Ein autonomes Rheinland?

„Denn zum Kriege wird‘s kommen, trotz aller Friedensversicherungen, und unser gutes Deutschland wird wieder die schlechte Kneipe seyn, worin die Kirmeßgäste der Freiheit sich abprügeln.“

Carl Immermann am 6. Oktober 1830 aus Düsseldorf an Heinrich Heine in Hamburg

Vor Innenstadtlärm, Altstadttrubel und den tagtäglichen „Hiobsdepeschen“ fliehe ich zuweilen ins Museum. Recht ziellos streife ich dann durch die Gänge. Fantasyfilme im 16. Jahrhundert? Gab’s die wirklich? Ja, sogar in 3D! Heute wird sowas mit Greenscreen produziert, damals war alles echt – und nicht nur auf Leinwand, sondern alles live und ganz real: Helden in blinkenden Rüstungen fighten gegen Fabelwesen, mythologische Gestalten schmettern Arien auf einem künstlichen Venusberg, sogar eine Seeschlacht wurde als imposantes Spektakel nachgestellt: Ein mit Harz und Pech bestrichenes Schiff fackelte mitten auf dem Rhein ab. Das war 1585. Acht Tage währten die prunkvollen Festlichkeiten aus Anlass der Hochzeit des Jungherzogs Johann Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg mit der Markgräfin Jacobe von Baden. Franz Hogenberg hat alles in Kupferstichen festgehalten. Im Erdgeschoss des Düsseldorfer Stadtmuseums füllen die Stiche einen ganzen Raum.

Kahle Museumswände

In der Ära Erwin wurde vieles abgeräumt, insbesondere alles, was die sozialen Bewegungen und Düsseldorfs Friedens- und Protestkultur nach 1945 dokumentiert. Weil so vieles fehlt, bleibe ich bei einzelnen Exponaten oft um so länger hängen – diesmal eben bei den „Hochzeitsbildern“ anno 1585. Das „festliche“ Kriegsspiel war makaber. Denn auf der andern Rheinseite tobte der Truchsessische Krieg. Nur wenige Wochen zuvor waren die Stadt Neuss eingenommen und eine Reihe kleinerer Burgen und befestigter Höfe im Neusser Umland dem Erdboden gleichgemacht worden. Franz Hogenberg hat auch solche „Kriegsspektakel“ in Kupfer gestochen, die Schlacht bei Hüls von 1583 (heute: Krefeld-Hüls) als erbarmungsloses Gemetzel ins Bild gesetzt. Auf den Truchsessischen Krieg folgte der Dreißigjährige. Zuhause vergrub ich mich in Bücher. In „Von Minden nach Köln – Schilderungen und Geschichten“ hat Levin Schücking 1856 unter anderem auch Jacobe von Baden ein Denkmal gesetzt. Ihr sei es gelungen, „eine gewisse Selbständigkeit inmitten der Parteien, der katholischen und der protestantischen, zu behaupten“, bis sie durch eine Intrige zu Fall kam.

Düsseldorfer Anfänge

Carl Immermann lässt in der Kapitelfolge „Düsseldorfer Anfänge“ seiner „Memorabilien“ bunt Kostümierte im Anschluss an eine Karnevalsaufführung über das Schicksal der Jacobe von Baden diskutieren. In seiner Rezension konstatiert 1840 der damals 19-jährige Friedrich Engels, Immermann schreibe „für moderne Deutsche“, eben für jene, „die den Extremen des Deutschtums und des Kosmopolitismus gleich fern stehen.“ Er fasse „die Nation“ ganz modern auf, formuliere Grundsätze, „die konsequent auf Selbstherrschaft als Bestimmung des Volkes“ zielen. Er wende sich aber strikt gegen den – Engels zitiert Immermann hier wörtlich – „Mangel an Selbstvertrauen, die Wut zu dienen und sich wegzuwerfen, an der die Deutschen kranken.“ Doch zugleich finde sich bei dem Autor „eine Vorliebe für das Preußentum“, aber nur eine „sehr frostige, gleichgültige Erwähnung“ des Kampfes für eine Verfassung. Immermann halte jedoch sein Versprechen, „nur die Momente zu erzählen, wo die Geschichte ihren Durchzug durch ihn gehalten“ habe.

Die im Text erwähnte Karnevalsaufführung – gegeben wurde Friedrich Schillers „Wallensteins Lager“ – hatte 1839 tatsächlich stattgefunden und Immermann führte selbst Regie. In den „Memorabilien“ erläutert er sein Inszenierungskonzept: „Eine rohe Soldateska, die durcheinander schwatzt und selbst von sich aussagt, daß sie aus allen Ecken und Enden zusammengeblasen worden sei, braucht doch nicht mit uniformer klassischer Eleganz zu reden.“ Deshalb habe er „den Böhmen böhmisch hart, den Oberdeutschen schwäbisch, den Tyroler tyrolisch, die Marketenderin sächsisch, den Kapuziner in dem kölnischen Dialekte, dessen er mächtig war“ sprechen lassen, wobei der Wallone sich selbst „ein gebrochenes Idiom erfundenen“ habe. Im Anschluss an die Aufführung unterhalten sich die bunt Kostümierten über Theater, Kunst und Geschichte. Thema sind auch die Vorgänge am jülich-kleve-bergischen Hofe Ende des 16. Jahrhunderts. Jacobe von Baden hatte, da ihr Gemahl unter schweren Depressionen litt, bald selbst die Regierungsgeschäfte in die Hand genommen. 1595 wurde sie auf Ehebruch verklagt und in Folge wie eine Gefangene im Schloss am Düsseldorfer Burgplatz gehalten. Strippenzieherin bei dieser Intrige war Jacobes Schwägerin Sybille. Die „häkelichten Stände von Jülich, Kleve, Berg“, wollten „in der allgemeinen Zerrüttung auch nebenbei im Trüben fischen“, vermutet einer der Kostümierten. Alles sei im Chaos versunken: „Das tollste Durcheinander kleiner Menschen, unterirdischer Schliche und Wege!“ Am Morgen des 4. September 1597 war die Herzogin in ihrem Gemach tot aufgefunden worden. Die Umstände ihres Dahinscheidens wurden nie aufgeklärt. Nachdem 1609 auch ihr Gemahl verstarb, wird das Großherzogtum im Jülichen Erbfolgekrieg zerschlagen.

In ihrer Unterhaltung überspringen die Kostümierten ein paar Jahrhunderte, landen flugs bei Napoleon und der Franzosenzeit. „Man hat immer, besonders in den ersten Friedensjahren, von der undeutschen, ja französisch gebliebenen Gesinnung der Rheinländer geredet“, wirft ein rot Kostümierter ein.

Scheingeschäfte

Für viele im Großherzogtum Berg war der Kaiser „ihr Held“. In „Düsseldorfer Anfänge“ lässt Immermann einen der Kostümierten darlegen: „Sie waren mit Napoleon in sein Glücksschiff gestiegen, hofften von der Fahrt guten Vorteil, das Schiff brach, und gerettet hörten sie, sie seien Deutsche und frei.“ Ein papageigrüner, schon etwas ältlicher Narr wirft einen nüchterneren Blick auf die Ereignisse: „Die Franzosen kamen hereinmarschiert, und wollten Geld haben und Menschen und Pferde“, und da hätten „die Geistlichen und Stifter ihre Ländereien und Kapitalien unter Scheingeschäften“ versteckt, damit der Präfekt sie nicht auswittere. Dann die Wende: „Wir hörten eines Tages, die Franzosen seien in Rußland erfroren“, und da habe sich ein Haufen Jugendlicher, die nicht dienen wollten, zusammengerottet. „Sie zogen mit einer Fahne und Stecken und Mistgabeln durch die Berge und Wälder; das waren die sogenannten Knüppelrussen.“ 1814 gelang es, die Franzosen hinter die Rheinlinie zurückzudrängen. „Dann rückten die Alliierten ein, die wollten wieder nichts als Menschen und Pferde und Geld. Die Prokonsuln kamen, die Gouverneure und Generalgouverneure; Österreich, Bayern, Preußen und Rußland regierte ...“ Der Papageigrüne schloss leicht spöttisch: „Hernach könnt ihr jungen Leute wohl in einen solchen kunterbunten Zustand die Einheit hineinphantasieren, wer aber mit dabei war, sagt: Es war nichts als Mischmasch und ...“ – „Konfusion“, ergänzt ein anderer. Das Wort „Konfusion“ machte die Runde.

Der Speckrussenaufstand

Im Stadtmuseum ist ein Raum Napoleon und der Franzosenzeit gewidmet. Ein imposantes Ölbild im Goldrahmen zeigt ihn am Tag seiner Kaiserkrönung in der Pose eines römischen Imperators. In einer Vitrine funkelt Geschirr mit ägyptischem Dekor – eine Reminiszenz an Napoleons Ägyptenfeldzug. Der Code Civil liegt aus, ein Einberufungsbescheid, unterzeichnet vom „Maire“, wie der Bürgermeister zur Franzosenzeit hieß ... Wer aber sind die „Knüppelrussen“? Im Stadtmuseum fand ich dazu nichts. Wikipedia weiß mehr: „Als Knüppelrussen wurden im napoleonischen Satellitenstaat Großherzogtum Berg meist jugendliche Rebellen bezeichnet, die nach der Niederlage Napoleons im Russlandfeldzug 1812 auftraten.“ Diese waren zumeist „Deserteure bzw. junge Männer, die sich der drohenden Einberufung entzogen hatten“. Sie ließen die Russen hochleben, vertrieben mit Knüppeln die napoleonischen Rekrutierungsbeamten, zerstörten gezielt die Personenstandsregister und sonstige „für die Organisation der Einberufung relevanten Akten in den behördlichen Stellen.“ Im Oberbergischen seien sie auch Speckrussen genannt worden, „weil ihre Mitbürger sie häufig mit Sauerkraut und Speck verköstigten“. Der „Speckrussenaufstand“ von 1813 ging in die Geschichtsbücher ein. Für Napoleon zu krepieren auf fernen Schlachtfeldern – ob in Spanien, in Italien oder jetzt in Russland – hatte niemand mehr Bock. Peinlich, dass wir von Wikipedia besser informiert werden als im eigenen Stadtmuseum!

„Befreier vom Franzosenjoch“

Im Rheinland waren die „Befreier vom Franzosenjoch“, wie das damals hieß, für viele die Russen. Mit den Preußen – das Rheinland war beim Wiener Kongress 1815 unter preußische Oberhoheit gestellt worden – gab es schnell Stress. Denn die Rechtssicherheit und verbrieften Individualrechte, die mit dem Code Napoleon, dem französischen Zivilrecht, im Rheinland Einzug gehalten hatten, wollte sich hier niemand wieder nehmen lassen. Für Berlin war die Rheinprovinz von großer Bedeutung. Die Rhein/Ruhr-Region war sozusagen das Donbass Preußens. Hier lag die Kohle, hier befand sich die Industrie. Der märkische Sand und die weiten Besitzungen ostpreußischer Landjunker, die zudem fast gänzlich von Steuern befreit waren, brachten kaum etwas ein. Aus diesem Grund tat Berlin alles, um eine offene Konfrontation mit der aufmüpfigen Provinz zu vermeiden. Es warb regelrecht um Sympathien, bemühte sich um kulturelle Integration. Nicht zufällig kam in „Düsseldorfer Anfänge“ das Gespräch der Kostümierten auf Jacobe von Baden. 1820 waren ihre Gebeine in der Düsseldorfer Kreuzherrenkirche entdeckt und feierlich in die Fürstengruft von St. Lambertus umgebettet worden. 1823 erschien Markus Theodor von Haupts Buch „Jacobe, Herzogin zu Jülich, geborne Markgräfin von Baden“, gefolgt 1833 von Johann Baptist von Zahlhas’ Drama „Jakobe von Baden – Schauspiel in fünf Aufzügen.“ Den Preußen kam der Jacobekult gerade recht. In der Herzogin, die einst „eine gewisse Selbständigkeit inmitten der Parteien, der katholischen und der protestantischen“ zu behaupten suchte, wollten sie sich gerne selbst gespiegelt sehen.

Kein„Vive le empereur!“ mehr

Berlin setzte verstärkt auf friedliche Koexistenz. Preußische Beamte ließen sich sogar dazu herab, Narrenkappen aufzusetzen und auf Karnevalssitzungen besonders laut – und je nach Stadt unterschiedlich – „Alaaf!“ oder „Helau!“ zu brüllen. Die „Vive le empereur!“-Rufe auf Narrensitzungen und jene Stimmen, die einen Wiederanschluss an Frankreich forderten, wurden leiser. Preußens Integrationspolitik fand aber nicht überall Zustimmung. In der in München redigierten „Kunst-Blatt“-Beilage des „Morgenblatts für gebildete Stände“ wurde der Düsseldorfer Akademie wiederholt vorgehalten, „zu französisch“ zu sein. Dahinter steckte der Vorwurf, Berlin ginge nicht hart genug gegen das frankophile Rheinland vor.

Die Lage in Europa wurde immer bedrohlicher: Nachdem 1831 das belgische Parlament den deutschen Prinzen Leopold von Sachsen-Coburg-Saalfeld als König eingesetzt hatte, starteten die Niederlande vierzehn Tage später eine militärische Offensive gegen Belgien. Frankreich drohte mit Intervention, woraufhin die Niederlande ihren Angriff abbrachen. Den Haag scheute den offenen Konflikt mit dem immer noch mächtigen Nachfolgestaat Napoleons. Belgien als Pufferstaat, so strategische Überlegungen, könnte der Friedenssicherung dienlich sein. Der von Immermann befürchtete große Krieg blieb aus. Dass Friedrich Wilhelm IV. im Berliner Kultusministerium eine Abteilung für katholische Angelegenheiten einrichten ließ, hatte ebenfalls zum Ziel, Spannungen abzubauen und die Gemüter herunterzukühlen. Das Haus der Hohenzollern trieb stets die Angst um, der Konflikt mit der überwiegend katholischen Rheinprovinz könne eskalieren und gänzlich außer Kontrolle geraten. Im Gegensatz zu seinem Vater, der 1837 den Kölner Erzbischof wegen dessen Unbotmäßigkeit hatte gefangennehmen und in der preußischen Festungsstadt Minden festsetzen lassen, betrieb Friedrich Wilhelm IV. eine forcierte „Integrationspolitik“. Lob kam sogar vom erzkonservativen Trierer Bischof. Der versicherte Berlin: „Die heilige Autorität der Kirche ist das große Bollwerk für den Thron des Fürsten.“ Der König gab sich volksnah, war in Wirklichkeit aber ein ganz scharfer Hund. Er hatte sich ein „Zurück zum Mittelalter“ auf die Fahnen geschrieben. „Seine Ideen sind die des Romantikers, der mit seinem Zeitalter zerfallen ist“, urteilte auch der konservative Historiker Golo Mann und zitiert aus einem Privatbrief, in welchem der König hetzt: „Die schnöde Judenclique legt täglich durch Wort, Schrift und Bild die Axt an die Wurzel des deutschen Wesens.“ Sie wolle nicht wie er, der König, „die Veredelung und freies Übereinanderstellen der Stände, die allein ein deutsches Volk bilden“, vielmehr beabsichtige diese „Judenclique“ ein „Zusammensudeln aller Stände.“ Auch etliche Katholik*innen jubelten bald diesem Friedrich Wilhelm zu. Fazit: Das Rheinland erklärte sich nicht autonom. Es gliederte sich auch nicht an Frankreich an.

Korporations- statt Menschenrechte

Friedrich Wilhelm IV. habe überall dort angeknüpft, „wo er noch etwas Mittelalterliches vorfand“, stellt 1843 Friedrich Engels fest. „Kurz, er kennt keine allgemeinen, keine staatsbürgerlichen, keine Menschenrechte, er kennt nur Korporationsrechte, Monopole, Privilegien.“ Aus dem Berliner Schloss ließ der König die zur Zeit der Aufklärung vorgenommenen Einbauten rausreißen, so dass das mittelalterliche Schlingrippengewölbe wieder freigelegt wurde. Auf sein Geheiß hin wurde auf das Schloss eine Kuppel gesetzt, gekrönt von einem Kreuz und einem Spruchband, das mit den Worten endet: „Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“ Die Knie „aller“ sollten sich natürlich vor ihm, dem König, im „Namen Jesu“ beugen. Von jenem sprichwörtlichen „Jeder soll nach seiner Façon selig werden“ des Alten Fritz keine Spur! Kuppel, Kreuz und Spruchband prangen seit 2020 wieder hoch über Berlin. Wie mag dies wohl alles im Kreml aufgenommen worden sein? (zu Hohenzollern siehe auch „hohenzollern.lol“) Das Schloss steht genau dort, wo 2006 der „Palast der Republik“ abgerissen wurde. Wie eine gigantische Pickelhaube erhebt sich die Kuppel über dem wiedererrichteten Schlosskomplex – Zeugnis einer Zeit, in der ein Judenhasser auf dem Hohenzollernthron saß, der sich ins Mittelalter zurücksehnte und in geistiger Umnachtung endete. In „Deutschland – Ein Wintermährchen!“ hat Heinrich Heine diesem König wie auch der Innovation der Pickelhaube einige Verse gewidmet: „Ja, ja, der Helm gefällt mir, er zeugt/ Vom allerhöchsten Witze!“ Doch der Dichter warnt:

Nur fürcht‘ ich, wenn ein Gewitter entsteht,
Zieht leicht so eine Spitze
Herab auf Euer romantisches Haupt
Des Himmels modernste Blitze! – –

Thomas Giese