TERZ 04.22 – GESCHICHTSSTUNDE
„Entscheidend ist auf dem Platz“ – diese Fußballer-Weisheit gilt auch für alle Revolutionen dieser Welt, ob Paris, Berlin, Tiananmen-Platz in Peking, Maidan-Platz in Kiew oder Tahrir-Platz in Kairo oder eben auch für den Oberbilker Markt. Denn wer auf dem Platz ist und auch da bleibt, der zeigt, dass die Mächtigen schwach sind, schwächer als das Volk.
Die Revolution braucht immer Platz. Und der ist auch der wichtigste Ort der Stadtbaukunst, eine Errungenschaft der abendländischen Zivilisation, gleichzusetzen mit Öffentlichkeit. Diktaturen fällen ihre Entscheidungen in Hinterzimmern, Republiken dagegen, wie in der Antike, unter freiem Himmel. Seit dem Ende des Mittelalters wandelte sich der Charakter zentraler Plätze; immer mehr dienten dazu, die wichtigsten Bauwerke einer Stadt sichtbar zu machen, Rathäuser, Kirchen – der Platz wurde zum Ort der Demonstration von gebautem Reichtum und steinerner Macht, durch und durch symbolisch.
Vor diesem Hintergrund kann man auch die Entwicklung des Arbeiterstadtteils, des „Roten Oberbilks“, vom Einzug der Industrie über die Revolution 1918/19 bis heute verfolgen. Im Herzen der Oberbilker Markt, vor der Skyline der großen Stahlwerke mit ihren Schloten, wo es spürbar proletarisch zuging, wo der Platz als Marktplatz für die Versorgung des Volkes genutzt wurde, der zugleich auch Aufmarschplatz der Arbeiter- und Soldatenräte und der kämpferischen, verarmten Massen nach dem Kriege war. Volksversammlungen, ein Herzstück der Revolution, und der Platz als Versammlungsort mit Redetribüne unter freiem Himmel, zugänglich für jedermann; das Parlament der Straßenpolitik.
Heute, 100 Jahre später, scheinen die Despoten vertrieben, die Republik errichtet, die Freiheitsrechte errungen, der 8-Stunden-Tag und das Frauenwahlrecht durchgesetzt, das Blut des Volkes nicht umsonst vergossen zu sein. Da dominiert der Tempel der Gerechtigkeit („Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“) den Platz, direkt gegenüber dem „Haus der Wirtschaft und Industrie“ und auf der gegenüberliegenden Seite der Tempel des Geldes („Stadtsparkasse“).
Wie war er entstanden, dieser historische Ort? Der Oberbilker Markt war seit 1874 als rechteckige Aufweitung der Bogenstraße und einem annähernd quadratischen Platz in den Stadtplänen erkennbar. Um 1900 wurde dieser Freiraum an den Eisenbahngleisen im Rahmen der Stadterweiterung nach den Plänen des berühmten Stadtplaners Josef Stübben durch eine meist viergeschossige Bebauung eingefasst; die ältere Bebauung ist vollständig verschwunden. Dieser Platz entwickelte sich zum Mittelpunkt des Arbeiterviertels. Allerdings war die Geschlossenheit des Platzes von Anfang an durch die Verkehrsachsen der Kölner und Kruppstraße gestört. Später kam dann eine Straßenbahntrasse hinzu. Die Eisenbahnlinie verlief von 1838 bis 1891 als Trasse der „Cöln-Mindener Eisenbahn“ auf der heutigen Eisenstraße in der Mitte zwischen den beiden Fahrwegen, die weiter über den Markt hinaus in die heutige Mindener Straße einmündete. Bis dahin gab es nur eine befestigte Straße, die „Kölner Chaussee“ von Düsseldorf nach Benrath, die heutige Kölner Straße. Ansonsten existierten nur Feldwege, die später zu Straßen wurden, wie unter anderem die Ellerstraße. Am Beginn der industriellen Entwicklung zählte man in der Flur Oberbilk etwa 30 bebaute Grundstücke, auf die sich Anfang des 19. Jahrhunderts die gesamte Bevölkerung Oberbilks verteilte. Der Stadtteil wuchs mit der fortschreitenden Industrialisierung, es entstanden zahlreiche Handwerksbetriebe und Fabriken. Arbeiter*innen-Wohnungen wurden neben der Bahnlinie und der noch ländlich geprägten Bebauung errichtet. Die Kruppstraße und die Werdener Straße wurden in den 1890er Jahren, als die Gleise der Köln-Mindener Bahnlinie entfernt wurden, schrittweise zweispurig ausgebaut.
Im Zentrum nahe der Kreuzung stand eine große Straßenuhr im Jugendstil, wie etwa heute noch auf der Königsallee am Corneliusplatz. Auf dem Marktplatz befand sich ein kioskähnliches Milchbüdchen mit spitzem Turm. Es war kein Schmuckplatz, nicht vergleichbar mit anderen Plätzen der Stadt, an denen ein repräsentativer Kirchenbau dominiert, wie etwa der Kirchplatz oder der Josefsplatz. Es war auch keine „grüne Lunge“ wie der Lessingplatz oder eine durch historische Freiraumplanung geprägte Anlage wie der heute denkmalgeschützte Fürstenplatz in der Friedrichstadt.
Der Oberbilker Markt hatte nie den Charakter eines ‚richtigen‘ Platzes, eher war es ein Verkehrsknotenpunkt, zwischen Handwerksbetrieben, Fabriken und Wohnbauten an den Bahngleisen und der Kölner Straße gelegen. Für die im Industrie- und Arbeiterviertel Oberbilk starke sozialistische Arbeiterbewegung spielte der Platz aber immer schon eine wichtige Rolle. Während der Novemberrevolution 1918/19 war der Stadtteil eine Hochburg des Spartakusbundes, aus dem später die KPD hervorging. Am 12. und 13. April 1919 hatten aufständische Arbeiter*innen auf dem Oberbilker Markt Barrikaden errichtet. Der Aufstand wurde jedoch von dem berüchtigten paramilitärischen „Freikorps Lichtschlag“ blutig niedergeschlagen. Dabei wurde auch Artillerie eingesetzt. Rund 40, nach anderen Berichten bis zu 50 Menschen kamen bei diesem Einsatz marodierender kaiserlicher Resttruppen aus dem verlorenen 1.Weltkrieg gegen das eigene aufbegehrende Volk ums Leben.
Auch danach blieb der Oberbilker Markt Schauplatz politischer und gewerkschaftlicher Aktionen und Demonstrationen. Hier fanden unter anderem die Kundgebungen zum 1. Mai, dem Feier- und Kampftag der sozialistischen Arbeiterbewegung, statt. Das Fest des Heiligen Joseph, dem Namensgeber der nahegelegenen katholischen Josephskirche und Schutzpatron der Arbeiter*innen, feierte mensch in Oberbilk nicht wie andernorts üblich am 19. März, sondern am 1. Mai – die gewerkschaftliche Maifeier und das religiöse Fest des Heiligen Joseph am selben Tag zu begehen, erschien an diesem Ort vollkommen naheliegend und wurde nicht als Gegensatz empfunden. Das Arbeiter*innen-Viertel war lange auch ein Bollwerk gegen den aufkommenden Nationalsozialismus. Noch im Jahr 1933 kam es auf dem Oberbilker Markt zu einer Protestkundgebung gegen die Nazi-Partei.
Der Stadtteil Oberbilk und der Markt blieben während des 2.Weltkriegs nicht von Bombenangriffen verschont. Viele kriegswichtige Rüstungsbetriebe und der Hauptbahnhof machten das Quartier zu einem wichtigen Ziel alliierter Luftangriffe. Aber noch bevor die schweren Flächenbombardements Düsseldorf erreichten, wurde am 13. Oktober 1941 ein britischer Bomber abgeschossen, der in einen Häuserblock im Bereich Kruppstraße – Oberbilker Markt – Eisenstraße einschlug, diesen verwüstete und zahlreiche Opfer forderte. Was zu dieser Zeit noch Schaulustige anzog, sollte sich wenig später zur prägenden Realität Oberbilks und der gesamten Stadt entwickeln. Bei späteren Luftangriffen wurden große Teile Oberbilks schwer getroffen.
Kurz nach Kriegsende wurden um den Oberbilker Markt die zerstörten und schwer beschädigten Häuser abgerissen und machten einfachen Wohngebäuden, Werkstätten, Abstellflächen und einer Tankstelle Platz. Der Wiederaufbau Oberbilks konnte Anfang der 1960er Jahre als abgeschlossen gelten. In den 1980er Jahren erhielt der Oberbilker Markt durch den Neubau der Zweigstelle der Stadtsparkasse an der Westseite ein moderneres Gesicht. 1988 wurde auch der Platz selbst neu gestaltet. In den Folgejahren gingen von der Neubebauung der Industriebrache auf der gegenüberliegenden Seite des Oberbilker Marktes mit der Planung eines „Internationalen Handelszentrums“, der Errichtung eines neuen Gerichtsgebäudes des Landes NRW an der Werdener Straße sowie dem Umbau der Werdener Straße Impulse für eine erneute Umgestaltung des Oberbilker Marktes aus, die im Jahr 2015 abgeschlossen wurde. „Insgesamt wurden 6.000 qm Oberfläche neu gestaltet“ (Landeshauptstadt Düsseldorf 2021).
Es ist davon auszugehen, dass es nicht die letzte Veränderung des Oberbilker Marktes gewesen sein wird, denn mit der Neugestaltung kam es zu einer vorher nicht existierenden Zweiteilung des Oberbilker Marktes. Der Vorplatz vor dem ursprünglich als sowjetisches „Haus der Wirtschaft und Industrie“ (HWI) konzipierten Gebäude wird inzwischen vielmehr als ein ‚anderer Platz‘ empfunden, den es offiziell als Platz aber gar nicht gibt; in den Medien wird er wegen des dort errichteten Puschkin-Denkmals oft auch als Puschkin-Platz bezeichnet. Allerdings würde es keine Bezirksvertretung wagen, diesen ‚anderen Platz‘ auch offiziell so zu benennen, da die historische Einheit des Oberbilker Marktes gewahrt bleiben soll.
Bis zur Umgestaltung der Industriebrache zwischen Bahnlinie, Kölner und Werdener Straße im Zuge der Planungen für das „IHZ“ befand sich entlang der Kölner Straße eine den Platz begrenzende Häuserzeile. Diese Gebäude wurden bis zu ihrem Abbruch von diversen Kulturinitiativen genutzt. Darunter war auch das „Café Rosa Mond“, das vielen Menschen noch sehr lebendig als identitätsstiftender Ort der lesbisch-schwulen Community in Erinnerung sein dürfte. Etwas vergleichbar Neues ist nicht mehr entstanden.
In den Augen vieler Oberbilker*innen wurde mit der umgesetzten Neugestaltung eine historische Chance verpasst! Statt den neugewonnenen Raum einer städtebaulichen Gesamtgestaltung zuzuführen, die auch die Geschichte des Stadtteils widerspiegelt und zu einer Visitenkarte des multikulturellen Oberbilks hätte werden können, zu einem Raum, in dem sich Identitätsstiftendes wiederfindet und Vergangenheit, Gegenwart und die Zukunft eine Einheit bilden, wurde alles „abgeräumt“, was als „störend“ angesehen wurde. Vom Sitzrondell mit schattenspendendem Ahorn-Baum im Hochbeet, das als Hinweis auf die Industriegeschichte wie ein riesiges steinernes Zahnrad gestaltet war, und den historischen Gaslaternen, die später als Industriedenkmal gesamtstädtisch zum größten Teil unter Schutz gestellt wurden, blieb nichts mehr übrig. Und auch der symbolträchtige Luftschacht über dem Luftschutzbunker unter dem Platz musste weichen: Es war genau der Schacht, an dem eine Heeresstreife unter dem Kommando des NS-Gauleiters noch kurz vor Kriegsende am 15. April 1945 den 72-jährigen jüdischen Oberbilker Moritz Sommer aufgehängt hatte.
Der Abriss des kioskähnlichen Milchbüdchens (das im Milchbüdchen von Jakob Broich einen historischen Vorgänger hatte) und das als typisches Düsseldorfer Büdchen für viele ein wichtiges identitätsstiftendes Element im öffentlichen Raum war, konnte ebenfalls nicht verhindert werden. Die Planer*innen machten vor nichts Halt, was den langjährigen Bewohner*innen Oberbilks lieb und teuer war. In den Plänen für die Neugestaltung gab es, trotz vieler Vorschläge aus der Bürgerschaft und auch aus der Politik, nicht einmal Platz für ein Boden-„Denk-mal!“: etwa in Gestalt eines Stücks Gleisbett der früheren Eisenbahnlinie mit Steinquadern aus 110 Ländern mit der Inschrift „Willkommen“. Es gab auch keinen Platz für eine unübersehbare Skulptur, die die Geschichte des Platzes in der Mitte Oberbilks hätte erzählen können: von den schweren Barrikadenkämpfen 1919 am Oberbilker Markt und der näheren Umgebung bis zu einer Erinnerungstafel für den zeitweiligen Arbeiterräteführer Karl Schmittchen, der für kurze Zeit zum Oberbürgermeister der Stadt wurde. Auch für Hinweise auf den Flugzeugabsturz im Oktober 1941 oder die Bombardierungen während des Kriegs war kein Platz. Nur das Mobiliar des Spielplatzes, das die Formen einer Eisenbahn annehmen durfte, lässt erahnen, dass Wünsche der Bürger gehört wurden. Oberbilk ist nicht die Carlstadt, wo sich Architekt*innen und Stadtplaner*innen austoben wollen und dürfen. Von dem Versprechen des damaligen Oberbürgermeisters Thomas Geisel, auch die dezentral gelegenen Stadtteile zu stärken, blieb nichts. Es gab für den Umbau des Platzes auch kein Konzept zur Einbeziehung des 1941 erbauten großen unterirdischen Luftschutzbunkers. Daraus hätte vielleicht ein neues Zentrum der Subkultur werden können, wie die alte Toilettenanlage am „Adersplätzchen“. Aber die Kölner Straße ist schließlich nicht die Königsallee, die man für Tourist*innen herausputzen will.
Auch viele Namensgebungen für Straßen im Umkreis waren unglückliche Entscheidungen. Machen Bezüge zu historischen Straßen- und Eisenbahnverbindungen noch Sinn für die Namensgebung (z. B. Kölner- oder Mindener Straße), fehlt bei der Straßenbenennung mit den Namen von Partnerstädten Düsseldorfs (z. B. Warschauer-, Moskauer Straße) ein Bezug zum Stadtteil. Mensch gewinnt den Eindruck, als hätte Oberbilk nichts Eigenes, nichts historisch Bedeutendes zu bieten oder als schämte sich der Stadtteil vielleicht sogar seiner Geschichte als „rotes“ Arbeiterviertel und bemühte sich deshalb, sie vergessen zu machen.
Es sollte ein Ziel von Erinnerungspolitik sein, die Geschichte des Stadtteils am Oberbilker Markt sichtbar zur Geltung zu bringen. Dabei könnte mensch dann auch auf die bisher zu sehr vernachlässigte Rolle der Frauen eingehen, beispielsweise durch die Figur einer Farbrikarbeiterin auf der Litfasssäule. Es wäre möglich, bei neuen Straßenschildern Frauen würdigen, die auch auf dem Oberbilker Markt für Frauenrechte, wie etwa das Frauenwahlrecht, eingetreten sind. Ein „Frauenrechteplatz“ auf dem Gelände der ehemaligen Paketpost wäre ein Pendant zur nahegelegenen Eintrachtstraße. Wünschenswert wäre auch die Benennung einer Straße nach Gräfin Sophie von Hatzfeld, die als frühe Feministin und Arbeiterführerin während der Düsseldorfer Revolution 1848/49 Beispielhaftes geleistet hat. Und wir sollten die vielen Frauen des Widerstands gegen die Nazi-Diktatur nicht vergessen, die in Oberbilk zu Hause waren und auch auf dem Oberbilker Markt Geschichte für das demokratische Deutschland geschrieben haben (Maria Wachter, Klara Schabrod, Cilly Helten u. v. a.).
Der Oberbilker Markt teilt unter den Plätzen in den 50 Düsseldorfer Stadtteilen mit dem Schwanenmarkt die Besonderheit, offiziell nicht „Platz“ genannt zu werden. Beide verbindet zudem, dass sie im Zuge der Trassenführung der „Cöln-Mindener Eisenbahngesellschaft“ angelegt wurden, ihre Bedeutung als wichtige Märkte später aber auch wieder verloren. Und während der Schwanenmarkt in der wohlhabenden Carlstadt unweit der Königsallee in seiner Mitte ein Brunnendenkmal in einer gärtnerischen Anlage erhielt und später ein Denkmal für den größten Sohn der Stadt, dem Dichter der Liebe und der Revolution, Heinrich Heine, warten die Frauen und Männer der Arbeiterklasse und die Migrant*innen aus vielen Ländern der Erde im „roten Oberbilk“ weiterhin auf ihre Anerkennung durch die Stadtgesellschaft, auf die Würdigung und den Respekt gegenüber der Geschichte auch dieses ärmeren Teils der Stadt und ihrer „Arbeiter-Kö“, der Kölner Straße, und ihres zentralen Freiraums, dem scheinbar geschichtslosen, aber tatsächlich sehr geschichtsträchtigen Oberbilker Markt.
Dr. Dieter Sawalies
Mitglied der Bezirksvertretung 3 seit 1999 für DIE LINKE
Oberbilker Geschichtsinitiative / „Aktion Oberbilker Geschichte(n)