System Change, not Climate Change

Der „Hambi“ und die Protestcamps um Lützerath an der Braunkohle-Baggerkante rund um den Braunkohletagebau Garzweiler des Energieriesen RWE aus Essen liegen kaum 50 Kilometer von Düsseldorf entfernt. Die Aktivist*innen dort und an anderen Protest-Orten gegen Kohleverstromung und Naturraubbau schreiben jeden Tag Geschichte. Ein Autor*innenkollektiv von „Ende Gelände“ hat ihnen jetzt ein Buch gewidmet.

2015 besetzt „Ende Gelände“ den Kohle­tagebau in Garzweiler. Seit diesem Zeitpunkt tritt der in Ortsgruppen und thematischen Arbeitsgemeinschaften organisierte Zusammenschluss unter diesem Namen auf. Inzwischen ist er fast schon eine Marke geworden, mindestens aber ein starker Ausdruck für handlungs- und reichweitenstarke Gegenwehr gegen Kohleverstromung, Raubbau an der Natur und gegen die Profitgier der Energiekonzerne. 2016 finden Proteste in der Lausitz statt, 2017 wieder in Garzweiler, hier erstmals mit thematisch definierten Aktionen auch über den vermeintlich eigentlichen Gegenstand (die praktische Kritik an der aktuellen Energiewirtschaft) hinaus, u. a. zu Sexismus und Kolonialismus.

Das hier vorliegende Buch mit größtenteils 2020 verfassten Texten soll Bewegungsgeschichte festhalten und die vielen konkreten Erfahrungen teilen. Die Texte stammen von einer (anonymen) Arbeitsgruppe, die ausdrücklich nicht für die Bewegung sprechen kann und will.

Im ersten Kapitel werden die verschiedenen Aktionen vorgestellt und nacherzählt. Im zweiten die politischen Strategien, die „Ende Gelände“ verfolgt. Hier ist zum einen die professionelle und aktive Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu nennen und ebenso der zivile Ungehorsam, der unter dem Motto „Nicht legal, aber legitim“ blockierend in die Abläufe des fossilen Kapitalismus eingreift. Nach „innen“ wird auf eine gute Gruppenstruktur und ein förderliches Gruppenklima geachtet – und auf Vorbereitung auf und den solidarischen Umgang mit Repression.

Im dritten Kapitel werden die Inhalte vertieft: Kohle, Staat, Rassismus, Kolonialismus und wie diese zusammenhängen. Als Schlussfolgerung wird – wieder einmal – klar, dass ein Systemwechsel notwendig ist, um Klimagerechtigkeit zu erreichen, ja überhaupt erreichen zu können. Als letztes Kapitel folgt ein Ausblick, der die bisherigen Thesen zusammenfasst. Hier wird deutlich, dass „Ende Gelände“ eine aktive, dezentrale und professionelle Organisierung ist, die Staat und Industrie vor Herausforderungen stellt – und die das Thema der Energieversorgung wieder auf die politische Agenda gebracht und den Kohleausstieg beschleunigt hat. Politisch möchte „Ende Gelände“ perspektivisch soziale Bewegungen verbinden, indem die verschiedensten Beteiligten und Aktiven zu unterschiedlichen Themen voneinander Kenntnis erlangen, sich unterstützen und in eine gemeinsame Planung kommen. Ein Glossar, das um die 50 für die Texte wichtige Begriffe kurz erklärt, schließt diese Veröffentlichung ab.

Sympathisch ist die zugängliche und deshalb schöne Sprache des Buches, dem eine große Leser*innenschaft zu wünschen ist, da es anschaulich zeigt, dass soziale Bewegungen Geschichte schreiben. Gemeinsam können viele eine ganz andere Welt erstreiten: Let’s be careful with each other so we can be dangerous together – lasst uns umsichtig miteinander sein, damit wir gemeinsam gefährlich sein können. Im Zusammen entsteht der Sand im Energiegetriebe und die Verhältnisse können auf den Kopf gestellt werden: Für ein Bewusstsein darüber, wie heikel und zukunftsfremd die Nutzung endlicher Güter ist. Vor allem aber für eine Perspektive auf Natur und unseren Platz darin, die von Verwertungslogiken, Profitinteressen, Unterdrückung und der Zerstörung des Astes, auf dem wir sitzen, wegkommt.

Bernd Hüttner

Ende Gelände: We shut shit down
Edition Nautilus, Hamburg 2022, 208 Seiten, 16 Euro