Lager in der Pandemie

Geflüchtete zur Durchseuchung freigegeben?

In der Covid-19-Pandemie stehen bei weitem nicht alle gefährdeten gesellschaftlichen Gruppen im Fokus der Politik. Zu den Marginalisierten und Ungehörten, die zugleich besonders vulnerabel sind, gehören neben obdachlosen Menschen vor allem geflüchtete Menschen, die in Sammellagern leben müssen.

Geflüchtete, die in Landes-Erstaufnahmeeinrichtungen (EAEs) und Zentralen Unterbringungseinrichtungen des Landes NRW (ZUEs) untergebracht sind, waren seit Beginn der Pandemie sowohl am meisten gefährdet, sich zu infizieren, als auch am meisten vernachlässigt. Dies bestätigt eine Studie der Uni Bielefeld unter Leitung des Epidemiologen Prof. Dr. Kayan Bozorgmehr, der Infektionsdaten von 42 Sammelunterkünften für Geflüchtete auswertete. Schuld daran seien die beengten Verhältnisse in Mehrbettzimmern (bis zu sechs Personen), Gemeinschaftsduschen und -toiletten sowie die Gemeinschaftsverpflegung in Kantinen. Zudem trügen die bestehenden Quarantäneregelungen zu einer erhöhten Infektionsgefahr bei.

„Es war ein kleines Zimmer und wir waren sechs Leute, […]. Wenn du erkältet bist, werden sich alle erkälten. Am Ende hatten wir, glaube ich, alle Corona, weil wir die gleichen Symptome hatten, bevor wir die Unterkunft verlassen haben. Wir konnten alle nichts riechen, unsere Nase lief und wir haben das Essen nicht wirklich geschmeckt. Es war eine furchtbare Erfahrung.“

Die Impfkampagne, für die das Robert-Koch-Institut Menschen in Sammelunterkünften eigentlich auf die Priorisierungsstufe 2 und damit direkt hinter Ärzt*innen und Pflegepersonen setzte, lief in den ZUEs in NRW erst Mitte 2021 an. Überwiegend wurde der Impfstoff von Johnson & Johnson eingesetzt, der nur einmalig verimpft wird, was für die Zielgruppe wohl praktischer erschien. Leider erwies sich die immunisierende Wirkung dieses Vakzins als wenig nachhaltig, weil die Wirkung schon nach wenigen Wochen nachließ. Von einem proaktiven Bemühen, die Betroffenen darüber in Kenntnis zu setzen und zügig eine Boosterimpfung für alle, die das wollen, verfügbar zu machen, ist jedoch in den Flüchtlingslagern nicht viel zu erkennen.

Nach wie vor wird in den EAEs kaum geimpft. Dies wird damit begründet, dass die Bewohner*innen zuerst eine „Basis-Impfung“ gegen Masern, Röteln und Mumps erhalten sollen, da das Risiko für Erwachsene bei Masern sehr hoch ist. Für beide Impfungen sei der Organisationsaufwand aber zu groß und der Aufenthaltszeitraum reiche dafür nicht aus. Tatsächlich hat sich aber – unter dem Vorwand des Infektionsschutzes – der Aufenthaltszeitraum der geflüchteten Menschen in den EAEs deutlich verlängert.

Das MKFFI (Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration) legt hingegen eine vorrangige Impfung gegen Covid-19 nahe. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, gilt in vielen EAEs neuerdings eine formale Wahlfreiheit. Interessierte können nun auch zunächst die Covid-Impfung einer öffentlichen Impfstelle der jeweiligen Stadt in Anspruch nehmen. Real passiert dies in den meisten EAEs aber höchst selten. Denn in den Unterkünften gibt es kaum angemessenes mehrsprachiges Informationsmaterial, das Grundlage für eine solch gravierende Entscheidung sein könnte. Zudem verweisen einige EAEs darauf, dass sie nicht für die Impfaufklärung zuständig seien. Dies sei Aufgabe der Gesundheitsämter und Ärzt*innen. Nicht zuletzt ist der Aufwand einer Impfung für die Bewohner*innen aber unverhältnismäßig hoch, da die Entfernung zwischen der EAE und dem nächsten Impfzentrum häufig sehr groß ist.

In einigen EAEs ist die Tatsache, dass dort inzwischen die 3G-Regel auf dem Gelände gilt, ein Druckmittel, den großen Aufwand doch auf sich zu nehmen, weil die Bewohner*innen sich sonst täglich für den Besuch der Kantine etc. einem Schnelltest unterziehen müssten. So soll z. B. in der EAE Köln dadurch eine höhere Impfrate erzielt worden sein.

„Das ist sehr gefährlich. Du kannst im Zimmer nicht 1,5 Meter Abstand halten. Du teilst die gleichen Toiletten mit über hundert Personen, man kann in so einer Situation keine Hygieneregeln einhalten.“
Aber auch an einem vernünftigen Infektionsschutz innerhalb der Sammelunterkünfte mangelt es deutlich. So berichtet Judith Welkmann (*Name geändert), die als Flüchtlingsberaterin in einer kleineren Landesunterkunft in NRW arbeitet: „Unsere Einrichtung sollte eigentlich zur Entzerrung dienen, um besonders gefährdete Risikogruppen einen einigermaßen angemessenen Infektionsschutz bieten zu können. Die Landesregierung NRW hat aber insgesamt die belegbaren Plätze in den Unterkünften in den letzten Jahren um etwa ein Drittel heruntergefahren. Jetzt stocken unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung die Zuweisungen in die Kommunen, und in den letzten Monaten hat auch die Anzahl neu einreisender Geflüchteten wieder zugenommen. Darum platzen die Sammellager gerade aus allen Nähten und sind zum Teil überbelegt.“

So wird auch in ihrer Einrichtung die Belegungsgrenze erreicht. Und der Virus breitet sich dort aus, denn Schutzmaßnahmen werden oft nicht ergriffen.

„Wenn neue Leute aus der Erstaufnahmeeinrichtung zu uns kommen“ berichtet Welkmann, „bekommen sie vor ihrer Abfahrt nicht einmal einen PCR-Test. Dabei grassiert das Virus gerade z. B. in der EAE Mönchengladbach. Dann stecken sich die Leute im Bus während des Shuttles gegenseitig an. Wenn sie hier ankommen, sind viele frisch infiziert und werden erst einmal in Quarantäne gesteckt.
Da infizieren sich dann die Familien und die Leute auf dem Gang noch gegenseitig. Mit etwas Pech müssen sie dann wochenlang in Quarantäne bleiben, eine sogenannte Ketten-Quarantäne. Das trifft auch Kinder! Und das nur, weil vor der Abfahrt nicht ordentlich getestet wird.“

Diese Form der Kettenquarantäne fand auch in den ZUEs in Neuss und Ratingen immer wieder statt.

„Alle Menschen stehen in einer Schlange, um Frühstück, Mittag- und Abendessen zu bekommen. Alle Menschen spazieren zusammen auf einem sehr engen Hof. Da ist tatsächlich sehr wenig Platz. Die sind ständig im Kontakt. Das heißt, es ist tatsächlich keine richtige Quarantäne.“

Zu Beginn des Jahres 2021, als die kostenlosen „Bürger*innentests“ aufkamen, wurde an manchen EAEs oder ZUEs direkt eine Teststelle eingerichtet. Dieses Angebot wurde jedoch im Herbst mit Ende der kostenlosen Tests eingestellt und seitdem nicht wieder aufgenommen. Fortan wurden die Bewohner*innen nur noch getestet, wenn sie Behördentermine oder ähnliches hatten. Das Testangebot wurde lange nicht wieder aufgenommen, obwohl viele Bewohner*innen noch nicht geimpft waren, ihnen kein Impfangebot gemacht wurde und vieles, wie z. B. Busfahrten, nur mit Test möglich war. In der EAE Bielefeld wurde erst Anfang Februar 2022 mitgeteilt, dass es wieder ein tägliches Testangebot für alle untergebrachten Personen in der Unterkunft geben sollte.

Eine regelmäßige PCR-Testung findet in den Sammelunterkünften erst recht nicht mehr statt.

Für die Bewohner*innen bedeutet das Leben in den EAEs und ZUEs in Corona-Zeiten eine noch stärkere psychische und physische Belastung. Zu den fluchtbedingten Belastungssituationen, den Zukunftsängsten aufgrund der ungeklärten aufenthaltsrechtlichen Fragen und dem ohnehin stark reglementierten Leben in den Lagern kommt die Angst vor einer Corona-Infektion mit all ihren möglichen Folgen.

„Menschen, die potenziell gefährdet sind, […], Menschen mit verschiedenen Krankheiten […] Die haben wahnsinnige Ängste, krank zu werden. Diese schwierige Situation, die schon vor der Pandemie da war, [hat sich] noch mehrfach verstärkt. Also zu den Ängsten sind noch mehr Ängste gekommen, Und da wir es so kennen, dass nur dringende Fälle medizinisch versorgt werden, was passiert dann mit den anderen in so einem Fall?“

Für die vielen unter Quarantäne stehenden Erwachsenen und Kinder ist der Bewegungsspielraum in den Unterkünften oft über Wochen sehr stark eingeschränkt, so dass ihr Leben eher einer Gefangenschaft gleicht. Ehrenamtliche Angebote, die zumindest kurzfristig eine Ablenkung versprochen haben – wie Sprachkurse, Spiel- und Sportgruppen etc. – wurden als Pandemieschutzmaßnahme eingestellt und bisher nicht wieder aufgenommen.

Nicht nachvollziehbar ist auch, warum keine FFP2-Masken für alle Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen zur Verfügung gestellt werden. Die meisten Personen im Lager laufen mit schlecht sitzenden und viel zu oft getragenen OP-Masken herum. Dazu Judith Welkmann:

„Viele Bewohner*innen sind enorm dankbar, wenn man ihnen mal eine frische FFP2-Maske gibt. Denn unsere Unterkunft hier ist sehr abgelegen, so wie viele andere auch. Wenn man kein Geld für den ÖPNV hat, kommt man nur unter Inkaufnahme langer Fußwege zum nächsten Drogeriemarkt oder zur Apotheke. Bei wöchentlich 32 Euro Taschengeld sind FFP2-Masken außerdem eine echte Investition, die man im Geldbeutel spürt.“

Generell wäre der beste Infektionsschutz laut den Bielefelder Wissenschaftler*innen eine dezentrale Unterbringung von geflüchteten Menschen. In zentralen Sammelunterkünften sollte die Unterbringung zumindest in Einzelzimmern oder in kleinen Wohneinheiten organisiert werden. Ein solches Vorgehen wäre auch im Interesse der öffentlichen Gesundheit, um eine schnelle Ausbreitung des Virus beim Auftreten in Sammelunterkünften zu verhindern. Aber von solchen Maßnahmen wollen die Bezirksregierungen und das MKFFI offenbar nichts wissen.

„Sie haben uns, […], komplett vergessen. Sie haben komplett vergessen, dass das hier ein Haushalt mit 700 Personen ist.“

Sammellager können durchaus als „Pandemietreiber“ bezeichnet werden – so wie jeder Ort, an dem viele verschiedene Menschen zusammenkommen, ohne ausreichend Abstand und Schutzmaßnahmen einhalten zu können. Und so gab es auch während der gesamten Pandemie praktisch keine Phase, in der in NRW keine Coronafälle in den Unterkünften auftraten. Gerade jetzt scheint es, dass die Bewohner*innen der EAEs und ZUEs nun endgültig der Durchseuchung freigegeben sind. Die Gefahren für die Betroffenen werden dabei billigend in Kauf genommen.

NoLager NRW

Alle Zitate aus: „’Bedeutet unser Leben nichts?’ Erfahrungen von Asylsuchenden in Flüchtlingsunterkünften während der Corona-Pandemie in Deutschland“
Pro Asyl, S. 45-50, https://proasyl.de/wp-content/uploads/210809_PA_Lager.pdf [Abruf 17.02.2022].