„Desastres de la Guerra todavía“

Neulich war ich mal wieder in meiner alten Schule. Auf dem Lessing hatte ich 1976 Abitur gemacht. Heinz Mack war dort einst Kunstlehrer. Allerdings vor meiner Zeit. Seine Stelle hatte dann Bert Gerresheim übernommen. Kunst steht dort immer noch hoch im Kurs. In beiden Treppenhäusern und auf allen Etagen finden sich Arbeiten von Schüler*innen. Vor Radierungen, inspiriert von Francisco de Goyas Zyklus „Desastres de la Guerra“, der Jahrgangsstufe Q1 blieb ich länger stehen. Goyas Zyklus zeigt die Gräueltaten der Soldaten von Napoleons Armee während der Besatzung Spaniens (1807-1814). Sie sind derart grausam, dass der Zyklus erst ein halbes Jahrhundert später erstmals veröffentlicht wurde. Die Leistungsschüler*innen der Qualifikationsphase 1 hatten die Aufgabe erhalten, unter dem Titel „Desastres de la guerra todavía“ („Die Schrecken der heutigen Kriege“) eigene Radierungen zu fertigen. Nichts wird „beschönigt“, nichts ästhetisiert. Viele dieser grausigen Bilder haben wir vergessen bzw. verdrängt. Am stärksten berührte mich jene Radierung, der ein Foto des NBC-Kameramanns und AP-Fotografen Eddie Adams als Vorlage diente. Sie zeigt, wie am 1. Februar 1968 der südvietnamesische Polizeichef Nguyen Ngoc Loan auf offener Straße Nguyen Van Lem hinrichtet. Angeblich sei Van Lem für einen Bombenanschlag verantwortlich gewesen. Andere Gewaltakte sind uns nur noch durch einen Song im Gedächtnis geblieben. So das Kent-State-Massaker durch Neil Young’s „Ohio“. Wer „Ohio“ einmal gehört hat, dem wird der gebetsmühlenartig wiederholte Refrain „This summer I hear the drummin’/ Four dead in Ohio“ nicht mehr aus dem Kopf gehen ( https://ohiohistory.org/four-dead-in-ohio/ ). Die mit Sturmgewehren bewaffnete Nationalgarde von Ohio hatte am 4. Mai 1970 auf dem Campus der Kent-State-University von einem Hügel aus das Feuer auf unbewaffnete Demonstrant*innen gegen den Vietnamkrieg eröffnet. Zwei Studenten und zwei Studentinnen waren auf der Stelle tot, Unzählige wurden schwer verletzt und traumatisiert. Professor*innen beschworen daraufhin die Studierenden, den Campus zu räumen. Die Nationalgarde hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie den Beschuss fortsetzen werde, wenn der Campus nicht sofort geräumt würde. Die Studierenden räumten den Campus. Was folgte, war ein halbjähriger Streik an Universitäten, Hochschulen, High Schools, Colleges und sogar Grundschulen. (Zum Kent-State-Massaker gibt es in „Desastres de la guerra todavía“ keine Radierung)

By the way, 1989, auf dem Platz des Himmlischen Friedens, hatte es ebenfalls nicht an Intellektuellen gefehlt, welche die Demonstrierenden drängten, den Platz zu räumen, weil ihrer Einschätzung nach das Militär zu allem entschlossen sei. Doch etliche Fotografen aus dem Ausland (ob auch Fotografinnen darunter waren, weiß ich nicht) ermunterten die Demonstrierenden, auf dem Platz zu bleiben. Die Fotos gingen dann um die Welt. Es ist gut, dass die Schüler*innen mit ihren Radierungen zu „Desastres de la guerra todavía“ an diese vielen zumeist vergessenen Kriegsbilder des vergangenen und dieses Jahrhunderts erinnern.

Thomas Giese