„Produktive Bildstörung“ in der Kunsthalle

Noch bis zum 6. März ist in der Kunsthalle die Ausstellung „Sigmar Polke und aktuelle künstlerische Positionen“ zu sehen.

Vor lauter Beuys ist der Polke letztes Jahr fast untergegangen. Der 2010 in Köln gestorbene Künstler wäre da 80 geworden. Die Ausstellung wurde von seiner Tochter, Begründerin der Anna-Polke-Stiftung und renommierte Theaterschauspielerin, initiiert. Es ist einigermaßen seltsam, dass ich hier eine Rezension über eine Ausstellung schreibe, die ich selbst noch nicht gesehen habe. Mein bei der kassenärztlichen Vereinigung vor sieben Tagen beantragter Ersatznachweis meiner zweifachen COVID-19-Impfung ist noch nicht da. Und trotz tagesaktuellem negativen Test wurde ich an der Kasse abgewiesen. Generell: Polkes Werke sind stets mindblowing. Pointiert, meist witzig, wie eine frische Brise, die den „White Cube“ durchweht. Sicherlich kann ich mir auch bei Filz und einem Stück Margarine ganz viel denken. Aber Polke ist anders. Virtuos und spielerisch setzt er die verschiedensten Materialien ein, malt Riesenportraits auf Pyjamastoff oder lässt die Leinwand durch Lack transparent erscheinen, wodurch die Konstruktion des Keilrahmens, sozusagen das Skelett des Bildträgers, sichtbar wird. Er experimentiert mit giftigem Schweinfurter Grün, ein Doppelsalz, das Kupfer, Arsen, und das Anion der Essigsäure enthält. Oder er entwickelt Filmnegative mit Pril, Himbeerschnaps und Kaffee und stellt davon vergrößerte Abzüge her.

Kapitalistischer Realismus

Vor seiner Akademiezeit machte er eine Lehre als Glasmaler in Kaiserswerth. Der in Niederschlesien Geborene kam nach 1945 mit seinen Eltern nach Düsseldorf. 1963 begründete er zusammen mit Gerhard Richter den „Kapitalistischen Realismus“. Nur ist Richter im Gegensatz zu Polke überhaupt nicht lustig.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Das Sein im Rheinland eben auch. Dies ist an seinem Werk ablesbar. In einem WDR-Kommentar hieß es: „Ein Stück enthemmtes karnevalistisches Treiben, ein Stück zügelloser rheinischer Kunstsinn steckt auch darin. Polke war ein Narr und er narrte den Kunstbetrieb.“ Polke belässt es aber nicht beim Spiel mit Materialien, Farben und Formen. Er spielt auch mit den Bildern in unseren Köpfen, sorgt für Irritationen, bringt da so manches durcheinander und vor allem: in Bewegung. Deshalb der Ausstellungstitel „Produktive Bildstörung“. Eine ständige Herausforderung unserer Sehgewohnheiten. Es gehe ihm um „Wahrnehmung, Täuschung und Illusionismus“, und zu seinen Bildern mit dem Rastermuster heißt es im Begleitheft: „Indem er in seinen Rastergemälden die einzelnen Punkte des Druckrasters von Zeitungsbildern auf die Leinwand auftrug und stark vergrößerte, löste sich das Motiv bei der Übersetzung in Malerei stellenweise auf.“

Boticelli und der Grenzzaun

Eins der monumentalsten Werke (3 x 5 Meter) ist „Primavera“. Unwillkürlich tauchen bei dieser italienischen Bezeichnung für „Frühling“ vor unserem geistigen Auge Landschaften aus der Toskana auf. Kunsthistorisch Bewanderten fällt Boticellis Gemälde „Primavera“ aus dem Jahr 1487 ein. Darauf tänzeln in transparentem Stoff gehüllte Frauen durch einen Hain mit Bäumen, an denen seltsame Früchte hängen. Einst in der „Volksschule“ – so hieß die noch vor 50 Jahren – hatte ich „Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt“ auswendig lernen müssen. „Deutscher Frühling“ halt. Polke zeigt uns jedoch eine Nackte hinter einem von einem Pferd gezogenen Pflug. Ach nein, es ist kein weiblicher Akt. Tatsächlich handelt es sich um einen nackten Mann. Aber das fiel mir erst beim zweiten Blick auf. Das ist Polkes Trick. Pferd, Pflug und Mann sind von einem grob gerasterten Foto auf die Leinwand übertragen, also nur grob erkennbar. Und so wird ein Spiel zwischen dem, was wir auf der Leinwand sehen und den Bildern in unserem Kopf provoziert. Der Frühling wird in der Kunstgeschichte stets durch einen weiblichen Akt allegorisiert. Und so überlagerte das Bild in meinem Kopf das, was tatsächlich zu sehen ist. Tatsächlich politisch brisant wird diese Irritation bei dem in Tagesleuchtfarbe erstrahlenden, drei Meter breiten und 2,25 Meter hohen Gemälde. Auch das ist nach einem grobgerasterten Foto entstanden. Ein Torwart scheint sich in die linke Ecke zu werfen. Doch tatsächlich sind es keine Maschen eines Fußballtors, sondern die eines Grenzzauns. Titel: „Amerikanisch-Mexikanische Grenze“ (1984). Was wie ein Torwart erscheint, ist in Wirklichkeit ein Mann, der den Zaun gerade überwunden hat und sich auf der anderen Seite hinunterfallen lässt. Ich will es bei diesen zwei Beispielen belassen.

„Sieht man ja, was es ist“

Polke macht uns mit seinen Bildern bewusst, dass wir oft sehen, was wir bereits im Voraus erwarten, bzw. nur das sehen, was wir sehen wollen. Er provoziert damit eine generelle Skepsis gegenüber Zeitungsfotos bzw. den Bildern, die uns über andere Medien erreichen. Auf der Homepage der Kunsthalle heißt es: „Längst leben wir mit dem Bewusstsein, dass wir unseren Augen nicht trauen können und dass Bilder, ob manuell oder technisch hergestellt, die Realität weniger abbilden als sie vielmehr mitgestalten.“ In der von zwei Frauen der Anna- Polke-Stiftung kuratierten Ausstellung sind nicht allein Polkes Arbeiten zu sehen. Ihnen an die Seite gestellt sind aktuelle Werke von acht Künstler*innen, die sich von Polkes Werk haben inspirieren lassen bzw. in denen sich ein ähnlicher Umgang mit unseren Bildwelten zeigt. Zu den Arbeiten selbst kann ich nichts sagen, da die Künstler*innen mir nicht bekannt sind. Manches klingt aber wirklich spannend. Zum Beispiel Trevor Paglens Fotografien von Himmelsszenarien, die „an malerische Vorbilder der Kunstgeschichte“ erinnern. Doch diese idyllischen Landschaften haben Flecken. Erst bei genauerem Hinsehen ist zu erkennen, dass die Flecken keine Flecken sind, sondern Drohnen. „Mit der Videoarbeit Drone Vision, 2010, stößt uns der Künstler auf politische und militärische Systeme und deren Überwachungstechniken“, heißt es zu einer weiteren Arbeit von Paglen im Begleitheft. „Durch die Bilder, die für drohnengesteuerte Luftangriffe, also von Maschinen für andere Maschinen, erzeugt werden, entsteht eine Diskrepanz: Menschen und Orte werden undeutlich oder gänzlich abstrakt.“ Doch wie gesagt, die Ausstellung selbst habe ich noch nicht gesehen. Falls der Ersatznachweis bis zum 6. März eintrifft, werde ich sie mir unbedingt anschauen. Aber ein qualifizierter Kommentar meinerseits zu den Arbeiten ist hier auch völlig überflüssig. Oder um es mit Sigmar Polke zu sagen: „Sieht man ja, was es ist.“

Thomas Giese

Kunsthalle Düsseldorf
Grabbeplatz
Di-So 11-18 Uhr
Eintritt: 6 Euro
Kinder, Jugenliche und
Düsselpassbesitzer*innen frei