. Der Straßenzug sah vor 50, 60 Jahren noch anders aus. Es hat sich baulich vieles verändert, aber auch die Einstellungen der Menschen. Hicham El Founti, der Geschäftsführer des Bestattungsunternehmens Al Rahma von der Ellerstaße, weiß, dass früher nahezu ausnahmslos alle Gastarbeiter*innen in heimischer Erde bestattet werden wollten. „Das ändert sich in den letzten Jahren mehr und mehr, Heimat wird bei den Menschen teilweise neu definiert, und nicht wenige wollen in ihrer neuen Heimat, in der sie nun schon seit Generationen leben, auch bestattet werden.“
Auf dem Stoffeler Friedhof gibt es seit Jahren ein muslimisches Gräberfeld, hier finden Verstorbene nach muslimischer Tradition im Einklang mit deutschem Bestattungsrecht ihren letzten Ruheort. Es ist sogar seit einiger Zeit ein regulärer muslimischer Friedhof im Gespräch; Khalifa Zariouh, der in diese ersten Überlegungen eingebunden ist, schmunzelt: „Wir sind doch schon ganz gut integriert hier in Deutschland, auf der Erde auf jeden Fall – aber unter der Erde? Da ist noch was drin!“
Ankommen, Hierbleiben, Mitgestalten – das ist auch ein wichtiges Anliegen von Mohammed Badr Haddad, Inhaber des La Grilladine am Dreiecksplätzchen, Dreieckstraße 26. Der Restaurantchef hat eine Vision: „Ich will die marokkanische Zuwanderungsgeschichte zum Erfolgsmodell machen“. Und er hat einen Traum: „Ich will auf dem doch eher tristen Dreiecksplätzchen einen kleinen Souk (arabisch für Markt) aufbauen, im marokkanischen Stil, mit dem Angebot typisch marokkanischer Produkte und Lebensmittel.“ Eine Art Vorreiter ist das von Khalifa Zariouh initierte Maghreb-M(a)y Fest, das vor der Pandemie mehrere Jahre lang jeweils im Mai angeboten wurde. Aus dieser eintägigen Veranstaltung könnte was fürs ganze Jahr werden! Badr Haddad lacht: „Little Tokio haben wir doch schon seit Jahren in Düsseldorf, das kennt fast jeder in Deutschland, und alle in Düsseldorf sind stolz auf dieses Quartier. Die Zeit ist reif für Little Nador – auf das dann auch alle stolz sein dürfen!“
Dirk Sauerborn, Oberbilker Geschichtsinitiative - Aktion Oberbilker Geschichte(n) e. V.
Die Ende 2019 entstandene Oberbilker Geschichtsinitiative und ihr Trägerverein „Aktion Oberbilker Geschichte(n) e. V.“ haben sich zum Ziel gesetzt, die Geschichte des Stadtteils an ausgewählten „historischen Orten“ im Quartier erfahrbar und erlebbar zu machen. Nach ihrem Verständnis ist Stadtteilgeschichte mehr als Industriegeschichte – auf jeden Fall gehört die neue Welt aus vielen Kulturen dazu, die im 19. Jahrhundert mit der durch die Industrialisierung ausgelösten Zuwanderung entstanden ist und den Stadtteil in neuer und veränderter Form bis heute prägt.